Ein Bericht des «Short Seller» Hinderburg Research bringt Temenos an der Börse in Schieflage. Der Leerverkäufer wirft dem Genfer Unternehmen schwerwiegende Unregelmässigkeiten in der Buchhaltung und Gewinnmanipulation vor. Was ist davon zu halten?
Der amerikanische Leerverkäufer Hindenburg Research nimmt Temenos, den grössten Schweizer Hersteller von Bankensoftware, ins Visier. Der «Short Seller» hat Temenos am Donnerstag in einem neuen Bericht Gewinnmanipulation und «schwerwiegende Buchhaltungsunregelmässigkeiten» vorgeworfen. Die gravierenden Vorwürfe beruhen auf anonymen Quellen. Bei der Interpretation ist deshalb Vorsicht geboten.
Die Börse scheint den Kritikpunkten allerdings ein gewisses Gewicht zu geben. Der Aktienkurs von Temenos fiel seit Donnerstagmittag zeitweise um über 30 Prozent und beendete den Handelstag mit 28 Prozent im Minus.
Die wichtigsten Kritikpunkte in der Übersicht
Roundtripping: Hindenburg Research wirft Temenos Roundtripping vor. Auf Deutsch: Rundreise. Bei diesem Vorgehen kauft eine Firma einer anderen Firma einen Vermögenswert ab, lässt der Käuferin aber die Kaufsumme auf anderem Weg wieder zukommen. So gaukelt man Aktionären hohe Erträge und eine rege Geschäftstätigkeit vor.
Laut Hindenburg hat Temenos im Oktober 2021 den Kauf von Software und Dienstleistungen im Wert von 20 Millionen Dollar durch das amerikanische Fintech-Unternehmen Mbanq bekanntgegeben und, ohne dies zu deklarieren, eine gleich hohe Summe über eine Wandelanleihe in das Unternehmen reinvestiert. Auf diese Weise habe Temenos den Kauf der Software «heimlich finanziert».
Rückdatierung von Verkäufen: Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass Temenos mit aggressiven Preisnachlässen frühzeitige Lizenzverlängerungen bei seinen Software-Kunden durchgedrückt habe, um gegenüber den Investoren kurzfristig Erfolge vorweisen zu können. Gleichzeitig seien aber die Verkäufe an Neukunden zurückgegangen. Hindenburg zitiert einen ehemaligen Temenos-Manager, laut dem das Unternehmen Software-Verkäufe sogar zurückdatiert habe, um die Geschäftszahlen in einem bestimmten Quartal besser aussen zu lassen.
Aufgeblähte Forschungsausgaben: Ein weiterer Vorwurf lautet, dass Temenos die Ausgaben für Forschung und Entwicklung aufgebläht habe, indem es kundenspezifische Ausgaben unter F&E verbucht habe. Das habe es erlaubt, buchhalterisch höhere Gewinne auszuweisen.
Übertriebene Versprechen: Gegenüber Kunden soll Temenos den Funktionsumfang des eigenen Softwareangebots oft übertrieben dargestellt haben und verweist auf entsprechende Rechtsfälle in den USA und Beispiele von unzufriedenen Banken von Irland bis Australien. In einer grossen Zahl von Fällen sei die Implementierung der Software gescheitert.
Was Temenos zu den Vorwürfen sagt
Das Softwareunternehmen weist die Anschuldigungen von Hindenburg zurück. Der Bericht enthalte faktische Ungereimtheiten, analytische Fehler und irreführende Anschuldigungen, die zum Ziel hätten, den Aktienkurs von Temenos negativ zu beeinflussen. Hindenburg habe das Unternehmen im Vorfeld nicht um eine Stellungnahme angefragt.
Temenos lässt durchblicken, dass bei der anstehenden Publikation der Jahresresultate am 19. Februar mit keinen bösen Überraschungen zu rechnen sei. Das Geschäftsjahr 2023 verlief, wie vorab kommuniziert, erfolgreich. Zwischen den Zeilen sagt das Unternehmen damit: Auch der Revisor hat sich die Sache genau angesehen und sieht kein grundlegendes Problem.
So schätzen Temenos-Kenner den Angriff ein
Mehrere Beobachter, die Temenos seit langem kennen, halten die Vorwürfe von Hindenburg Research für teilweise plausibel – aber zu grossen Teilen seien sie altbekannt, überholt oder nicht besonders gravierend.
In der Branche sei der Druck, gute Zahlen zum vierten Quartal vorzuweisen, überall gross; insofern auch die Verlockung, Vertragsabschlüsse noch in dieses Quartal hineinzuquetschen. Ähnliches gelte für die Kundenzufriedenheit: Kostenüberschreitungen und Projekte, die viel zu lange dauern, gehörten in der Branche dazu und seien kein Temenos-spezifisches Problem.
Bereits 2022 hatte der aktivistische Investor Petrus Advisers eine zu optimistische Budgetierung, die sehr hohe Fluktuation, aber auch das damalige Führungsduo kritisiert.
Das soll zu einigen Fortschritten geführt haben. Das Unternehmen begann, konservativer zu budgetieren, entliess Anfang 2023 den als schwach erachteten CEO und ersetzte den Langzeit-Verwaltungsratspräsident Andreas Andreades, wobei dieser als Interims-CEO bei Temenos blieb.
Der Druck auf CEO Andreades steigt
Es wird erwartet, dass der Bericht den Druck auf den Verwaltungsrat erhöht, endlich einen CEO-Ersatz für Andreades zu präsentieren. Dieser war über viele Jahre als Executive Chairman der starke Mann bei Temenos. Hindenburg attackiert auch ihn, respektive die hohe Bezüge der Temenos-Führung unter seiner Aufsicht im Laufe der vergangenen Jahre, scharf.
Andreades ist als Führungsfigur umstritten, er gilt aber gleichzeitig als brillanter Verkäufer, der sowohl das Bank- als auch das Softwaregeschäft sehr gut zu versteht.
Doch seine Entlöhnung im Lauf der Jahre war tatsächlich hoch. Er dürfte sich im Markt einige Gegner gemacht haben – Führungskräfte etwa, welche von Andreades zu Temenos geholt wurden und viele Aktien-Optionen des Unternehmens als Lohnbestandteil erhielten.
Als sich dann zeigte, dass die Prognosen zu optimistisch waren, der Temenos-Kurs nicht weiter stieg und die erteilten Optionen somit wertlos würden, wandten sich manche Mitarbeiter enttäuscht von Temenos ab. Dass Hindenburg für seinen Angriff auf ein Reservoir an frustrierten Ex-Managern zurückgreifen konnte, erstaunt daher nicht.
Was sind Leerverkäufer?
Leerverkäufer gelten als Hyänen der Finanzmärkte, was auch positiv gedeutet werden kann: Sie suchen Unternehmen, die aus ihrer Sicht marode und überbewertet sind, und spekulieren an der Börse darauf, dass die Aktienkurse der betroffenen Firmen unter Druck geraten. Durch ihre Aktivitäten tragen sie zu einer schnelleren und effizienteren Preisbildung an den Finanzmärkten bei.
Von einem Leerverkauf spricht man, wenn sich ein Marktteilnehmer Wertpapiere ausleiht und diese «leer» verkauft – in der Hoffnung, dass deren Kurs bis zum Ablauf der Ausleihefrist fällt. Bei der Rückgabe kann er die Papier günstiger zurückkaufen. Der Kursrückgang fällt dabei als Profit an.
Leerverkäufer aus dem angelsächsischem Raum sind bekannt dafür, mit ausführlich recherchierten Berichten den Druck auf ihre Zielobjekte zu erhöhen. Hindenburg Research sorgte vor Jahresfrist bereits für Schlagzeilen, als es das Firmenimperium des indischen Milliardärs Gautam Adani angriff. Der Aktienkurs wichtiger Adani-Firmen stürzte erst ein – erholte sich später aber teilweise wieder.
Durchs Band wird Hindenburg zugestanden, im Fall Temenos «brillant» vorgegangen zu sein, also genau den richtigen Zeitpunkt für den Angriff gewählt zu haben. Die Aktie war nach einem längeren Steigflug bei rund 90 Franken wieder ziemlich hoch bewertet, so dass der Bericht überhaupt Wirkung entfalten konnte. Der Leerverkäufer dürfte mit seinem Manöver mutmasslich in kurzer Zeit einen hohen Gewinn erzielt haben.