Das Hirn führt uns oft in die Irre. Keiner wusste das besser als Daniel Kahneman. Er schlug eine Brücke zwischen Psychologie und Ökonomie – und wusste, warum 5 Dollar nicht immer 5 Dollar sind. Nun ist er im Alter von 90 Jahren gestorben.
Ist der Mensch eine kühl kalkulierende Maschine? Lange Zeit basierte die Wirtschaftswissenschaft auf dieser Idee. Individuen erschienen als rationale Wesen, die nur darauf programmiert waren, immer und überall ihren Eigennutzen zu maximieren. Zwar war es manchem Forscher unwohl beim Gedanken an einen solchen Homo oeconomicus, zumal der Alltag voll ist von Bauchentscheiden. Deswegen dem Menschen aber irrationales Verhalten unterstellen – das wollte man dann doch nicht.
Verluste wiegen schwerer als Gewinne
Es ist Daniel Kahneman zu verdanken, dass dieses realitätsferne Menschenbild ab Mitte der 1980er Jahre zusehends der Wirklichkeit angeglichen wurde. Und bezeichnenderweise brauchte es für diesen frischen Blick und Paradigmenwechsel einen Aussenseiter, der nie Ökonomie studiert hatte. Mit Kahneman war es vielmehr ein Psychologe, der die «düstere Wissenschaft», wie die Ökonomie auch bezeichnet wird, inhaltlich umgestaltete wie kaum ein anderer.
Der 1934 in Tel Aviv geborene Israeli, der später auch die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, gilt als Begründer der Verhaltensökonomie. Diese integriert Erkenntnisse der Psychologie in die Ökonomie. Sie zeigt, dass der Mensch nicht immer rational und effizient ist, sondern auch emotional und bequem. Sein Verhalten kann dem eigenen Interesse widersprechen. Entsprechend weicht das menschliche Tun, wie es Kahneman in Experimenten untersuchte, oft von den Vorhersagen der traditionellen Ökonomie ab.
Ein Beispiel ist das Phänomen der Verlustaversion. Es zeigt, dass die meisten Menschen einen Verlust doppelt so stark wahrnehmen wie einen gleich hohen Gewinn. Der Ärger über den von 100 auf 120 Franken gestiegenen Preis für eine Tankfüllung ist also viel grösser als die Freude über den Preisrückgang von 100 auf 80 Franken. Aus diesem Grund ist nicht zu empfehlen, jeden Tag aufs Aktienportfolio zu schauen. Denn der mit Kurseinbussen verbundene Schmerz führt zu übertriebener Vorsicht, was eine kluge Vermögensanlage fast verunmöglicht.
Das nüchterne Aufrechnen von Kosten und Nutzen ist keine Stärke des Menschen. So zeigt Kahneman, dass zwar die meisten Konsumenten eine 20-minütige Autofahrt auf sich nehmen, um in einem Shop am anderen Ende der Stadt einen Taschenrechner für 10 Dollar statt 15 Dollar zu kaufen. Sie machen dieselbe Fahrt aber nicht, um eine Jacke für 120 Dollar statt 125 Dollar zu kaufen. Und dies, obwohl die Ersparnis stets 5 Dollar sind. Der Grund: Wichtig ist nicht nur die Höhe des Rabatts, sondern auch der Referenzpunkt.
Amos Tversky – der kongeniale Partner
Wer solche Experimente verstehen will, muss weder Ökonom noch Psychologe sein. Diese Nähe zur Lebenswelt erklärt einen grossen Teil von Kahnemans Popularität über die akademischen Kreise hinaus. Bei der Lektüre seiner Bücher werden der Leserschaft anschaulich und nachvollziehbar die Grenzen der Rationalität vor Augen geführt. Denn niemand ist gefeit gegen gedankliche Abkürzungen, Selbstüberschätzung, Vorurteile oder das Hereinfallen auf billige Werbetricks.
Für Ernst Fehr, den Zürcher Wirtschaftswissenschafter, ist Kahneman mehr als nur der Gründervater der Verhaltensökonomie. Er bezeichnet ihn als einen der grössten Verhaltensforscher und Psychologen des 20. Jahrhunderts. Seine 1979 verfasste «prospect theory», die das Entscheiden unter Risiko und die damit verbundene Verlustaversion analysiert, sei von Forschern millionenfach zitiert worden und habe die Ökonomie, Psychologie und die Sozialwissenschaften als Ganzes stark beeinflusst.
Man kann und darf aber nicht über Kahneman schreiben, ohne seinen kongenialen Forschungspartner, den ebenfalls aus Israel stammenden Psychologen Amos Tversky, zu erwähnen. Die beiden bildeten fast drei Jahrzehnte ein extrem produktives Team, wobei Tversky eher der analytische und Kahneman der kreative Denker war. Es habe sich teilweise angefühlt, als würden sie dasselbe Hirn teilen, meinte Kahneman einst zu dieser engen Verbundenheit, die weit über die Arbeit hinausging und durch Tverskys frühen Tod im Jahr 1996 ein jähes Ende fand.
Als Kahneman 2002 als erster Nichtökonom den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, war daher Tversky der grosse Abwesende. Es war aber jedermann klar, dass dieser den Preis ebenfalls bekommen hätte, wäre er noch am Leben gewesen. Ironischerweise wurde als zweiter Preisträger Vernon Smith gekürt. Ironisch deshalb, weil Smith mit seinen Experimenten nachzuweisen versuchte, wie gut die traditionelle Markttheorie auch im Labor funktioniert. Kahneman hingegen zeigte, wie oft diese Theorie aufgrund des verzerrten Menschenbilds weit daneben lag.
Die Gefahr des schnellen Denkens
Die latente Fehlerhaftigkeit – und somit auch Menschlichkeit – des Individuums zieht sich wie ein roter Faden durch Kahnemans Werk. So auch im 2011 veröffentlichten Bestseller «Schnelles Denken, langsames Denken». Es fasst sein Lebenswerk in leicht lesbarer Form zusammen. Der Titel bezieht sich auf die Denksysteme im Hirn: System 1 arbeitet schnell, automatisch und mühelos. System 2 hingegen ist langsam, rechnet, vergleicht und ist mit Anstrengung verbunden.
Menschen meiden Anstrengungen. Sie bevorzugen den einfachen Weg. Also dominiert die «kognitive Leichtigkeit» von System 1 gegenüber der Mühsal, sich in System 2 den Kopf zu zerbrechen über alle Aspekte eines Problems. Dafür gibt es viele Gründe, etwa den Halo-Effekt. Bei diesem wird von bekannten Eigenschaften auf unbekannte geschlossen. Ein Beispiel: Wer Donald Trump unsympathisch findet, wird intuitiv alle Vorstösse von ihm ablehnen, aber nicht auf der Grundlage von Fakten, sondern weil man daran glauben will, dass die eigene Erwartung erfüllt wird.
Die Grenzen der menschlichen Urteilsfähigkeit wurden dem Sohn einer jüdisch-litauischen Familie, die sich im Zweiten Weltkrieg in Frankreich verstecken musste, erstmals im Militärdienst bewusst. Dort wurde der Psychologe 1954 zur Beurteilung von Offiziersaspiranten eingesetzt. Es zeigte sich jedoch, dass die Fähigkeit, militärische Leistungen im Voraus zuverlässig abzuschätzen, gering war. Dies lehrte den selbsternannten Pessimisten, der Intuition – dieser bequemsten Form der Entscheidfindung – zu misstrauen.
Nach dem Beginn seiner Karriere in Jerusalem arbeitete Kahneman ab den 1950er Jahren auch in den USA, zuletzt an der Princeton University. Sein Wissensdurst bei dem Vorhaben, dem Geheimnis des menschlichen Gehirns auf die Spur zu kommen, blieb bis zuletzt gross. So publizierte er noch vor drei Jahren ein Buch. Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau lebte er in New York – zusammen mit Barbara Tversky, der Witwe seines Freundes und Forschungspartners. Kahneman ist am 27. März im Alter von 90 Jahren verstorben.