Peter Giger, Risiko-Chef der Zürich Versicherung, erklärt, warum Unwetterschäden steigen, wo die Schweizer Klimapolitik verfehlt und warum er trotz allem optimistisch ist.
Herr Giger, Sie leiten die Risikoabteilung der Zurich Versicherung. Waldbrände, Muren, Fluten, Hurrikane: Wie verheerend waren die Wetterextreme dieses Jahr?
Aus versicherungstechnischer Sicht war es ein gewöhnliches Jahr. Es hat etwas gegen oben ausgeschlagen, war aber vollständig innerhalb des Bereichs, den man erwarten muss – sogar ohne Berücksichtigung der Auswirkungen des Klimawandels.
Das Gerede vom «neuen Normal» des Klimawandels, das man erlebt habe, war also fehlgeleitet?
Der Begriff ist unpassend. Menschen nehmen immer eine relativ kurzfristige Erfahrung und sagen: Das ist normal. Das Wetter ist für jedes Jahr immer einflussreicher als das Klima. Zugleich gibt es natürlich einen Klimatrend: Die Wahrscheinlichkeit von Wetterereignissen verändert sich, aber über so lange Zeiträume, dass wir es kaum wahrnehmen. Man sieht es an der Seegfrörni. Früher gab es die etwa alle 25 Jahre, heute ist sie fast unmöglich geworden. Wir können uns kaum vorstellen, wie kalt der Winter dafür sein muss. Nach einem kühlen Sommer braucht es 300 negative Gradtage.
300 negative Gradtage, heisst das 30 Tage mit minus 10 Grad?
Ja, und zwar mit einer Durchschnittstemperatur von minus 10 Grad! Das können wir uns heute kaum noch vorstellen. Früher passierte das relativ regelmässig.
Dieses Jahr gab es in der Schweiz, in Norditalien und Österreich starke Murgänge und Überflutungen. Spüren Sie das als Versicherung?
In der Tendenz führt ein wärmeres Klima zu höheren Regenmengen, der Alpenraum hatte dieses Jahr heftige Wetterereignisse. Da wir Kunden auf der ganzen Welt haben, gleichen sich die Schäden aus. Wir hatten Hurrikane in Florida, aber die haben nicht die heikelsten Gebiete getroffen. Grundsätzlich sind die steigenden Schadenssummen weniger eine Folge des veränderten Klimas, sondern vielmehr davon, dass Leute in Risikogebieten bauen, beispielsweise an Küsten.
Extremwetter scheint die Leute wenig zu kümmern. Auch in der neuen WEF-Umfrage unter Führungskräften in G-20-Staaten sind die meistgenannten Risiken wirtschaftlich: Inflation, Fachkräftemangel und Rezession.
Die Leute beschäftigt das, was gerade die Schlagzeilen dominiert. Während der Pandemie sahen alle die Pandemie als Risiko, zwei Jahre später spricht keiner mehr davon. Wenn man nach Risiken für die nächsten zehn Jahre fragt, scheinen Wetter und Klima wieder auf. Doch das Risikoverhalten ist viel zu kurzfristig geprägt. So bildet man keine Resilienz.
Wie gehen Sie als Versicherung damit um?
Wir haben gute Risikomodelle, die mit Klimamodellen gekoppelt sind. Die sind für unsere Kunden wertvoller als für uns. Als Versicherer können wir jährlich die Prämien anpassen oder Verträge kündigen, wir sind also dem veränderten Risiko nicht hilflos ausgesetzt. Aber wir machen Kunden grundsätzlich auf ihre Risiken aufmerksam und helfen ihnen, sie besser zu managen.
Haben Sie ein Beispiel?
Das kann etwa bei einer Industrieanlage eine Dachstruktur sein, die leicht abbrennen könnte. Dann ist die Frage: Ersetzt man diese, oder nimmt man das erhöhte Risiko eines Totalausfalls in Kauf? Wenn man irgendwo mit Flut rechnen muss, ist es dasselbe. Man kann in Massnahmen wie flutdichte Tore investieren, die nicht die Welt kosten, aber Schäden stark vermindern können. Ein Problem entsteht dann, wenn die Schutzmassnahmen ausserhalb der Kontrolle der Unternehmen liegen, wie etwa diesen Sommer im Wallis.
Was genau ist dort passiert?
Der Bund hatte das Geld für einen Damm an der Rhone gesprochen, aber der Kanton hat ihn nicht gebaut. Dort ansässige Aluminiumhersteller wurden von Überflutungen hart getroffen, mit weitreichenden Konsequenzen für die Unternehmen.
Sie haben vorher Florida erwähnt. Ist das Bauen in Risikozonen auch hierzulande ein Problem?
In der Schweiz setzt man auf das System des Naturschadenpools: Alle zahlen eine Standardprämie, egal ob das Haus unter dem rutschenden Hang steht, im Überflutungsgebiet oder in einem Gebiet mit wenig Risiko. Das setzt aber ganz falsche Anreize. In der Schweiz wird in Überschwemmungszonen gebaut, und dann wundert man sich, wenn es eine Überschwemmung gibt. Wenn Sie in Florida ein Holzhaus am Strand bauen, deckt das zumindest keine private Versicherung ab.
Aber selbst dort springt im Katastrophenfall der Staat ein und hilft den Flutopfern.
Ja, denn kein Politiker stellt sich mit Gummistiefeln in ein Katastrophengebiet und sagt: «Pech gehabt!» Aber dadurch bestraft man diejenigen, die Jahr für Jahr für eine teure Versicherung bezahlt haben – wobei die Versicherungsdeckung in so einem Fall oft nicht reicht.
Wie meinen Sie das?
Die Versicherung deckt den Schaden oft nur zu normalen Preisen ab. Aber nach einem grossen Unglück kann der Wiederaufbau teurer sein, weil Infrastruktur fehlt. Und: Sie können Ihr Haus perfekt schützen – wenn die ganze Nachbarschaft überflutet und zerstört wird, hat es doch keinen Wert mehr. Es gab nach dem Sturm in Florida dieses Bild, das zeigte, wie inmitten der Zerstörung ein einzelnes neues Haus noch stand. Wer will denn dort noch wohnen?
Individuen und Unternehmen können versuchen, sich anzupassen – aber ihre Handlungsfähigkeit ist begrenzt. Was denken Sie über den Stand der Klimapolitik?
Was mich daran frustriert, ist: Unsere Wirtschaft wird irgendwann CO2-frei sein, aus dem einfachen Grund, dass Öl und Gas irgendwann zu Ende gehen. Das ist eine Tatsache. Jetzt ist die Frage: Wollen wir technologische Entwicklungen jetzt schon vorantreiben oder erst dann, wenn die fossilen Vorräte aufgebraucht sind? Je nachdem heizen wir den Planeten auf oder nicht. Mit ein wenig politischer Weitsicht würde man sagen: Das ergibt ja keinen Sinn, dass man zuwartet und den Planeten aufheizt, mit allen unkalkulierbaren Folgen.
Warum passiert trotzdem so wenig?
Die Politik hat bisher viel über Verzicht und Einschränkung gesprochen und nie eine positive Vision einer klimaneutralen Welt gezeichnet. Für mich steht gar nirgends geschrieben, dass wir weniger Komfort haben müssen. Wir müssen einfach die Energie aus anderen Quellen beziehen. Das ist machbar. Solarenergie verdrängt heute schon zum Teil Öl und Gas, allein über den Preis. Diesen Prozess müsste man beschleunigen.
Und wie?
Über eine Bepreisung von CO2. Was einen Wert hat, wird in unserer Wirtschaft nicht verschwendet. In der Schweiz hat eine Lenkungsabgabe bei Schwefel im Heizöl und flüchtigen Kohlenwasserstoffen schon sehr gut funktioniert.
Was spricht gegen CO2-Zertifikate, deren Preis nicht fix ist, sondern durch den Markt festgelegt wird?
Solche CO2-Zertifikate können für grosse Unternehmen sinnvoll sein. Für den einzelnen Konsumenten ist es ein aufwendiger Umweg. Das Problem ist, dass die Politik überall in der Wertschöpfungskette lieber ansetzt als beim Konsumenten. Man versucht, die Wähler zu schonen. Die wehren sich, weil man ihnen keine positive Zukunftsvision zeigt, sondern nur Verbote.
In Zeiten der Inflation wäre eine Abgabe auf CO2 voraussichtlich ziemlich unpopulär.
Eine Lenkungsabgabe erhöht die Lebenshaltungskosten im Durchschnitt nicht. Das Geld wird ja zurückverteilt. Die Abgabe hat keinen inflationären Effekt. Natürlich wird das einzelnen Gruppen nicht passen, aber man wird es nie jeder Interessengruppe recht machen können.
Ist so eine Abgabe nicht unfair? Sie trifft einen weniger, wenn man zum Beispiel in Zürich lebt und durch den öV auf das Auto verzichten kann.
Aber in Zürich ist eben die Wohnung entsprechend teurer. Die Marktmechanismen würden schon spielen, wenn man sie liesse, da bin ich völlig optimistisch. Als das Benzin kurzzeitig deutlich über zwei Franken gekostet hat, ist der Flottenverbrauch der Neufahrzeuge gesunken. Das Individuum überlegt sofort: Wenn meine Benzinkosten um so viel steigen, kaufe ich vielleicht doch lieber nicht den SUV.
So eine Massnahme in der Schweiz würde das Klima aber nicht retten.
Sie wollen wissen, wieso man so etwas in der Schweiz machen sollte, auch wenn andere Länder nicht mitziehen? Weil man Technologieführerschaft will. Weil man Innovation, den Veränderungsprozess in Gange bringen will. Stattdessen subventioniert man Elektroautos. Dabei weiss keiner, wie die Mobilität in zwanzig, dreissig Jahren aussieht. Man versteift sich auf das, was man bereits kennt. Mir fehlt da Technologieoffenheit. Eine Lenkungsabgabe wäre technologieoffen. Leider habe ich keine Hoffnung, dass die in der Schweiz noch kommt.
Hat die Politik den Moment dafür verpasst?
Man hat sich an den Klimawandel gewöhnt. «Wärmer ist besser als kälter», hat der SVP-Präsident gesagt. Die Bauern werden sich erst dann beklagen, wenn es nicht nur wärmer wird, sondern wärmer und trockener oder wärmer und nasser . . . Aber im Ernst, solche Aussagen bagatellisieren, was passiert. Tatsächlich verstehen wenige Leute, wie beispielsweise der Wasserhaushalt der Schweiz nach der Gletscherschmelze aussehen wird. Wir sind ein Land, das davon ausgeht, dass es immer genug Wasser gibt. Aber wenn die Gletscher nicht mehr sind, woher kommt dann der konstante Wasserstrom im Sommer?
Liegt das auch daran, dass die Klimamodelle immer auch unsicher in ihren Voraussagen sind?
Man weiss zwar noch nicht, wie genau die Wärmekurve nach oben gehen wird. Aber dass die Gletscher abschmelzen, davon muss man heute ausgehen. Es wird aber wohl noch ein, zwei Generationen dauern. Und damit sind wir bei dem Problem: Weshalb sollte ich heute auf etwas verzichten, wenn das Problem irgendwen in zwei Generationen betrifft? Dazu wird die ältere Generation in der Wählerschaft immer dominanter.
Das klingt ziemlich deprimierend – wie sehen Sie die Zukunft?
Ich bin ein ewiger Optimist. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass wir gesellschaftliche und technologische Antworten finden, um das Gröbste abzuwenden. Die Klimaveränderung findet bereits statt. Das Ziel von maximal 1,5 Grad Erwärmung werden wir verpassen. Aber das grösste Risiko ist, dass man jetzt die Hände in den Schoss legt und sagt: Man kann sowieso nichts mehr machen. Es ist nicht zu spät. Weil schlimmer geht immer.