Der grosse Gefangenenaustausch brachte nicht nur Amerikaner und Deutsche nach Hause, sondern auch russische Regimegegner ins Exil. Wie gemischt ihre Gefühle dabei sind, zeigte ein Medienauftritt.
Dieser Auftritt war mit Spannung erwartet worden. Was würden die russischen politischen Gefangenen der Welt mitteilen, die am Donnerstag im grössten Gefangenenaustausch seit Jahrzehnten freigekommen waren? Die drei Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa, Andrei Piwowarow und Ilja Jaschin haben am Freitagabend an einer auch von mehreren oppositionellen russischen Youtube-Kanälen übertragenen Pressekonferenz in den Räumen der Deutschen Welle in Bonn in bewegenden Worten geschildert, was sie durchgemacht haben, wie sie ihre Freilassung erlebten und was sie mit der unverhofft wiedergewonnenen Freiheit vorhaben.
Er fühle sich wie im Film, sagte Kara-Mursa: Bis vor einer Woche habe er noch in Sibirien in Einzelhaft gesessen, bis vor zwei Tagen in Moskau im Gefängnis. Jetzt befinde er sich in Bonn am Rhein. Das sei unglaublich. Alle drei wirkten erstaunlich kraftvoll.
Gedämpfte Euphorie
Eines wurde klar: Die Euphorie, die viele ihrer Freunde und Anhänger so vehement ausdrücken, teilen sie nur bedingt, auch wenn sie allen sehr dankbar sind, die an dem Austausch beteiligt waren. Jeder hat auf seine Art daran zu nagen, was mit ihm geschehen ist und was das für ihn und sein weiteres Leben bedeutet. Die Tatsache, dass sie ihre Freiheit dem Austausch gegen einen gedungenen Mörder, den Geheimdienstagenten Wadim Krasikow, zu verdanken haben, können sie gelten lassen. Nichts, sagte Kara-Mursa, gehe über das Retten von Menschenleben; das mache den freiheitlichen Staat aus. Aber Präsident Putin werde erst recht dazu ermutigt, noch mehr politische Gefangene zu machen, meinte Jaschin.
Schwerer aber wiegt für sie die Tatsache, dass verschiedene kranke politische Häftlinge nicht auf der Liste standen. Namentlich nannten sie den Moskauer Lokalpolitiker Alexei Gorinow, der als Erster wegen «Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte» zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden war, den schwerkranken Kaliningrader Igor Baryschnikow sowie Daniel Cholodny, einen Mitstreiter Alexei Nawalnys. Die Freilassung weiterer Gefangener zu erwirken, ist ihr grösstes Anliegen.
Jaschin möchte am liebsten sofort zurück nach Russland
Keiner war dabei emotionaler als Ilja Jaschin, der liberale Moskauer Oppositionspolitiker, der ganz bewusst das Risiko des Kerkers der Emigration vorgezogen hatte – und jetzt, wie er deutlich machte, gegen seinen Willen in Freiheit und im Exil ist. Auf diesem Podium hätten andere sitzen sollen, rief er bitter in den Saal, sosehr er sich auf das Wiedersehen mit seinen Eltern freue. Immer habe er betont, sein Platz sei in Russland, nur dort könne und wolle er sich für politische Veränderungen einsetzen. Jeden Auftritt vor Gericht habe er genutzt, um das Regime von Wladimir Putin anzuprangern. Mehrmals habe er explizit nach aussen getragen, er wolle nicht ausgetauscht und nicht begnadigt werden.
Was geschehen sei, sei kein Austausch, sondern seine Abschiebung aus Russland – etwas, was die Verfassung für russische Bürger explizit verbiete. Das hatte er im Moskauer FSB-Untersuchungsgefängnis, wo die Gefangenen für den Austausch zusammengezogen worden waren, sogar der Gefängnisleitung schriftlich mitgeteilt. Nach der Landung in Ankara hätte er am liebsten gleich ein Ticket zurück nach Moskau gekauft, sagte er. Aber weil die Begleiter vom FSB um seinen Unwillen wussten, hätten sie ihn gewarnt: Bei einer Rückkehr werde ihm das Schicksal Nawalnys drohen, in jeder Hinsicht. Und noch gravierender: Mit einem solchen Schritt werde er den Austausch weiterer Gefangener verunmöglichen.
Nur eines, gab er zu verstehen, versöhne ihn ein wenig mit der Situation: dass die Nachricht vom Gefangenenaustausch vielen erstmals seit zweieinhalb Jahren ein Hoffnungszeichen schenke.
Für jeden Beobachter, der Jaschins Weg seit langem verfolgt, war seine emotionale Rede keine Überraschung. Er befindet sich zwar in Freiheit, aber erneut hat das Regime über sein Schicksal entschieden und seinen persönlichen Lebensentwurf zerstört. Er werde jetzt zu lernen versuchen, auch aus dem Exil ein effektiver Politiker zu sein, sagte er mit leicht verzweifelter Stimme. Aber mit dem Emigrantendasein werde er sich nicht abfinden. Sein Ziel sei es, in seine Heimat Russland zurückzukehren. Er weiss: In Russland hatten es bis jetzt alle Oppositionellen, die aus dem Ausland weiterwirken wollten, schwer, ihre Glaubwürdigkeit und ihre ohnehin geringen Einflussmöglichkeiten zu bewahren.
Willkür und Demütigung
Kara-Mursa, der sich als Historiker und Journalist intensiv mit dem Schicksal sowjetischer Dissidenten befasst hatte, zitierte den 1976 am Flughafen Zürich gegen einen chilenischen Kommunisten ausgetauschten sowjetischen politischen Gefangenen Wladimir Bukowski, um sarkastisch die Willkür zu beschreiben, mit der die Freigelassenen konfrontiert waren: «In unserem Land können sie dich weder richtig ins Gefängnis stecken noch freilassen. Ein fröhlicher Staat, es wird dir nicht langweilig.» Anders gesagt: Nicht nur die Verurteilung, auch die Freilassung spotteten jeglicher rechtsstaatlicher Abläufe.
Keiner von ihnen war über den Austausch informiert worden, Jaschin war gar ohne Ankündigung auf den Weg nach Moskau geschickt worden, so dass er alle seine Habe zurücklassen musste und in Lagerkleidung in Deutschland ankam. Kara-Mursa wurde diese abgenommen. Er musste im Unterhemd, in langen Unterhosen und Gummisandalen reisen.
Gültige Papiere für die Reise besass keiner: Kara-Mursa und Piwowarow verfügen nur noch über den russischen Inlandpass, Jaschins Dokumente waren sogar alle abgelaufen. Selbst die Bestätigung über die Freilassung wurde ihnen nicht ausgehändigt. Kara-Mursa und Jaschin berichteten, sie seien stark unter Druck gesetzt worden, ein Gnadengesuch an Putin zu schreiben. Beide weigerten sich. Auf dem Flug nach Ankara machten die FSB-Begleiter Witze: Sie sollten ihre neu gewonnene Freiheit nicht allzu sehr ausreizen. Immerhin werde ja auch Krasikow wieder auf freiem Fuss sein.
Russland nicht mit Putin verwechseln
Kara-Mursa, Piwowarow und Jaschin riefen dazu auf, in den Russen nicht pauschal Anhänger Putins und Kriegsbegeisterte zu sehen. Und die Sanktionen sollten weniger die breite Masse treffen. In den zweieinhalb Jahren in Haft habe er seinen Glauben in die Russen gestärkt, sagte Kara-Mursa. Der Unmut sei viel verbreiteter, als es nach aussen sichtbar sei; und viele seien auch bereit, diesen zu äussern. Daher gebe es viel mehr politische Gefangene, als der Öffentlichkeit bekannt seien – einfache Bürger, die wegen eines einzigen Satzes oder Likes in den sozialen Netzwerken in die Mühlen des Strafvollzugs geraten seien.
Piwowarow wünscht sich, dass der Westen mehr Russen die Chance gibt, mit eigenen Augen zu sehen, dass die Europäer nicht so sind, wie die Propaganda sie zeichnet. Im Exil möchte er ankämpfen gegen die Verzagtheit unter den emigrierten Regimegegnern. Wenn er höre, im Moment bringe es nichts, sich politisch zu engagieren, bedrücke ihn das. Gerade jetzt sei die Opposition gefordert.
Jaschin und Kara-Mursa sehen es ähnlich. Auf dem Flug nach Ankara habe ihm der FSB-Begleiter gesagt, er solle nochmals aus dem Fenster schauen; seine Heimat werde er ja nie wieder sehen, erzählte Kara-Mursa. Er als Historiker wisse aber: Es könne sich ganz schnell alles ändern. Er hoffe, Putin noch vor dem weltlichen Gericht zu sehen. Als gläubiger Christ wisse er: Das letzte Gericht werde ohnehin über diesen urteilen, den er einen Mörder und Tyrannen genannt habe.
Neuer Schub für die Exilopposition?
Die russische Oppositionspolitik aus dem Exil hat sich bis anhin durch Streit und Hilflosigkeit ausgezeichnet. Noch ist es viel zu früh, darüber zu urteilen, ob die freigelassenen Politiker ihr tatsächlich einen neuen Schub verleihen können. Die moralische Autorität besässen sie – und die Unterstützung Tausender, die der Standhaftigkeit der drei mit Briefen ins Gefängnis ihren Respekt gezollt hatten. Und noch etwas habe ihnen unter den schwersten Haftbedingungen die Kraft zum Weitermachen gegeben: das Wissen darum, im Recht zu sein.