Zwei Amerikaner unternehmen eine Holocaust-Tour durch Polen. Ein kluger, überraschend leichtfüssiger Kinofilm.
Im Zug nach Lublin, auf dem Weg zur Besichtigung des KZ Majdanek, flippt Benji aus. Er erträgt es nicht länger. Die Holocaust-Tour durch Polen, die sein Cousin David (Jesse Eisenberg) gebucht hat, kommt Benji (Kieran Culkin) verlogen vor.
Dass die Reisegruppe in der ersten Klasse unterwegs ist, findet Benji bezeichnend. Das sei pietätlos. Ob denn niemand die Ironie sehe, schreit er durch den Waggon. Vor 80 Jahren seien die Juden wie Vieh in den polnischen Zügen eingepfercht gewesen. Jetzt mache man komfortables Sightseeing.
Der Tour-Guide will ihn beruhigen. Es sei ganz normal, dass man als Nachfahre von Überlebenden Schuld empfinde. Vielen gehe es so. Sie würden sich fragen, ob sie ihr angenehmes Leben verdient hätten, während die Vorfahren unermessliches Leid erfuhren. Aber darum geht es Benji nicht.
Ein Mann ohne Filter
Benji, Anfang vierzig, hat kein angenehmes Leben. Nach allem, was David weiss, wohnt der Cousin in einem prekären New Yorker Vorort bei seiner Mutter im Keller. Womöglich ist er sogar obdachlos. Er hat nie etwas auf die Reihe gekriegt.
David und Benji wuchsen zusammen auf, die Väter sind Brüder. Doch mittlerweile hat David eine Familie, führt eine verhältnismässig bürgerliche Existenz in New York. Ein verstockter Grossstadtneurotiker zwar, der seine Spleens aber weitgehend im Griff hat. Benji hingegen ist ein impulsgetriebener Sozialfall. Ein Mann ohne Filter. Er sagt, was er denkt. Seine Direktheit stösst die Leute vor den Kopf. Sie kann aber auch entwaffnend wirken.
Wenn er auf der Holocaust-Tour austickt, mag man sich mit ihm identifizieren. Die Mitreisenden machen einen distanzierten Eindruck. Sympathische Leute, die aber zu keinen echten Emotionen fähig scheinen. Benji bringt seine Gefühle ganz unverhohlen zum Ausdruck. Seine Ergriffenheit ist nicht religiös motiviert, aber das Leid der jüdischen Geschichte geht ihm menschlich nahe. Er legt sich deswegen auch mit dem Tour-Guide an.
Dieser, ein junger Brite namens James (Will Sharpe), hat sich der Gruppe als Nichtjude vorgestellt, der nach eigener Aussage «besessen» ist vom Judentum. Er finde dessen Geschichte «wunderschön und zeitweise tragisch». James, der philosemitische Streber, wird nicht müde, die Gruppe mit seinem Wissen zu behelligen.
Als man in Lublin auf dem jüdischen Friedhof vor dem Grab des Talmudgelehrten Jakub Kopelman steht, schneidet Benji dem schwafelnden Reiseführer das Wort ab. Er will keinen Wikipedia-Eintrag über diesen Kopelman. Unter der Erde liege ein echter Mensch, faucht er James an. Keine Fussnote der Geschichte.
Vererbte Traumata
Der Film heisst «A Real Pain», ein schlüssiger Titel. Benji und David sind Menschen, die einen Schmerz mit sich tragen. Und lernen müssen, mit ihm umzugehen. Denn weggehen wird er nicht.
Man kann das ahistorisch lesen, die Geschichte legt niemanden auf die Couch. Gleichzeitig liegt der Schluss nahe, die Protagonisten als Stellvertreter der dritten Generation von Holocaust-Überlebenden zu verstehen: Von ihren Vorfahren haben sie ein Trauma vererbt bekommen, aus Benji bricht es unkontrolliert hervor. David dagegen verdrängt es. Seine Neurosen sind verschluckte Tränen.
Der Grund, weshalb die Cousins sich auf den Weg nach Polen gemacht haben, ist der Tod der Grossmutter. Diese hat «durch eine Million Wunder», wie Benji sagt, das KZ überlebt. Ihr Tod hat Benji brutal mitgenommen. Er will sehen, wie sie vor dem Krieg gelebt hat.
David hat die Reise aber auch gebucht, weil er dem Cousin wieder näher sein will. Was Benji zu viel hat an Gefühl, das hat David zu wenig. Sosehr er sich für den unbeherrschten Cousin schämt: Insgeheim will er ein bisschen sein wie er.
Zwei urbane New Yorker machen eine Holocaust-Tour in Polen. Maximal unterschiedliche Charaktere auf fremdem Terrain: Dramaturgisch ist es die klassische Buddy-Komödie. Das Genre schwebte dem Schauspieler Jesse Eisenberg vor für seine zweite Regiearbeit nach «When You Finish Saving the World» (2022). Allerdings schrieb der säkulare Jude aus Queens, New York, ursprünglich an einem Film, der nichts mit der Shoah zu tun hat. Aber er kam nicht weiter. Dann, eines Tages, ploppte beim Surfen im Internet eine seltsame Werbung auf; angeboten wurde ihm eine «Holocaust-Tour mit Lunch».
In der Tradition von Woody Allen
Menschheitsverbrechen mit Mittagessen: Der gewitzte Comedian in der Tradition von Woody Allen hatte einen Stoff gefunden, an dem er sich schön reiben konnte. Aber ihm geht es nicht um eine Kritik an der Oberflächlichkeit des Gedenkens, so einfach macht es sich Eisenberg nicht.
Denn jeder Versuch einer Vergegenwärtigung der Shoah muss unbeholfen bleiben. Die Reisegruppe könnte auch zusammengepfercht in einem Viehwaggon reisen, die Erfahrung würde deswegen nicht authentischer. Trotzdem hat der Störenfried Benji nicht unrecht: Man muss ehrlich etwas fühlen. Und das Gefühl auch zulassen. Sonst wird ein Gedächtnistheater draus.
Auf Deutsch gibt es ein unsägliches Wort: Vergangenheitsbewältigung. Der Völkermord an den Juden lässt sich nicht bewältigen. In dem Begriff versteckt sich der Wunsch, mit der Geschichte abzuschliessen. Der Amerikaner Eisenberg lässt seinen klugen, bemerkenswert leichtfüssigen Film nicht darauf hinauslaufen, dass die beiden Amerikaner erlöst vom Schmerz aus Polen zurückkehren würden.
Die Erzählung hört am New Yorker Flughafen auf, wo sie auch begonnen hat. Mit der Ellipse betont «A Real Pain», dass das Gedenken nie abgeschlossen ist. Keine Holocaust-Tour mit Lunch lässt das Trauma verschwinden. Aber zwischendurch etwas essen ist auch nicht verkehrt. Oder wie man sich in jüdischen Familien gerne zu den Feiertage hin sagt: Wenn man schon überlebt hat, darf man jetzt auch gut speisen. «They tried to kill us, we won, let’s eat!»