Die Netzgesellschaft Swissgrid muss immer häufiger für teures Geld intervenieren, um die starken Schwankungen der Solarenergie auszugleichen. Das Problem: Viele Stromfirmen aktualisieren ihre Wettervorhersagen nicht täglich.
Am 22. April 2024 schrammte die Schweiz nur knapp an einem Blackout vorbei. Das zumindest war auf Newsportalen wie «20 Minuten» zu lesen. Nach sehr warmen Apriltagen war es entgegen den Wetterprognosen zu einem überraschenden Wintereinbruch gekommen. Der Schnee, der den ganzen Winter gefehlt hatte, war urplötzlich da – und das bis ins Flachland. Die Solarmodule wurden zugeschneit, die Produktion von Solarstrom ging auf praktisch null zurück. Plötzlich fehlte so viel Strom im System, wie das AKW Leibstadt produziert (1400 MW).
Laut der nationalen Netzgesellschaft Swissgrid drohte damals – anders als behauptet – zwar nicht unmittelbar ein Blackout. Doch musste die nationale Netzgesellschaft stark intervenieren, um den Zusammenbruch des Stromnetzes zu verhindern. Produktion und Verbrauch müssen im Stromsystem jederzeit genau im Gleichgewicht sein. Kommt es zu einer Unterdeckung, muss die Netzbetreiberin sogenannte Regelenergie zukaufen, die kurzfristig abgerufen werden kann; so etwa bei Speicherkraftwerken, die Wasser turbinieren können.
Solche Eingriffe sind teuer: Am 22. April musste Swissgrid pro eingekaufte Megawattstunde Strom über 2000 Franken bezahlen, die Kosten summierten sich auf gegen 10 Millionen Franken. Es sind dies Kosten, die am Schluss die Konsumenten bezahlen müssen.
Der Vorfall war mitnichten ein einmaliges Ereignis. Auch im darauffolgenden Sommer sowie in den ersten Monaten des laufenden Jahres kam es wiederholt zu Vorfällen, bei denen Swissgrid das Netz nur mit grosser Mühe stabil halten konnte. Der Grund dafür war meistens derselbe: Die Stromunternehmen lagen mit ihren Wetterprognosen daneben, es kam zu erheblichen Defiziten oder Überschüssen, woraufhin Swissgrid binnen Minuten Kapazitäten von Kraftwerken anzapfen musste.
Am 17. Februar 2025 etwa musste Swissgrid aufgrund einer unerwarteten Schlechtwetterfront die Leistung eines Kernkraftwerks von der Grösse von Gösgen (1000 MW) kompensieren. Mit ähnlichen Vorfällen hatte es die Netzbetreiberin schon am 6. und am 26. Januar zu tun – wobei in diesen Fällen überraschend sonniges Wetter dafür sorgte, dass mehr Strom als prognostiziert eingespeist wurde. In solchen Fällen müssen jeweils Kraftwerke heruntergefahren werden, die Swissgrid unter Vertrag genommen hat. Ins Geld geht auch das: 2024 beliefen sich die Kosten für die Ausgleichsenergie bei Swissgrid auf rund 370 Millionen Franken. In den beiden Jahren davor war es nicht einmal die Hälfte davon gewesen.
Stromnetz am Limit
Verschätzen sich die Stromfirmen beim Wetter, fällt das je länger, je stärker ins Gewicht: Die in der Schweiz installierte Leistung von Solarstrom hat sich bereits innerhalb des vergangenen Jahres von 6 auf 8 Gigawatt erhöht – bis 2040 sollen es gemäss den Plänen des Bundesrats gar 30 GW sein. Kommt es zu Fehlprognosen, gerät das Stromnetz zwangsläufig ans Limit.
«In den vergangenen Jahren lag der Fokus auf der Vermeidung eines Energiemangels im Winter», sagt Bastian Schwark, Leiter Marktbetrieb bei Swissgrid, «in Zukunft liegt die Herausforderung darin, das Netz trotz enormen Erzeugungsüberschüssen stabil zu halten.» Anders als zum Beispiel die Speicherwasserkraft sei die Photovoltaik derzeit praktisch nicht steuerbar, nicht zuletzt auch weil man es mit sehr vielen kleinen Anlagen zu tun habe.
Betrachtet man die Vorfälle etwas genauer, sticht eine Konstante ins Auge: Ausgeprägte Ungleichgewichte, die das Netz gefährden können, kommen meistens an Feiertagen, Wochenenden und an Montagen vor. Der Grund dafür ist simpel: In der Schweiz ist der Strommarkt stark fragmentiert, es gibt 650 Verteilnetzbetreiber, viele davon sind kleine Betriebe mit noch kleineren personellen Ressourcen. Und dort wird häufig nur unter der Woche gearbeitet. Wird die Wetterprognose am Freitag erstellt und gilt dann für die nächsten drei Tage, ist die Fehlerwahrscheinlichkeit entsprechend hoch.
«Das Wetter ändert sich rasch. Wenn Prognosen nur an Arbeitstagen und nur zu Bürostunden erfolgen, genügt dies nicht», sagt Bastian Schwark von Swissgrid. Stützen sich zudem mehrere Akteure gleichzeitig auf dieselben fehlerhaften Prognosen ab, summiert sich die Unausgeglichenheit im Netz umso mehr. «In solchen Fällen müssen wir grosse Mengen an Regelenergie einsetzen, was die Kosten erst recht in die Höhe treibt.» Das sei für die Volkswirtschaft schädlich und könne zudem die sichere Stromversorgung gefährden.
Swissgrid hat nun reagiert. Seit Jahresbeginn müssen die sogenannten Bilanzgruppen, in denen Verteilnetze, Händler, Erzeuger und Lieferanten zusammengefasst werden, aufgrund neuer Verträge täglich aktualisierte Wettervorhersagen benutzen – also auch an den Wochenenden. Allerdings löst dies das Problem nur teilweise, weil diese Pflicht nur jene Bilanzgruppen betrifft, die direkt bei Swissgrid registriert sind – nicht aber die darunterliegenden 600 Verteilnetzbetreiber.
Aktiv geworden ist auch der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). In einem Ende März erschienenen Branchendokument warnt der Verband davor, dass sich die Situation mit dem weiteren Ausbau der Photovoltaik weiter verschärfe, wenn die Weichen nicht neu gestellt würden. Im Regelwerk wird von den Stromversorgern gefordert, dass sie ihre Prognosetätigkeit an 365 Tagen im Jahr ausführten. Dafür müssten die entsprechenden Ressourcen bereitgestellt werden.
Ob das Engagement des Verbands Wirkung zeigt, ist fraglich. Den Versorgern fehlt schlicht der Anreiz , Personal anzustellen, das auch am Samstag und Sonntag die Wetterprognosen aktualisiert. Denn ist die Wetterprognose falsch, muss Swissgrid zwar teure Regelenergie beschaffen und diese den Versorgern in Rechnung stellen. Am Schluss jedoch stehen dafür nicht die Unternehmen gerade, sondern die Konsumenten.
Kommt hinzu, dass sich Stromkonzerne wie Axpo, Alpiq und BKW die rege Nachfrage nach Regelenergie in den letzten Jahren vergolden liessen, seit die Schweiz 2022 eine neue Beschaffungsplattform namens Picasso eingeführt hat. Nach dieser Umstellung auf das EU-Design sind die Preise für Regelenergie explodiert – nicht zuletzt weil der Schweizer Markt abgeschottet ist und es nur wenige Anbieter gibt.
Aufsicht führt Preisobergrenzen ein
Um die «Extremgewinne für Strombarone» («Handelszeitung») zu vereiteln, ist mittlerweile auch die Aufsichtsbehörde Elcom eingeschritten und hat am 1. März Preisobergrenzen eingeführt – namentlich für die sogenannte Sekundärregelenergie, die innert fünf Minuten im Netz sein muss. Da der Wettbewerb laut Elcom «nur unvollständig funktioniert», darf diese pro Megawattstunde nur noch 1000 Euro kosten – die Obergrenze gilt vorerst bis Ende Jahr.
Um den Bedarf an Regelenergie zu senken, führt Swissgrid im kommenden Jahr zudem ein neues Preismodell ein, das bestehende Fehlanreize korrigieren soll. Es sieht – vereinfacht gesagt – vor, dass die Energieversorger dafür belohnt werden, wenn sie Schwankungen im Netz ausgleichen. Die Netzbetreiberin übernimmt damit das vorherrschende Modell in Europa. Was Swissgrid zuversichtlich stimmt: In Nachbarländern wie Deutschland zeigt sich, dass trotz einem deutlich höheren Anteil Solarenergie viel weniger Ausgleichsenergie benötigt wird.
Abhilfe würde laut Swissgrid zudem ein Stromabkommen mit der EU schaffen. «Nur so erhalten wir Zugriff auf die europäischen Regelenergie-Plattformen», sagt Bastian Schwark. Die Sicherheit des Netzbetriebs in kritischen Situationen könnte damit substanziell erhöht werden.