Der Gigant der französischen Literatur blieb bis anhin im deutschsprachigen Raum eher wenig bekannt. Das ändert sich nun.
Weder Balzac noch Zola, weder Dumas noch Flaubert haben es in Frankreich zu ähnlicher Popularität gebracht wie ihr Landsmann Victor Hugo. Er wurde zum Ideal des modernen Intellektuellen. Als Autor so bekannter Romane wie «Notre-Dame de Paris» («Der Glöckner von Notre-Dame») und «Les misérables» («Die Elenden») war er bereits zu Lebzeiten eine Legende.
Dass die Strasse, an der sich sein letzter Wohnsitz befand, seinen Namen trug, als er noch lebte, schien selbstverständlich. Berühmter konnte ein «Unsterblicher» nicht sein – noch keine vierzig Jahre alt, war er als solcher bereits in die Académie française aufgenommen worden.
Überdies gelang ihm, was nur wenigen vergönnt ist: Der Ruhm blieb ihm über den Tod und die pompöse Beisetzung im Pantheon hinaus treu. Als Emmanuel Macron am 7. Dezember die Eröffnungsrede in der wiederaufgebauten Kathedrale von Paris hielt, erwähnte er neben den Feuerwehrleuten und Handwerkern selbstverständlich auch den Schriftsteller, der Notre-Dame mit seinem vor fast zweihundert Jahren geschriebenen Roman zu literarischem Ruhm verhalf.
Quasimodo, der Glöckner von Notre-Dame, und Esmeralda sind Figuren, die ins kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, egal, ob man das Buch gelesen hat oder nicht. Und auch der Welterfolg von «Les misérables» als Musical und Film zeugt von der Vitalität literarischer Personen wie Gavroche oder Cosette. Lange bevor sie im Kino auf einer Leinwand zu sehen waren, hatte Hugo sie vor dem Auge des Lesers zu virtuellem Leben erweckt.
Hugo forderte das Jahrhundert heraus
Der Brand von Notre-Dame am 15. April 2019 war für die Romanistin Walburga Hülk der entscheidende Anlass, die erste umfassende Biografie Hugos in deutscher Sprache in Angriff zu nehmen, wie sie in ihrem Vorwort schreibt. Ein Unterfangen, das in jeder Hinsicht überzeugt, nicht zuletzt deshalb, weil die Autorin mit grosser Einfühlungsgabe und schier unendlichem Detailwissen Victor Hugos Lebensweg als den eines Mannes nachzeichnet, der nur schwerlich in einen privaten und einen öffentlichen Menschen dividiert werden kann. Denn eines griff ins andere.
Der Mann, der dem Meer und dem das Meer so verwandt war, sah sich als Ozean an Interessen, Bedürfnissen und Talenten. Er forderte, um es pathetisch zu sagen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sein Jahrhundert heraus.
Was er in Angriff nahm, beherrschte er auf Anhieb. Als Autor leistete er in sämtlichen literarischen Gattungen Bedeutendes, zugleich war er ein begnadeter Zeichner. Darüber hinaus wusste er sich als kritischer Geist mit Nachdruck und Umsicht einzumischen, wenn er es für nötig hielt. Dabei nahm er auch beträchtliche Konsequenzen in Kauf, wenn es ihm unerlässlich schien.
Zu dieser schillernden Vielfalt gehörten schliesslich ein promiskuitives Liebesleben und eine jahrzehntelange aussereheliche Beziehung zu Juliette Drouet. Sie folgte ihm ins Exil und wich dort, anders als seine Ehefrau, auch niemals von seiner Seite. Unter einem Dach lebten sie allerdings nur kurz vor ihrem Tod 1883, nachdem Victor Hugo einen Schlaganfall erlitten hatte.
Durchbruch mit einem Skandal
1802 in Besançon geboren, verbrachte Victor Hugo seine Kindheit an wechselnden Wohnorten mit einem stets abwesenden Vater, an den die «ergebenen Söhne» Bittbriefe schreiben mussten, damit die Mutter über die Runden kam. Dem kaum zwanzigjährigen Hugo gelang es, eine von Karl X. ausgesetzte königliche Jahrespension zu erringen, die den ökonomischen Grundstock bildete, auf dem er seine Laufbahn als Lyriker und Dramatiker aufbauen konnte.
Nach seiner Heirat mit Adèle Foucher (1822) erschienen mehrere Gedichtbände, die Beachtung und Käufer fanden. Die in diesen Gedichten manifestierte Sprachmächtigkeit veranlasste noch 1895 Stéphane Mallarmé dazu, über Hugo zu sagen, er sei «der Vers persönlich». Der eigentliche Durchbruch Hugos aber erfolgte auf dem Theater, wo er einen der grössten Skandale der französischen Literaturgeschichte provozierte.
Er war erst achtundzwanzig, als im Februar 1830 sein Theaterstück «Hernani» in der Comédie-Française uraufgeführt wurde. Es war das Jahr, das sich auch politisch hochdramatisch entwickeln und in der Julirevolution gipfeln sollte, die Karl X. hinwegfegte, der durch den sogenannten Bürgerkönig Louis-Philippe ersetzt wurde.
«Hernani» ging der Ruf voraus, die sakrosankten Gesetze der französischen Dramaturgie zu zertrümmern, die seit den Tagen Corneilles und Racines die strenge Einheit von Zeit und Ort verlangten. Sie umzustossen, um nicht nur die Dimensionen der Bühne, sondern auch die der Imagination zu erweitern, hatte Hugo bereits in Buchform gefordert.
Aber erst die Theateraufführung, in der Gegner und Befürworter aufeinandertrafen und erkannten, welche Beschränkungen das Medium Theater mittels der Einbildungskraft eines genialischen Dramatikers überwinden konnte, lieferte den Anlass zur unausweichlichen Saalschlacht. Erwartungsgemäss verriss die Presse das hochromantische Stück als «monströs und überfrachtet», doch vom Publikum wurde dieser Abend als befreiendes Abschneiden alter Zöpfe gefeiert.
Dichter wie Théophile Gautier und Komponisten wie Hector Berlioz bejubelten das Ergebnis. Das Stück wurde vier Monate lang vor ausverkauftem Haus gespielt. Hugos Zeit war endgültig angebrochen. Elf Jahre später wurde er, der die Freiheit der Kunst als «Tochter der politischen Freiheit» bezeichnete, in die Académie aufgenommen.
In der Zwischenzeit hatte er mit der Arbeit an «Notre-Dame» begonnen. Ende August 1830 kaufte er sich Tinte, Schreibfeder und einen Strickmantel, in dem er sich wie in ein Zelt verkroch, aus dem er sich erst in der zweiten Januarwoche 1831 wieder herausschälte. In weniger als fünf Monaten hatte er das fünfhundert Seiten umfassende Werk beendet, das seinen Rang als Romancier begründete.
Walburga Hülk führt in ihrer Biografie den Roman dem Leser lebendig und anschaulich gerade so vor Augen, als wäre sie seine erste kritische Leserin. Überhaupt sind ihre Werkbeschreibungen durchweg Kleinode analytischer Erzählkunst; sie fassen zusammen, was man am liebsten gleich selbst (wieder)lesen möchte.
Zwanzig Jahre im Exil
Nicht Émile Zola war es übrigens, der mit seinem «J’accuse» das Bild des Schriftstellers schuf, der den Elfenbeinturm verliess, sondern lange vor ihm Victor Hugo. Ein halbes Jahrhundert bevor sich Zola 1898 für den zu Unrecht verurteilten Alfred Dreyfus und gegen den erstarkenden Antisemitismus einsetzte, hatte sich Hugo in Reden und international verbreiteten Artikeln insbesondere für die allgemeine Bildung und für Frauenrechte, aber auch gegen die Sklaverei und die Todesstrafe ausgesprochen.
Seine flammenden Einlassungen wurden, wenn auch nicht befolgt, so doch gehört. Ebenso sein pamphletistisches «work in progress» «Napoléon le petit», in dem er (in ständig erweiterten Auflagen) gegen den ihm verhassten Mann agitierte, dem er seinen Exodus aus Frankreich zuzuschreiben hatte: Napoleon III., der sich 1851 an die Macht geputscht hatte, um sich später zum (ungekrönten) Kaiser zu erklären.
Seinetwegen verbrachte Hugo zwanzig Jahre im Exil auf den Kanalinseln – die meiste Zeit auf Guernsey, wo er sich sein Traumhaus Hauteville House schuf, das noch heute zu besichtigen ist: ein kunsthandwerkliches Feenreich ausgelassener Phantasie, das er auch nach dem Sturz des letzten französischen Kaisers wegen des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 als sein eigentliches Heim betrachtete. Auch nach seiner triumphalen Rückkehr nach Paris kam er immer wieder hierher zurück.
Hier nahm es der Dichter mit der Natur auf. Den Blick hatte er von seinem hoch gelegenen Arbeitszimmer stets auf das bewegte Meer gerichtet. Unter dem Titel «Océan» erschienen in der Folge seine «Choses vues» – Beobachtungen aller Art aus vielen Jahrzehnten, die zu lesen sich heute noch lohnt, umso mehr, als eine überaus gelungene deutsche Übersetzung seit kurzem vorliegt. Hier hatte er nach dem Unfalltod seiner Tochter Léopoldine auch an spiritistischen Sitzungen teilgenommen, bei denen ihm nicht nur die geliebte Tochter, sondern auch andere Verstorbene wie etwa Shakespeare erschienen.
Hugo war ein politischer Mensch durch und durch. Zurückhaltung war ihm ebenso fremd wie in der Literatur die kleine Form – selbst in der Lyrik war er eher raumgreifend als minimalistisch. Die letzten Worte, die er vor seinem Tod niederschrieb, lauteten: «Lieben heisst Handeln.» Dieser Maxime ist zweifellos auch Walburga Hülk gefolgt, indem sie die biografische Lücke füllte, die in Deutschland klaffte, wo Hugo lediglich der Name eines berühmten Autors war. Nun können wir auch einen umfassenden Blick auf sein Leben und all jene Werke werfen, die hierzulande unbekannt geblieben sind.
Walburga Hülk: Victor Hugo. Jahrhundertmensch. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024. 500 S., Fr. 53.90.