Kaum ein Stück Sportausrüstung verursacht so viele Beschwerden wie ein schlechter BH. Das schränkt die Leistungsfähigkeit der Athletinnen ein. Ein Schweizer Startup will das ändern.
Wunde Haut von Nähten, Brustschmerzen, Verspannungen, Rücken- und Nackenschmerzen oder eine eingeschränkte Atmung: Mit all diesen Beschwerden kämpfen Sportlerinnen, wenn der Sport-BH seine Aufgabe nicht erfüllt. Zudem kann er Schäden im Bindegewebe der Brust verursachen. Der Körper muss das Schwingen der Brüste während der Bewegung kompensieren, was zu kürzeren Schritten oder veränderten Gelenkbewegungen führen kann.
Wenn es um die Ausrüstung von Athletinnen geht, wird der BH trotzdem kaum je thematisiert. Dabei haben Forschende der Universität Memphis herausgefunden, dass ein guter Sport-BH die Leistung von Sportlerinnen um sieben Prozent steigern und das Verletzungsrisiko senken kann.
Probleme mit dem starren Unterbrustband
Olivia Roth, U-19-Weltmeisterin im Rudern, hat mit unpassenden Sport-BH schlechte Erfahrungen gemacht. Für sie ist das oft starre und sehr enge Unterbrustband, das die Brüste von unten stützen soll, ein Problem. «Es hat meine Atemfreiheit eingeschränkt», sagt die 20-Jährige. Die starke Bewegung der Arme beim Rudern führte zudem zu Scheuerstellen und offenen Wunden. «Diese sind sehr schmerzhaft und heilten manchmal fast nicht mehr ab, wenn wir viel auf dem Wasser waren», sagt Roth.
Beim Kauf des BH könne man nicht merken, ob er später zu starker Reibung führe. Das zeige sich erst im Einsatz. Im Winter verzichtete die Spitzenathletin darum häufig darauf, unter zwei Langarmshirts noch einen Sport-BH zu tragen. «Im Sommer fühlte ich mich allein mit dem Einteiler aus dünnem Stoff aber zu wenig bekleidet.» Sie habe etliche BH ausprobiert – auch von bekannten Sportmarken. «Aber die waren auch nicht besser», sagt Roth.
Derzeit testet Olivia Roth, die Ende August in Kanada an der U-23-Weltmeisterschaft startet, den Sport-BH des Schweizer Startups Swijin. Dessen Gründerin Claudia Glass hat sich zum Ziel gesetzt, das perfekte Produkt für alle Athletinnen zu entwickeln und ihnen damit zu mehr Komfort und mehr Leistung zu verhelfen.
Mit diesem Ziel initiierte Glass die Sport-BH-Forschung in der Schweiz. Die Idee kam der ehemaligen Gymnasiallehrerin im Jahr 2020 in den Ferien. Sie betreibt Swimrun, eine noch junge Sportart, bei der die Athletinnen und Athleten über eine längere Strecke laufen und schwimmen. Dabei gibt es mehrere Schwimm- und Laufphasen, die Teilnehmenden wechseln zwischen den Disziplinen ihre Kleidung nicht. Sie rennen im Neoprenanzug und schwimmen mit Laufschuhen.
Als Glass in den Ferien am Meer joggte, entschied sie sich spontan, ins Wasser zu springen. Als sie wieder herauskam, bemerkte sie, dass ihr Sport-BH schlecht trocknete und zum Weiterrennen kaum mehr zu gebrauchen war. Ausserdem war der Schnitt des Kleidungsstücks für die Kraulbewegungen beim Schwimmen ungeeignet. Sie suchte daraufhin nach einem Hybrid-BH, der sich sowohl zum Schwimmen als auch zum Laufen eignet, der schnell trocknet, keine scheuernden Nähte hat und auch im nassen Zustand seine stützenden Eigenschaften nicht verliert. Doch ihre Suche blieb erfolglos.
Also machte sie sich selbst daran, einen passenden BH zu entwickeln. Im Jahr 2021 kündigte sie ihre Stelle am Gymnasium und widmete sich mit der Gründung ihres Startups Swijin ganz ihrer Geschäftsidee.
Drei Amerikanerinnen leisteten Pionierarbeit
Erfunden wurde der Sport-BH 1977 während der Fitnesswelle von drei Frauen in den USA: Hinda Miller, Lisa Lindahl und Polly Smith. Die Geschichte der drei Erfinderinnen ist heute im Archiv des Smithsonian’s National Museum of American History dokumentiert. Die Frauen begannen während des Jogging-Booms in den 1970er Jahren auch mit dem Laufen. Doch schnell stellten sie fest, dass das Springen der Brüste beim Joggen schmerzte. Vergeblich suchten sie nach einem BH, der das verhindert.
Schliesslich kam ihnen beim Betrachten eines Suspensoriums für Männer, das Penis und Hodensack beim Sport stützt, die Idee, etwas Ähnliches für Brüste zu nähen. Zunächst probierten sie das Kleidungsstück selbst aus und stellten fest, dass ihnen das Joggen mit einem Sport-BH noch viel mehr Spass macht.
Miller, Lindahl und Smith entwickelten den BH weiter und schafften es, ihren «Jogbra» auf den Sportartikelmarkt zu bringen. Denn bis dahin wurden BH nur in der Unterwäscheabteilung verkauft. «Wir waren eines der ersten Sportartikelunternehmen in Frauenhand», sagt Linda Lindahl in einem Video der National Inventors Hall of Fame. Bis heute gibt es jedoch keine einheitlichen Kriterien, die ein BH erfüllen muss, um als «Sport-BH» verkauft zu werden.
Für ihre Idee eines Hybrid-BH recherchierte Claudia Glass zunächst zu verschiedenen Textilien und deren Eigenschaften. Schnell stiess sie dabei auf die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa), die in ihrem Labor für biomimetische Membranen und Textilien Materialien und Systeme entwickelt, die die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers optimieren sollen.
Glass schilderte Simon Annaheim, dem Leiter der Forschungsgruppe Material-Körper-Interaktionen, ihre Idee in einer E-Mail. Seine Reaktion darauf war positiv: «Die Idee passte voll zu unserem Forschungsschwerpunkt», sagte Annaheim. Das Projekt wurde dann von der Schweizerischen Agentur für Innovationsförderung Innosuisse gefördert.
Um die Herausforderungen der Athletinnen mit dem Sport-BH zu verstehen, führte Glass eine Umfrage unter Spitzenathletinnen durch. Sie wollte herausfinden, welche Probleme in welchen Sportarten und bei welcher Brustgrösse im Vordergrund stehen. So erhielt Glass über dreissig Rückmeldungen, die sie in die Entwicklung ihres BH einfliessen liess.
Ein Manikin hilft bei der Entwicklung
Im Labor der Empa ging es zunächst darum, geeignete Methoden zu finden, mit denen die Forschungsfragen beantwortet werden sollten. Zum einen wurde die Trocknung des Kleidungsstücks gemessen. Zuerst filmten Annaheim und sein Team dafür eine Schaufensterpuppe, die einen nassen Sport-BH trug, mit einer Infrarotkamera. So konnten sie die Trocknungszeit messen und feststellen, in welchen Bereichen der Sport-BH wie schnell abtrocknet.
«Aber eine Schaufensterpuppe entspricht nicht dem menschlichen Körper, weil dieser ja selbst Wärme abgibt und damit auch die Trocknung beeinflusst», sagt Annaheim. Sein Team entwickelte daher verschiedene Methoden, um das Trocknungsverhalten zu untersuchen. Unter anderem einen Trocknungszylinder, der die menschliche Wärmeabgabe imitiert. Damit wurden verschiedene Materialien auf ihre Trocknungseigenschaften getestet.
Ausserdem mussten die Forschenden die Stützkraft von Sport-BH messbar machen. Ein sogenanntes Manikin, sprich eine Puppe, mit der menschliche Gehbewegungen nachgestellt werden können, gab es im Labor bereits. Mit ihm wurden die Tragegurte von Rucksäcken getestet. Allerdings war das Manikin einem männlichen Oberkörper nachempfunden und hatte keine Brüste. Die Puppe mit Brüsten «nachzurüsten», erwies sich als schwierig.
Deshalb entstand schliesslich das Manikin Nici, das über einen weiblichen Oberkörper verfügt und mit Brustprothesen in unterschiedlichen Grössen ausgestattet werden kann. Zudem kann es verschiedene Lauftempi simulieren. Sensoren messen die Bewegung der Brüste im Raum sowie den Druck an Trägern und Unterbrustband. Die Ergebnisse wurden mit Tests von echten Läuferinnen abgeglichen. «Am Schluss von all diesen Untersuchungen haben wir eine Art Rezept entwickelt, worauf es bei der Konstruktion eines Sport-BH ankommt», sagt Annaheim.
Ein Bio-Polyamid ist das perfekte Material
Um die Eigenschaften des BH zu verbessern, untersuchten Glass und die Forschenden auch verschiedene auf dem Markt erhältliche Stoffe und Garne. Dabei stiessen sie auf einen Stoff, der aus einem Bio-Polyamid besteht, das aus Rizinusöl gewonnen wird. Dieser hat verschiedene Vorteile: Er ist sehr dünn und trotzdem formstabil, fühlt sich seidig an, trocknet sehr schnell und reguliert die Temperatur. Zudem besteht er aus einem nachwachsenden Rohstoff und wird in Europa produziert. Mit diesem Stoff endete Glass’ Suche nach dem passenden Material.
Glass und ihr Team entwarfen den Sport-BH so, dass er viel Halt bietet, ohne dass er dafür ein strammes Unterbrustband benötigen würde. Die vier Träger führen über die Schultern und kreuzen sich am Rücken, was die Last besser verteilt. Ausserdem besteht das Kleidungsstück aus zwei Lagen und bildet so eine Tasche, in der zum Beispiel ein Sportgel oder eine Schwimmkappe Platz findet. Der BH hat keine Nähte, weil die Stoffteile mit Ultraschall verklebt werden. All diese Eigenschaften sollen Sportlerinnen helfen, ihre volle Leistungsfähigkeit auszuschöpfen – unabhängig von ihrer Brustgrösse.
Die Ruderin Olivia Roth hat fast alle anderen Sport-BH entsorgt. «Das Thema ist für uns Athletinnen eigentlich sehr wichtig, wurde bisher aber kaum beachtet», sagt sie.
Das Innosuisse-Projekt ist mittlerweile abgeschlossen. Doch die Forschenden möchten weitermachen. Glass und die Forschenden der Empa haben ihre Resultate mit Douglas Powell, dem führenden Biomechanikforscher aus den USA, geteilt, der sich seit einigen Jahren mit dem Einfluss von Sport-BH auf die Sportbiomechanik beschäftigt. Powell reiste für einen Austausch in die Schweiz. «Wir versuchen derzeit eine Forschungskollaboration aufzugleisen», sagt Annaheim. Denn die Forschung in Sachen Sport-BH stecke, verglichen mit jener bei anderen Sportartikeln, noch in den Kinderschuhen.