Unbeachtet von der Öffentlichkeit spielt sich in Gerichtssälen nach jedem Schuldspruch ein seltsamer Vorgang ab: Schuld wird in Strafe übersetzt. «Das Gericht misst die Strafe nach dem Verschulden des Täters zu», heisst es in Artikel 47 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs. Die Strafe soll im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen. So oder ähnlich steht es in fast jedem Strafgesetz der Welt. Doch wer Urteile vergleicht, muss erkennen, dass die Schuld in jedem Gerichtssaal anders gemessen wird und dass der Wechselkurs zwischen Schuld und Strafe je nach Ort, Richter – und sogar Wetter – bedenklich schwankt.
Wer etwa einen Mord plant, sollte Frankreich als Tatort in Erwägung ziehen. Dort sitzt man für die Tat durchschnittlich nur sechs Jahre im Gefängnis, in den USA sind es einundvierzig. Ist ein Leben in den USA siebenmal mehr Wert als in Frankreich? Oder was bedeutet dieser Unterschied? In der Schweiz verbringt man für Mord etwa neun Jahre im Gefängnis. So steht es in einer Untersuchung der amerikanischen Denkfabrik Council on Criminal Justice.
Für Drogenschmuggel sind die Strafen in den Niederlanden niedrig. Das geht aus einer Studie des Institute for Crime & Justice Policy Research an der University of London hervor, für welche Experten aus zehn Ländern Modellfälle beurteilten. Einer davon drehte sich um eine 26-jährige Frau, die bei dem Versuch ertappt wurde, 400 Gramm Heroin ins Land zu schleusen. In den Niederlanden würde sie drei bis fünf Monate Haft bekommen, in der Schweiz etwa sechs Monate und in Indien zwanzig Jahre. In Thailand schliesslich drohte ihr lebenslange Haft oder die Todesstrafe.
Dass es zwischen den Ländern solche Unterschiede gibt, ist mit Blick auf ein universelles Gerechtigkeitsideal zwar irritierend, aber mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen, Rechtstraditionen zu erklären, die Einfluss auf das Strafrecht haben. Doch selbst innerhalb eines Landes werden Verurteilte bemerkenswert ungleich behandelt. In Deutschland ergab die Auswertung von 1,5 Millionen Urteilen im Jahr 2018, dass in Oberbayern für die gleichen Delikte im Durchschnitt um ein Viertel längere Strafen verhängt werden als in Baden.
Eine Schweizer Befragung aus dem Jahr 2015 veranschaulicht, was das im Einzelfall bedeuten kann. Als man 246 Richtern identische Schilderungen von vier Taten unterbreitete, lagen die Strafen für die gleichen Fälle um einen Faktor von dreissig bis hundert auseinander. Eine der Taten war der Einbruch, den Sie am Anfang dieses Artikels beurteilen konnten. Das mildeste Urteil der Richter lautete ein Monat Freiheitsentzug, das strengste dreieinhalb Jahre.
Die riesigen Unterschiede zwischen Staaten setzen sich also innerhalb der Länder fort. Die Strafzumessungspraxis unterscheide sich «oftmals nicht nur von Kanton zu Kanton, sondern sogar (innerkantonal) von Gericht zu Gericht», schreibt Martin Seelmann in seiner eben erschienenen Dissertation «Strafzumessung und Doppelverwertung. Ein Wegweiser zu einer überprüfbareren Strafzumessung».
Seelmann ist Gerichtsschreiber am Appellationsgericht Basel-Stadt sowie Lehrbeauftragter im Fachbereich Strafrecht an den Universitäten Basel und Luzern. Er gehört zu den wenigen Juristen, die sich neben der Praxis auch wissenschaftlich mit dem Thema befassen. Ein anderer ist Luca Ranzoni, der gerade seine Doktorarbeit «Gerechte Strafen ohne Gleichheit?» abgeschlossen hat. Er sagt: «Wir haben in der Schweiz keine Konsistenz in der Strafzumessung zwischen den Richtern.»
Dass es nicht zu rechtfertigende Unterschiede zwischen Richtern, Gerichten, Regionen und Ländern gibt, ist schon lange bekannt. Die nachfolgenden Zitate stammen nicht von Fundamentalkritikern unseres Rechtssystems oder von Gefangenenhilfsorganisationen, sondern aus Facharbeiten von Richtern, Anwälten und Rechtswissenschaftern der letzten hundert Jahre: Die richterliche Strafzumessung sei die «am schlechtesten gelöste» Aufgabe der Strafbehörden. Sie sei «zum guten Teil Willkür, Laune, Zufall». Nur schon, wer gerade auf der Richterbank sitze, «könne das ausgefällte Strafmass erheblich beeinflussen», was angesichts seiner Bedeutung für das Leben der betroffenen Person ein «unerträglicher Zustand» sei.
Analysen von Urteilen ergaben: Wenn der Angeklagte Geburtstag hat, urteilen die Richter milder, wenn die lokale Sportmannschaft am Wochenende verliert, strenger, und auch hohe Temperaturen wirken sich vor Gericht nachteilig aus.
Zu bestimmen, welche Menge Schuld in einer Tat steckt, und diese in eine Straflänge umzurechnen, bringt das uralte Gerechtigkeitsideal von der Gleichheit der Menschen an seine Grenzen.
«Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich», heisst es in Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Artikel 8 der Schweizer Bundesverfassung. Bedeutet das nicht, dass gleiche Taten unter gleichen Umständen gleich bestraft werden müssten? Oder – weil es keine zwei identischen Verbrechen gibt –, dass ähnliche Taten ähnliche Strafen zur Folge haben sollten? «Eine Justiz, der es nicht gelingt – wenigstens in etwa – Strafgleichheit zu gewähren, verfehlt [. . .] ihre Aufgabe, ‹Recht› zu sprechen», schrieb der deutsche Jurist Franz Streng schon 1987.
Obwohl es offensichtlich ist, dass die Zufälligkeiten der Urteile der Rechtsgleichheit in der Verfassung widersprechen, gibt es nur vereinzelt Versuche, etwas daran zu ändern. In keiner anderen Disziplin, in der Menschen über Leben und Wohl anderer entscheiden – etwa in der Medizin –, würde man akzeptieren, dass Entscheidungen so stark von individuellen Launen oder kollektiven Täuschungen abhängen. Ausgerechnet im Rechtswesen aber, dessen Ikone Justitia verbundene Augen hat, damit sie alle gleich behandelt, findet man sich damit ab. Liegt das daran, dass diese Ungerechtigkeiten am Rand der Gesellschaft geschehen? Herrscht die unausgesprochene Meinung, dass die Gleichbehandlung von Straftätern geringe Priorität geniessen soll? Oder führt die Frage nach dem gerechten Strafmass in ein unlösbares Dilemma?
Die Schwierigkeiten, einer Tat eine Strafe zuzuweisen, begannen ironischerweise mit den Fortschritten im Rechtswesen. Früher war es in vielen Gesellschaften verbreitet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten oder zumindest Strafen zu verhängen, die in einem gewissen Zusammenhang mit einer Tat standen. Im 3800 Jahre alten Codex «Hammurapi», einer babylonischen Sammlung von Rechtssprüchen, heisst es etwa: «Wenn ein Mann einem Manne einen Zahn ausgeschlagen hat, wird sein Zahn ausgeschlagen.»
Solche sogenannten Spiegelstrafen gab es auch im Mittelalter noch, wenn man etwa Gotteslästerern die Zunge abschnitt. In gewissen muslimischen Ländern kann Dieben bis heute die Hand abgehackt werden. Und wenn für einen Mord die Todesstrafe verhängt wird, kann man auch das als Überrest der Spiegelstrafe deuten.
Die Spiegelstrafe und andere archaische Sanktionen mögen heute überholt erscheinen, aber sie hatten einen Vorteil: Niemand musste lange darüber nachdenken, welche Strafe für welche Tat fällig war.
Das änderte sich mit zwei Entwicklungen: Einerseits gingen viele moderne Gesellschaften dazu über, Vergehen ausschliesslich mit dem Entzug von Freiheit und Geld zu ahnden, andererseits verschob sich allmählich der Zweck, den man mit einer Strafe verfolgte.
Lange Zeit hatten Strafen vor allem Sühne oder Vergeltung zum Ziel: Die Strafe sollte das Unrecht ausgleichen, das der Täter begangen hatte. Ihre Höhe hing ausschliesslich vom verübten Unrecht ab und wurde nicht beeinflusst von anderen gesellschaftlichen Anliegen wie etwa spätere Verbrechen zu verhindern.
Doch dann kam die Idee auf, mit der Strafe auf das Wohlergehen der Gesellschaft einzuwirken. Strafen sollten nun die Gemeinschaft vor dem Täter schützen, ihn bessern und mögliche zukünftige Delinquenten von einer Tat abschrecken. Bis heute hängt die Höhe einer Strafe stark davon ab, welchem dieser Strafzwecke man den Vorrang einräumt.
Die Vereinheitlichung der Strafen stellte die Politik und die Gerichte aber noch vor eine andere Aufgabe. Sie mussten neu so unterschiedliche Taten wie Mord, Diebstahl oder das Verbreiten von Schädlingen in eine von zwei Währungen umrechnen: in einen Geldbetrag oder in eine Haftdauer. Für den Freiheitsentzug bedeutete das: ein Strauss unvergleichbarer krimineller Handlungen auf der einen Seite, eine klar definierte Zeitdauer auf der anderen.
Straftaten mussten also nach ihrer Schwere in eine Rangliste eingeordnet werden. Die Gesetzgeber taten dies schematisch, indem sie Mindest- und Höchststrafen für verschiedene Taten festlegten. An diesen groben Strafrahmen lässt sich erkennen, welche Delikte eine Gesellschaft für wie gravierend hält.
«Die Aufgabe der Richterinnen und Richter ist es dann, diesen Hohlraum zu füllen», sagt Martin Seelmann. Sie bewerten jedes Delikt nach individuellen Kriterien: Hat ein Täter fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt? Welche Beweggründe hatte er? Ging er besonders brutal vor? Handelte er unter seelischer Belastung? Solche Faktoren können das Strafmass mildern oder verschärfen. Entscheidend ist zudem, ob jemand ein Wiederholungstäter ist und ob er gleichzeitig noch andere Delikte beging.
Eine gewisse Breite bei den Strafrahmen scheint also durchaus sinnvoll, um den unterschiedlichen Umständen einer Tat gerecht zu werden. In der Schweiz gilt das Leben als oberstes Rechtsgut, Mord verlangt entsprechend nach den höchsten Strafen (zehn Jahre bis lebenslänglich). Dann folgt die körperliche Unversehrtheit (schwere Körperverletzung: bis zu zehn Jahre). Und schliesslich der Schutz von Eigentum und Vermögen (Diebstahl und Betrug: bis zu fünf Jahre) sowie von Würde und Ehre (Verleumdung: bis zu 3 Jahre).
Die grobe Rangliste ist in vielen Ländern dieselbe. Höhe und Bandbreite der Strafen weichen aber stark voneinander ab.
Die Vereinheitlichung der Gesetze und die Schaffung grober Strafrahmen führte dazu, dass nun Quervergleiche möglich waren, die schwierige Fragen aufwarfen: Welche Umstände muss eine Körperverletzung erfüllen, damit sie gleich bestraft wird wie Millionenbetrug? In welcher Form von Bestechung steckt gleich viel Schuld wie in einer Brandstiftung?
Die Gesetzgeber wogen nicht sämtliche Straftaten gegeneinander ab. Sie schufen das moderne Strafrecht nicht am Reissbrett. Sie fügten vielmehr bestehende Gesetze zusammen, revidierten und ergänzten sie. In der Schweiz dauerte es mehr als ein halbes Jahrhundert, bis aus den verschiedenen kantonalen Strafgesetzen in mühsamen Vergleichen und politischen Verhandlungen das Schweizer Strafgesetzbuch geformt war, das 1942 in Kraft trat.
Die gesellschaftlichen Werte, die das Strafrecht schützt, wandeln sich mit der Zeit. Einzelne Gesetze sind in den vergangenen Jahrzehnten geändert und erweitert worden. So wurde das Strafgesetzbuch zum Stückwerk aus Artikeln aus verschiedenen Zeiten und mit unterschiedlichen politischen Stossrichtungen.
Quervergleiche zwischen einzelnen Strafrahmen unseres Strafgesetzbuches machen zuweilen ratlos: Jener für Diebstahl liegt zwischen einer Geldstrafe und fünf Jahren Haft, jener für Vergewaltigung zwischen einem Jahr und zehn Jahren. Heisst das, es gibt Diebstähle, die mehr Schuld enthalten als Vergewaltigungen? Die Antwort aus dem Bauch heisst wohl Nein. Aber was, wenn ein Diebstahl Hunderte von Opfern in den Ruin getrieben hat? Das Aufrechnen von Unrecht ist eine verwirrende Angelegenheit.
Politiker und Juristen haben deshalb auch nie einen umfassenden Quervergleich gemacht. Sie haben nie darüber debattiert, ob es angemessen sei, dass die Obergrenze für das Verbreiten von Schädlingen bei drei Jahren liegt, für die Verrückung staatlicher Grenzzeichen hingegen bei fünf Jahren.
2021 hat das Schweizer Parlament zwar eine sogenannte Harmonisierung der Strafrahmen verabschiedet. Diese war laut dem Strafrechtsprofessor Felix Bommer von der Universität Zürich aber ein Etikettenschwindel: «Eine Gesamtbeurteilung der über 200 Tatbestände im Strafgesetzbuch wurde nicht gemacht. Man hat nur einzelne Ausreisser korrigiert und kleinere Retuschen gemacht.»
Weil das Strafrecht stark politisiert sei, fänden sich auch in anderen Parlamenten keine klaren Mehrheiten für systematische Revisionen, sagt der Strafrechtler Felix Bommer. «Und so revidieren die Gesetzgeber höchstens umstrittene Artikel, und zwar meist dann, wenn sie von der öffentlichen Meinung dazu getrieben werden.»
Das beste Beispiel dafür ist das Sexualstrafrecht. Die Wahrnehmung im Bereich von Sexualdelikten hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Vielerorts wurden nicht nur die Strafrahmen angepasst, sondern auch die Definition der Delikte. In der Schweiz ist 2024 ein neues Sexualstrafrecht in Kraft getreten. Die Begriffe der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung wurden darin ausgeweitet. Zuvor galt der Tatbestand der Vergewaltigung zum Beispiel nur bei Geschlechtsverkehr, heute auch bei anderen sexuellen Handlungen, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Zudem ist der Tatbestand neu geschlechtsneutral formuliert, zuvor konnten laut Gesetz nur Frauen Opfer einer Vergewaltigung sein.
Hingegen wird in Ländern wie Kamerun oder Kuwait eine Vergewaltigung bis heute nicht als solche geahndet, wenn der Täter das Opfer nach dem Übergriff heiratet. In einigen indischen Gliedstaaten wiederum wird das Schlachten von Kühen, die Hindus für heilig halten, mit hohen Haftstrafen belegt. In Thailand können harmlose Witze über den König auf den sozialen Netzwerken als Majestätsbeleidigung interpretiert und drei bis fünfzehn Jahre Haft bedeuten. In Pakistan droht bei Blasphemie lebenslange Haft oder sogar die Todesstrafe. Selbst das versehentliche Zerreissen eines Stücks Papiers, auf dem ein Koranzitat steht, kann dafür reichen.
Aus europäischer Sicht wirken solche extremen Beispiele aus anderen Kulturen befremdlich. Doch selbst unter den westlichen Industriestaaten sind die Unterschiede frappant. Besonders interessant ist der Vergleich zwischen Europa und den USA. Wer sich dort strafbar macht, wandert sehr viel schneller und länger hinter Gitter als in jedem europäischen Land.
In den USA sitzt einer von 185 Einwohnern im Gefängnis. Momentan sind über 1,8 Millionen Menschen dort inhaftiert, das entspricht etwa der Bevölkerung Lettlands. In der Schweiz gibt es siebenmal weniger Häftlinge pro Einwohner, nämlich einen auf 1299. Ähnlich klein sind die Inhaftierungsquoten in unseren Nachbarländern Deutschland (einer von 1471), Frankreich (einer von 855) und Italien (einer von 943).
Die Gründe für die drastischen Unterschiede zwischen den USA und Europa sieht der amerikanische Rechtsphilosoph Joshua Kleinfeld in den verschiedenen Kulturen der Bestrafung. Amerikaner und Europäer hätten eine grundlegend andere Vorstellung von der Natur des Verbrechers und des Verbrechens, schreibt er im Artikel «Two Cultures of Punishment».
«Das amerikanische Strafrecht basiert auf der Idee, dass ein Mensch, der schwere Verbrechen begeht oder wiederholt Verbrechen begeht, moralisch deformiert ist», schreibt der an der Pritzker School of Law in Chicago tätige Jurist Kleinfeld. Die Kriminalität des Täters sei sein Charakterzug. Zum Schutz seiner Mitbürger müsse er weggesperrt werden und dürfe nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Die Europäer hingegen sehen im Täter einen normalen Menschen, der ein Verbrechen begangen hat: «Der Täter und seine Tat werden nicht gleichgesetzt.» Jeder Kriminelle könne sich bessern, selbst die schwersten Verbrecher blieben Teil der Gesellschaft. Sie brauchen Unterstützung, nicht Isolation.
Die Frage nach der Existenz des Bösen spielt laut Kleinfeld besonders bei der Beurteilung der Todesstrafe oder der lebenslangen Haft eine entscheidende Rolle. Aus amerikanischer Sicht habe der Täter seine Menschlichkeit verloren und damit auch seine Rechte, in extremen Fällen sogar das Recht, zu leben.
Auf Bundesebene und in einer Mehrheit der amerikanischen Gliedstaaten wird bis heute die Todesstrafe praktiziert. In Europa wurde diese im letzten Jahrhundert hingegen überall abgeschafft. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtscharta verbieten die Todesstrafe unter allen Umständen. Das Recht auf Leben gilt als unveräusserliches Menschenrecht.
In europäischen Ländern gibt es auch kaum mehr lebenslange Haftstrafen ohne die Möglichkeit auf eine bedingte Entlassung. Verschiedene nationale und europäische Gerichte haben festgestellt, dass eine solche Haft bis zum Tode dem verfassungsmässigen Recht auf menschliche Würde widerspreche. Jeder Mensch müsse die Möglichkeit zur Besserung und zur Resozialisierung bekommen.
In den USA hingegen sind «Life without parole»-Urteile bis heute relativ häufig, und zwar nicht nur für Mord, sondern auch für andere Gewaltverbrechen und Drogendelikte. Zudem können Strafen dort – anders als in der Schweiz und in den meisten europäischen Ländern – kumuliert werden. Das heisst, wenn ein Täter mehrere verschiedene Delikte begeht, werden diese einzeln beurteilt, und die Strafen werden zusammengerechnet.
So bekam ein Serienmörder in Florida 29-mal lebenslänglich plus 99 Jahre Haft und die Todesstrafe. Ein Vergewaltiger in Oklahoma erhielt 2250 Jahre Haft. Er erhob Einspruch, worauf die Richter die Strafe in zweiter Instanz sogar auf 11 750 Jahre erhöhten. Im letzten Berufungsprozess wurde das Urteil dann um 500 Jahre verkürzt.
Die tatsächliche Höhe solcher Strafen ist eigentlich irrelevant, weil kein Mensch so lange lebt. Sie hat vor allem symbolischen Charakter, indem sie signalisiert, dass selbst eine lebenslange Haft der Schwere der Tat nicht gerecht würde. Zudem macht sie eine bedingte Haftentlassung unmöglich.
Rund 100 000 Personen sitzen in den USA derzeit solche endlosen Strafen ab, unter ihnen Tausende, die noch als Minderjährige verurteilt worden sind.
Das amerikanische Strafrecht war nicht immer so drakonisch. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte es sich in dieselbe Richtung wie das europäische. Die Strafen wurden milder, der Fokus lag auf Resozialisierung. In den 1980er Jahren sahen sich die USA aber mit einer Welle von Strassengewalt konfrontiert. Und statt sich mit den sozialen Gründen auseinanderzusetzen, hätten amerikanische Juristen und Politiker auf das alte Konzept des Bösen zurückgegriffen, schreibt Joshua Kleinfeld. In den folgenden Jahrzehnten seien die Strafrechtsordnungen in allen amerikanischen Gliedstaaten massiv verschärft worden.
In Europa hingegen wurden die Strafen kontinuierlich milder. Nicht nur der humanere Blick auf den Verbrecher spielte dabei eine Rolle. Die Rechtswissenschafter begannen auch an der positiven Wirkung von Freiheitsstrafen zu zweifeln. Zudem veranlassten die steigenden Kosten der Inhaftierung die Politik, nach wirkungsvolleren Lösungen wie bedingtem Freiheitsentzug und Geldstrafen zu suchen.
Im deutschsprachigen Raum sind die Strafen noch milder als sonst in Europa. Seit 1991 wird lebenslange Haft in der Schweiz nur noch ganz selten ausgesprochen, zuvor war sie für Mord zwingend. In der Regel bekommt ein Mörder heute zwischen zehn und zwanzig Jahre, nach zwei Dritteln der Strafe hat er die Möglichkeit, eine frühzeitige Entlassung zu beantragen.
Seit 2007 gibt es im Bereich der kleineren Kriminalität zudem fast nur noch Geldstrafen, die abhängig vom Einkommen berechnet werden. Davor mussten in der Schweiz fast alle Vergehen und Verbrechen mit bedingten oder unbedingten Freiheitsstrafen belegt werden.
«In der Schweiz besteht heute ein gewisser Pragmatismus im Umgang mit Kriminalität», sagt der Zürcher Strafrechtsprofessor Felix Bommer. «Nicht nur das Strafgesetzbuch, auch die Strafzumessung ist hier insgesamt relativ moderat.» Man sei skeptisch gegenüber dem Nutzen der Haft, vor allem bei kurzen Freiheitsstrafen, weil die Bestraften aus ihrem sozialen und beruflichen Umfeld gerissen würden, ohne dass viel Zeit bleibe, auf sie Einfluss zu nehmen.
Für ein Erstdelikt muss man in der Schweiz deshalb selten ins Gefängnis. Strafen von bis zu zwei Jahren werden meist bedingt vollzogen. Und diese Milde bewährt sich laut Bommer: «Neun von zehn zu bedingter Haft Verurteilte werden nicht rückfällig.»
Aber milde Urteile müssen nicht gerechte Urteile sein. Wie ungerecht Strafen verteilt werden, weiss man allerdings nicht genau, und das hat einen für Laien überraschenden Grund: Obwohl es zu den Grundsätzen von Rechtsstaaten gehört, dass Gerichtsverhandlungen öffentlich sind, sind es viele Urteile nicht. In den meisten Schweizer Kantonen werden etwa die Urteile der ersten Instanz gar nicht publiziert. Die erste Instanz ist das erste Gericht, das einen Fall beurteilt.
Verurteilte die ähnliche Straftaten begingen, haben meistens keine Möglichkeit, ihre Strafen zu vergleichen. Ihre Anwälte auch nicht. Dasselbe gilt für die Richter: Auch ihnen fehlt die Möglichkeit, systematisch herauszufinden, wie ihre Kollegen in ähnlichen Fällen entschieden. Und weil eine zentrale Datenbank aller Fälle fehlt, gibt es auch kaum wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen könnten, wie gross das Problem ist.
Doch viele Indizien deuten darauf hin, dass es gross ist. Im Studium etwa wird die Strafzumessung nur am Rande gestreift. Viel mehr Zeit verbringen angehende Juristen damit, die verschiedenen Straftatbestände auseinanderzuhalten. Dabei ist für den Verurteilten die wichtigste Frage, wie lange er im Gefängnis bleiben muss, und nicht, ob er nach juristischer Definition einen Betrug oder eine Veruntreuung begangen hat.
Auch müssen Richter keine Weiterbildung in Strafzumessung besuchen, und ihre Urteile werden nicht evaluiert. Sie haben keine Werkzeuge, um ihr Vorgehen mit dem ihrer Kollegen abzugleichen. Und das in einer Zeit, in der jede Lehrerin online herausfinden kann, wie gut ihre Sechstklässler im schweizweiten Vergleich abschneiden.
Schliesslich gibt es in der Schweiz, anders als zum Beispiel in den USA oder in Grossbritannien, keine verbindlichen Strafzumessungsrichtlinien in den Bereichen der mittleren und schweren Kriminalität. Solche Richtlinien sind Anleitungen, wie die Strafe innerhalb des Strafrahmens systematisch bestimmt wird. Sie enthalten Kriterien wie zum Beispiel das Motiv, das Verhalten nach der Tat oder die Vorstrafen des Täters.
Die einzige Qualitätskontrolle von Urteilen in der Schweiz führt über den Weiterzug ans nächsthöhere Gericht bis zum Bundesgericht. Doch das Bundesgericht lasse sich auf Vergleiche mit anderen Fällen praktisch nie ein, sagt Martin Seelmann, ausser die angeführten Taten seien genau gleich, «was kaum je zutrifft».
Ein Hinweis darauf, dass es nicht zum Besten steht mit der Gleichbehandlung von Straftätern, kommt von Studien wie der zu Beginn des Artikels erwähnten Untersuchung des Strafrechtsprofessors André Kuhn von der Universität Neuenburg. Kuhn unterbreitete in den Jahren 2000, 2007 und 2015 Laien und Richtern Fallbeschreibungen von vier Delikten – Rasen, Einbruch, Vergewaltigung, Unterschlagung –, die bis auf das Geschlecht und die Nationalität der Täter identisch waren.
Die Studie hatte eigentlich zum Ziel, die Unterschiede zwischen dem Volksempfinden und der professionellen Einschätzung von Strafen festzustellen. Sie erbrachte aber auch ein wenig beachtetes Nebenresultat: Sie zeigte, wie uneinig sich Schweizer Richterinnen und Richter untereinander sind. Für das gleiche Raserdelikt gab es in der Befragung von 2015 einmal einen Monat, einmal neun Jahre, für eine Unterschlagung drei Monate oder neun Jahre, für eine Vergewaltigung ein halbes oder elf Jahre und für den Einbruch vom Anfang des Textes einen Monat oder dreieinhalb Jahre.
Selbst wenn man die grössten Unterschiede zwischen den Richtern als Ausreisser betrachtet, liegen die Strafmasse für die exakt gleiche Tat beunruhigend weit auseinander.
Luca Ranzoni, der mittlerweile als Gerichtsschreiber am Bundesgericht tätig ist, hat für seine Dissertation 2023 in einer Untersuchung die Strafzumessung schweizweit verglichen. Er hat Modellfälle an alle erstinstanzlichen Strafrichter der Schweiz geschickt. Über die Resultate will er vor der Publikation im April 2025 noch nicht sprechen, aber sie weisen in eine ähnliche Richtung wie jene von Kuhn. Eine gewisse Bandbreite von unterschiedlichen Strafen für gleiche Delikte müsse man wohl hinnehmen, sagt Ranzoni, «aber die ist im Moment sicher zu hoch.»
Doch nicht alle Juristen sehen das so. Viele betonen den Wert des individuellen Urteils eines Richters, das ohne Vergleiche mit anderen Urteilen zustande kommt. Es sei die Errungenschaft eines besonders menschlichen Systems, das den Straftäter als einzigartigen Menschen wahrnehme. Diese Position habe ihre Berechtigung, so Ranzoni, reiche jedoch für eine gerechte Strafzumessung nicht aus.
Die Idealvorstellung des Urteils als handgeschnitztes Unikat hat zwei Haken: Einerseits gibt es keine verbindlichen Vorgaben und schon gar keine quantitativen Gewichtungen, wie sich einzelne Umstände auf die Strafe auswirken sollen. Andererseits lässt sich gar nicht verhindern, dass Richter einen aktuellen Fall mit vergangenen Fällen vergleichen. Und wenn man ohnehin vergleiche, sei es doch besser, es mit möglichst vielen gleichartigen Fällen zu tun, sagt Ranzoni, «anstatt mit den drei Fällen, an die man sich gerade erinnern kann».
«Je mehr Vergleiche man machen kann, desto gerechtere Urteile wird es geben», sagt auch Martin Seelmann. Alle Urteile zu publizieren, wäre ein erster Schritt, der zweite, sie in einer Datenbank zentral zugänglich zu machen.
Doch mit der Datenbank sei es nicht getan, sagt Ranzoni. Besser wären Strafzumessungsrichtlinien, damit sich alle Richter auf dieselbe Grundlage stützen. Statistische Auswertungen zeigen, dass dies zu einheitlicheren Strafen führt. Aber Richtlinien sind nicht überall in Europa beliebt. Im deutschsprachigen Raum werden die in den USA gängigen Leitfäden manchmal als «barbarisch» bezeichnet, weil sie den individuellen Umständen einer Tat nicht gerecht würden und zu übertrieben harten Strafen führten. Die Amerikaner halten umgekehrt die grossen Ermessensspielräume in Europa für ungerecht.
Eine andere Idee formulierte der Jurist Jonas Achermann kürzlich in der «Richterzeitung». Als Richter am Kriminalgericht Luzern kennt er die Schwierigkeiten der Strafzumessung aus eigener Erfahrung. Es weiss, dass Strafen mitunter «hemdsärmelig-pragmatisch» verhängt werden. Und er hat schon an sich selber beobachtet, dass er bei der Festsetzung der Strafe intuitiv auf ein Endergebnis hinsteuere, auf ein Bauchgefühl für das in solchen Fällen übliche Strafmass. Juristen nennen dieses Vorgehen ironisch die «fünfte Grundrechenart»: zuerst das Resultat kennen, dann die Urteilsbegründung entsprechend anpassen. Ob das Bauchgefühl tatsächlich zutrifft, lässt sich aber kaum überprüfen.
Jonas Achermann schlägt deshalb vor, dass eine künstliche Intelligenz die Richter bei der Urteilsfindung unterstützt. Sie würde ähnliche Urteile aus einem Fundus bestehender Urteile anzeigen und darauf gestützt eine Strafprognose für den vorliegenden Fall abgeben. Dabei soll die künstliche Intelligenz aber nicht die Stelle der Richter einnehmen. Es gebe gute Gründe, einen weiten Ermessensspielraum beizubehalten. Art und Mass der Strafe sei letztlich «immer von einem Menschen zu verantworten».
Richter reagieren unterschiedlich auf diese Vorschläge für eine gerechtere Bestrafungspraxis. Manche wären froh um bessere Instruktionen und Vergleiche mit früheren Urteilen. Andere halten die unterschiedlichen Urteile für den Preis, den man für ein föderalistisches Rechtssystem bezahlt. Das Bundesgericht schreibt in einem Entscheid etwa: «Unterschiede in der Zumessungspraxis innerhalb der gesetzlichen Grenzen sind als Ausdruck des Rechtssystems hinzunehmen.» Ohne freilich die Grösse dieser Unterschiede zu kennen.
Ein deutscher Anwalt ging an einer Fachtagung gar so weit, die Vereinheitlichung der Strafzumessung als Kulturverlust zu bezeichnen. Man stelle sich vor, wie er zwei Gefängnisinsassen erklärt, es sei Teil unserer Kultur, dass der eine fünf und der andere sieben Jahre für die gleiche Tat bekommen habe.
Eine Schweizer Juristin schreibt in ihrer Doktorarbeit zur Strafzumessung, sie möchte Gefängnisinsassen nicht erklären, wie die Richter die Dauer ihres Freiheitsentzugs bestimmt haben. «Es würde ihnen nur noch schwerer fallen, ihre Strafe zu akzeptieren.»
Der Widerstand gegen Strafzumessungsrichtlinien beruht auf einer wenig beachteten, aber faszinierenden Annahme: Was sich im Kopf eines Richters abspielt, bevor er eine Strafe ausspricht, ist entweder derart komplex oder derart unsystematisch und irrational, dass es sich auch nicht nur annähernd systematisch erfassen lässt – sonst liesse es sich ja in einem Leitfaden formulieren. Auch das Bundesgericht behauptet in einem seiner Entscheide: «Eine Strafe lässt sich naturgemäss weder in ihren Teilen noch in ihrer Gesamtheit mathematisch errechnen.»
Die Ablehnung jeglicher Quantifizierung ist vor allem deshalb erstaunlich, weil am Ende der Strafzumessung eine Zahl steht. Es muss also zuvor eine Rechnung gegeben haben, von der aber niemand weiss – und offenbar niemand wissen will –, wie sie lautete. Wie viele hochtrabende Überlegungen sich ein Richter auch macht, am Ende erscheint die Strafe «wie die Taube aus dem Hut des Zauberers», wie es der Strafrechtsprofessor Peter Albrecht einmal ausdrückte.
Juristen nennen dieses Phänomen das Verknüpfungsproblem: Welche Schuld soll welche Strafe zur Folge haben? Es ist uralt, weitgehend ungelöst und wurde mit der Aufgabe verglichen, einen Pudding an die Wand zu Nageln. Weil von vornherein klar ist, dass es sich nicht befriedigend lösen lässt, scheinen sich viele Fachleute mit dem Status quo abgefunden zu haben. Dabei wird vergessen, dass eine neue Lösung nicht perfekt sein muss, sondern einfach besser als die jetzige.
Auch die Politiker unternehmen nicht einmal den Versuch, etwas zu ändern. Wenn sie etwas fordern, dann härtere Strafen, nicht einheitlichere. Es scheint fast, als ob Straftäter mit ihrer Verurteilung das Recht auf Gleichbehandlung verwirkt hätten. Dass Gerichte für die gleichen Straftaten unterschiedliche Strafen verhängen, wird hingenommen wie ein Naturgesetz.
Luca Ranzoni vermutet, die zurückhaltende Reaktion auf die Schwierigkeiten bei der Strafzumessung habe auch damit zu tun, dass Richter es teilweise als persönlichen Vorwurf verstünden, wenn sie darauf angesprochen würden. «Dabei ist es ein Problem des Systems. Es sind nicht Einzelpersonen, die ihren Job schlecht machen.»
Auch wenn sich viele Richter dieser Einflüsse nicht bewusst sind, ist allen Fachleuten klar: Das Verknüpfungsproblem und die damit einhergehende Ungleichbehandlung werden wohl für immer kontrovers bleiben. «Es ist die Büchse der Pandora, die niemand öffnen will, weil alle wissen, dass sich der Anspruch auf Gleichbehandlung letztlich nie ganz erfüllen lässt», sagt Ranzoni.
Vielleicht erklärt dieser Umstand am besten, weshalb die offensichtlichen Ungerechtigkeiten bei der Strafzumessung derart nonchalant hingenommen werden. Wer die Augen vor ihnen verschliesst, dem bleibt die schmerzhafte Einsicht erspart: Wer Recht spricht in einem Gerichtssaal, spricht immer auch Unrecht.
Text und Recherche: Reto U. Schneider, Andrea Spalinger
Datenvisualisierungen: Jonas Oesch
Illustrationen: Jasmine Rüegg
Programmierung: Franco Gervasi, Kaspar Manz