Die Widerstandsbewegung gegen 5G-Antennen stützt sich teilweise auf obskure Wissenschafter. Eindrücke von einer Konferenz.
Olivier Bodenmann steht auf der Bühne im grossen Saal des Hotels Vatel in Martigny und misst die Strahlenbelastung. Er runzelt die Stirn und zögert kurz, doch ein Zurück gibt es nicht mehr. Im Saal warten über 400 Zuhörer gespannt auf seine Ausführungen. Bodenmann ist eine Grösse in der Szene der Elektrosensiblen und Strahlenskeptiker. Heute spricht er auf der Konferenz «Strahlung unter Hochspannung: alle zu stark belastet?», angekündigt ist er als «Ing. dipl. EPFL – Spezialist für Elektrosmog». Unter diesem Titel wurde Bodenmann als Redner angekündigt auf dem Programm der Konferenz.
Warnhinweise im Saal machen deutlich, dass es sich um einen aussergewöhnlichen Anlass handelt, der an diesem Freitagabend im Unterwallis stattfindet. Über Lautsprecher und per Einblender auf der Leinwand werden die Anwesenden aufgefordert, bei ihrem Handy den Flugmodus einzuschalten. Ausserdem sollen Bluetooth sowie WLAN ausgeschaltet werden. «Es hat viele elektrosensible Personen im Saal», sagt der Moderator. «Wer sich von den Wellen der Funkanlage gestört fühlt, findet entfernt von ihr auf der linken Seite noch freie Plätze.»
Stark im gemeinsamen Widerstand
Als elektrosensibel bezeichnen sich Menschen, die gesundheitlich oder in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt sind und dies auf elektromagnetische Felder zurückführen. Je nach Quelle bezeichnen sich zwei bis zehn Prozent der Menschen als elektrosensibel oder sogar als elektrohypersensibel.
Als wissenschaftlich nachgewiesen gilt jedoch nur die Muskelreizung bei hohen, über den Grenzwerten der elektromagnetischen Umweltverträglichkeit liegenden niederfrequenten elektrischen und magnetischen Feldern sowie die thermische Wirkung von hochfrequenter Strahlung auf wasserhaltiges Gewebe. Wirkungen im Niedrigdosisbereich werden in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Viele Menschen sind jedoch überzeugt, dass die Strahlen von Handys, Smartmetern und anderen Strahlungsquellen bei ihnen Krankheiten auslösen.
Einen Aluhut trägt heute Abend allerdings niemand. Einige Männer und Frauen schützen sich jedoch mit abschirmenden Kopftüchern gegen die allgegenwärtige Strahlung. Andere verfolgen die Vorträge mit hochgeschlagener Kapuze. Es handelt sich bei ihnen um Ausnahmen. Die Konferenzteilnehmer sehen völlig unauffällig aus und verkörpern einen Querschnitt durch die ganze Gesellschaft. Die meisten von ihnen sind nach Martigny gereist, weil sie elektromagnetische Strahlungsquellen in ihrer Umgebung so gut wie möglich ausschalten möchten. Sie erhoffen sich praktische Tipps, wie man sich vor elektromagnetischer Strahlung schützen kann.
Vor allem aber geht es darum, den Widerstand zu befeuern und sich gegenseitig zu unterstützen. Das Ärgernis Nummer eins ist für sie der Mobilfunkstandard 5G, der in der Schweiz seit 2019 eingeführt wird. Organisiert wurde die grossflächig beworbene Veranstaltung durch das Kollektiv Info-EMF. Darin haben sich zahlreiche Vereinigungen zusammengeschlossen, die sich gegen Antennen der neusten Mobilfunkgeneration wehren. Die grosse Mehrheit von ihnen kommt aus der Westschweiz.
«Wir sind nicht gegen neue Technologien, aber mit 5G kippt es. Mit dem neuen Standard wird die Belastung viel zu hoch, und es leiden immer mehr Leute», beginnt Olivier Bodenmann seinen Vortrag. Der Veteran der Strahlenskeptiker-Bewegung spricht nicht nur als Elektroingenieur. Er bringt auch seine Erfahrung ein als Therapeut in den Bereichen Chakras, Schamanismus, Reiki, bio-psycho-emotionale Entschlüsselung und weiteren esoterischen Konzepten. Dabei ist er zur Anlaufstelle von Elektrosensiblen und Elektrohypersensiblen geworden, die sich von ihm Hilfe erwarten, wenn für seine Patienten der Alltag im Strahlenmeer immer schwieriger wird.
Smarter Schnuller als Strahlungsquelle
Die meisten seiner Tipps und Tricks scheinen den Zuhörern bekannt. So etwa, dass man sein Handy auf den 3G-Standard limitieren soll oder 230-Volt-Geräte nicht zu lange in der Hand halten soll. Nur einmal wird es im Saal unruhig, nämlich als Bodenmann als besonders abschreckendes Beispiel einen smarten Schnuller vorstellt. Dieser enthält kabellose Sensoren, mit denen Eltern die Körpertemperatur eines Babys rund um die Uhr überwachen können. Die Konferenzteilnehmer erschaudern, wenn sie an die Folgen für den Kopf des Kleinkindes denken.
Nachdem die Spannung während eines weiteren Vortrags über Toxikologie und Strahlung abgeflacht ist, sind zu Beginn des zweiten Teils des Abends wieder alle hellwach. Schliesslich tritt der Star des Abends auf. Professor Dominique Belpomme, seines Zeichens «Krebsforscher und Spezialist für Unverträglichkeiten gegenüber elektromagnetischen Wellen (EHS-Syndrom) von der Universität Paris V», wie er von den Organisatoren angekündigt wird.
Der 81-jährige Onkologe kämpft seit Jahren an vorderster Front, wenn es darum geht, die Menschheit vor den angeblichen Gefahren elektromagnetischer Strahlung und vor den Auswirkungen chemischer Stoffe zu warnen. So behauptet der Arzt, in siebzig bis neunzig Prozent aller Fälle sei Krebs durch die Umwelt verursacht.
Zu Beginn seines Referats gibt Belpomme zu, dass die Forschung im Bereich der Elektrosensibilität schwierig ist. «Die Menschen, die unter Elektrosmog leiden, haben dieselben Symptome wie Leute, die andere Sensibilitäten entwickeln», sagt er. Doch ihm sei es in jahrelanger Forschung gelungen, objektive Biomarker und Blutparameter zu entdecken, die es ermöglichen würden, bei seinen Patientinnen und Patienten Elektrosensibilität zu diagnostizieren.
Das Publikum ist von den komplizierten Tabellen von Histamin, Vitamin D und anderen Faktoren beeindruckt, die Belpomme bis auf drei Stellen hinter dem Komma gemessen hat. Ausserdem präsentieren Belpomme und sein Mitstreiter, der Biochemiker Philippe Irigarary, Ausdrucke von Messungen der Gehirnströme von elektrohypersensiblen Patienten. Anhand dieser sogenannten Enzephaloscans wollen die beiden Wissenschafter ebenfalls Schädigungen durch Elektrosmog nachweisen können.
«Fast wie bei ‹Dr. House›!»
Der Moderator erklärt nach der teilweise etwas wirren Vorstellung: «Fast wie bei ‹Dr. House›!» Nur dass der Arzt in der amerikanischen TV-Serie sehr akribisch und mit grösster Skepsis nach der richtigen Diagnose für seine meist lebensgefährlich erkrankten Patienten suchte. Bei Belpomme ist es genau umgekehrt. Bei ihm steht die Diagnose für unspezifische Leiden wie Kopfschmerzen, unerklärliche Müdigkeit, Seh- und Hörstörungen, Herzrhythmusstörungen usw. von Anfang an fest: Elektrosensibilität. Es müssen nur noch die wissenschaftlichen Beweise dafür gefunden werden.
Die Organisatoren verkaufen Belpomme als wissenschaftliche Autorität. Dass der Verfechter der Existenz des «Syndroms der Intoleranz gegenüber elektromagnetischen Feldern» in Schwierigkeiten steckt, erfahren die Kongressteilnehmer nicht. Bei den massgeblichen Fachleuten wird Belpomme nicht ernst genommen und gilt als unseriöser Arzt, der aus der angeblichen Elektrosensibilität ein Geschäftsmodell entwickelt hat.
2018 wurde der Onkologe von der französischen Ärztekammer wegen Verletzung der Berufsethik verklagt. Seine Berufskollegen werfen Belpomme unsaubere Arbeit vor. Er habe für teures Geld Dutzende von Bescheinigungen über Elektrosensibilität ausgestellt. Diese Diagnosen seien anhand von wissenschaftlich nicht validierten Methoden gestellt worden, lautet die Anklage.
Auslöser für den Streit war eine Reihe von Zertifikaten, die Belpomme Menschen ausgestellt hatte, die sich gegen den Einbau von neuen, intelligenten Stromzählern wehrten. Sie befürchteten, dass damit ihr Umfeld in unzulässiger Weise elektromagnetisch verseucht würde. In erster Instanz wurde Belpomme im Juli 2018 mit einer Verwarnung belegt. Im Februar 2023 verschärfte die nationale Disziplinarkammer der Ärztekammer diese Strafe und verhängte ein einjähriges Berufsverbot.
Diese Auseinandersetzungen interessieren die Zuhörer im Saal nicht. In ihren Augen hat Belpomme Pionierarbeit geleistet. Mit warmem Applaus verabschieden sie den Professor, der sich ins Feuer geredet hat. Vielleicht wird der eine oder andere von ihnen das Stärkungsmittel «Immun’Âge» ausprobieren, das von Philippe Irigarary wärmstens empfohlen wird, um sich gegen die zerstörerische Wirkung der elektromagnetischen Wellen zu wappnen. Es handelt sich dabei um ein Nahrungsergänzungsmittel auf der Basis von fermentierter Papaya.
Am falschen Ort
In der Fragerunde dominieren allerdings nicht medizinische Probleme, sondern praktische Anliegen. So will ein Teilnehmer wissen, wie hoch die elektromagnetische Strahlung sei, die Olivier Bodenmann vor dem Beginn der Veranstaltung gemessen hat. «Sie ist viel zu hoch», muss der Experte zugeben. Gleichzeitig entschuldigt er sich. Es sei schlicht unmöglich, einen genügend grossen Saal zu finden, der nicht übermässig mit Strahlung belastet sei. Die moderne Technik sei überall.
In einem Anflug von Selbstironie erklärt Bodenmann, wenn das Kollektiv Info-EMF die Wahl gehabt hätte, wäre die heutige Veranstaltung nicht in einem Hotel durchgeführt worden, das an der Rue Marconi liege. Der Namensgeber der Strasse, der italienische Nobelpreisträger Guglielmo Marconi, ist ein Pionier der drahtlosen Kommunikation und stand am Anfang der ständig zunehmenden Strahlenbelastung. Seine ersten Versuche mit Radiowellen führte der Physiker 1895 in der Nähe von Martigny durch.
Weitaus schlimmer als diese historische Reminiszenz dürfte für die Kongressteilnehmer sein, was Bodenmann wohlweislich nicht erwähnte: Auf dem Dach des Tagungsgebäudes steht eine 5G-Antenne.