Die Erbschaftssteuerinitiative der Jungsozialisten schade mehr, als sie nütze. Eine moderate Nachlasssteuer hingegen könnte helfen, die AHV zu finanzieren. Der Volkswirtschaftsprofessor sagt, wann Erben problematisch wird, und erklärt, wie die Schuldenbremse gelockert werden könnte.
Herr Brülhart, in der Schweiz ist jeder zweite Vermögensfranken geerbt, gleichzeitig erbt jeder dritte Schweizer gar nichts. Wird diese Ungleichheit zum Problem?
Für eine ausgeglichene Verteilung der materiellen Lebensstandards sind vor allem die Einkommen wichtig, und hier steht die Schweiz im internationalen Vergleich gut da. Die Vermögensverteilung hingegen ist aus rein ökonomischer Sicht kein grosses Problem, aus gesellschaftspolitischem Blickwinkel schon eher.
Inwiefern?
In den USA kann man derzeit gut beobachten, was passiert, wenn sich wenige Vermögende viel Einfluss sichern. Die Exzesse von Trumps oligarchischer Elite in der Zentralregierung liefern dafür täglichen Anschauungsunterricht.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz sind wir weit von solchen Entwicklungen entfernt, vor allem, weil wir keine so zentralisierte Machtstruktur haben. Allerdings hat die Tendenz zur Vermögenskonzentration auch hier zugenommen. Vor zwanzig Jahren habe ich angefangen, die Zahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung zu verfolgen, und in dieser Zeit ist die Vermögenskonzentration mit zwei Ausnahmen in jedem Jahr gestiegen. Das reichste Prozent der Bevölkerung hält heute 45 Prozent des steuerbaren Vermögens.
Was hat zu dieser Konzentration geführt? Ziehen mehr Superreiche in die Schweiz?
Auf den Zuzug vermögender Personen aus dem Ausland, die ja in der Regel pauschal besteuert werden, kann man bloss etwa einen Sechstel dieser Entwicklung zurückführen. Die fortschreitende Vermögenskonzentration ist hauptsächlich hausgemacht. Die Reichen werden reicher.
Und welchen Einfluss haben Erbschaften?
Kurzfristig wirken sie der Konzentration entgegen. Sie bewirken eine Verteilung des Vermögens, weil es in der Regel auf mehrere Erben aufgeteilt wird. Die im Gini-Index abgebildete Ungleichheit wäre höher, wenn das Geld beim Erblasser bliebe.
Im ersten Moment erstaunt das.
In der Tat, aber es handelt sich dabei nur um eine Momentaufnahme. Für eine umfassende Betrachtung muss man verfolgen, was nach dem Erbgang mit dem erhaltenen Vermögen passiert. Eine sehr sorgfältige Studie aus Schweden zeigt, dass sich vor allem kleinere Erbschaften bereits nach zehn Jahren verflüchtigen.
Weil die Menschen das Geld ausgeben?
Offenbar. Die Forscher in Schweden konnten nachweisen, dass sich viele Erben mit dem Geld ein neues Auto kauften, ihr Arbeitspensum reduzierten oder das Geld anderweitig ausgaben. Grosse Erbschaften hingegen wurden in der Regel nicht konsumiert, sondern weiter geäufnet. Dies vor allem dann, wenn Unternehmensanteile vererbt wurden. Mittelfristig führt das dazu, dass grosse Vermögen weiter anwachsen. Somit nimmt die Vermögenskonzentration durch Erbschaften mit den Jahren eben doch zu.
Der Grossteil der Erbschaften erfolgt innerhalb der älteren Bevölkerung. Welche Folgen hat das volkswirtschaftlich?
Das mittlere Alter der Schweizer Erben liegt mittlerweile bei 60 Jahren. Je höher die Lebenserwartung der Erblasser, desto älter ist auch die Generation der Erben. Stirbt jemand mit 90 Jahren, stehen dessen Kinder in der Regel kurz vor der Pensionierung.
Und was passiert mit dem vererbten Vermögen im Alter? Wird es investiert, oder gehen die Menschen früher in Pension?
Die Daten zeigen deutlich, dass Erbschaften das Arbeitsangebot verringern. Insbesondere Personen über 50 Jahre ermöglicht eine Erbschaft oft eine vorzeitige Pensionierung. Da über die Hälfte der Erbschaften an Menschen zwischen 50 und 65 fliessen, wirken sie sich insgesamt negativ auf die Arbeitsbereitschaft und letztlich auf das Bruttoinlandprodukt aus.
Würde es aus volkswirtschaftlicher Sicht Sinn ergeben, das Vermögen früher zu vererben oder die Enkel zu bedenken?
Das untersuchen wir derzeit. Es zeigt sich aber, dass jüngere Erben ihr Arbeitsangebot in der Regel ebenfalls verringern. Die Erwartung, dass eine frühzeitige Erbschaft hauptsächlich dazu führt, dass sich die Menschen selbständig machen oder eine Weiterbildung beginnen, bestätigt sich statistisch gesehen nicht.
In der Schweiz wachsen die vererbten Vermögen heute schneller als die Einkommen, dennoch sinken die Erbschaftssteuern. Ist das nachhaltig?
Ökonomisch gesehen ist diese Entwicklung schwer nachvollziehbar. Seit 1990 wurden die kantonalen Erbschaftssteuern deutlich reduziert – von durchschnittlich 4,3 Rappen pro Franken auf aktuell nur noch 1,6 Rappen pro Franken.
Wie kam es dazu?
Als Hauptgrund wurde primär der Steuerwettbewerb zwischen den Kantonen genannt. Allerdings lässt sich nachweisen, dass die Mobilität der Steuerpflichtigen nicht so gross ist, wie oft angenommen wurde. Die Angst, dass reiche Menschen im fortgeschrittenen Alter wegen Erbschaftssteuern im einstelligen Bereich scharenweise wegziehen, war unbegründet. Die Steuersenkungen gingen wohl eher auf das Lobbying der betroffenen Kreise zurück.
Welche Form der Erbschaftssteuer wäre Ihrer Meinung nach gerecht?
Aus liberaler Sicht schiene mir eine Nachlasssteuer, die direkt am Gesamtvermögen ansetzt, gerechter als das aktuelle Modell. Gerade kinderlose Erblasser werden heute deutlich benachteiligt. Im Parlament gab es kürzlich den Vorschlag, Nachlassbestandteile über 5 Millionen Franken mit 10 Prozent zu besteuern. Ein solcher Ansatz würde ungefähr die Einnahmen kompensieren, die wegen der Abschaffung der kantonalen Erbschaftssteuern in den vergangenen drei Jahrzehnten weggefallen sind.
Die Erbschaftssteuerinitiative der Jungsozialisten fordert eine 50-prozentige Steuer auf Nachlässe über 50 Millionen Franken. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
Eine derart hohe Besteuerung birgt tatsächlich das Risiko, dass viele vermögende Personen abwandern, so dass dem Staat unter dem Strich keine Mehreinnahmen bleiben. Studien aus der Schweiz und den USA bestätigen, dass hochvermögende ältere Personen durchaus bereit sind umzuziehen, wenn Erbschaftssteuern stark ansteigen. Bei der Initiative der Juso halte ich diese Gefahr für real. Es geht ja nicht wie seinerzeit in den Kantonen um Abgaben im einstelligen Bereich, sondern um bis zu zehnmal so hohe Steuersätze wie in den 1990er Jahren.
Können Sie den Schaden beziffern?
Meine Berechnungen ergeben, dass zwischen 49 und 74 Prozent der betroffenen Erblasser wegziehen dürften. Dies wiederum würde dazu führen, dass bis zu 93 Prozent der betroffenen Vermögen wegziehen oder gar nicht erst zuziehen würden. Aus Sicht der Staatsfinanzen könnte dieser Ansatz daher sogar kontraproduktiv sein.
In der zuständigen Kommission des Nationalrats haben Sie die steuerlichen Folgen der Juso-Erbschaftssteuer auf «zwischen minus 0,7 und plus 0,3 Milliarden Franken» beziffert. Das ist ja fast ein Nullsummenspiel.
Im besten Fall ergäbe sich gemäss meinen Schätzungen ein Einnahmenplus von ein paar hundert Millionen. Aber ein Netto-Einnahmenausfall ist mindestens so wahrscheinlich.
Wie viele Personen wären eigentlich betroffen?
Die offiziellen Schätzungen sprechen von 2500 potenziell Betroffenen. Das ist jedoch eine zu breite Auslegung. Ein Nachlass von 55 Millionen Franken zum Beispiel würde ja nur zu 4,5 Prozent besteuert. Betroffen wären primär die 300 Familien, die es jährlich in die Reichsten-Liste der «Bilanz» schaffen. Das sind Familien mit Vermögen über 100 Millionen, deren Erben Steuersätze von über 25 Prozent zu gewärtigen hätten. Das trifft auf ungefähr 0,1 Promille aller Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu.
Wie gross ist der Wert der betroffenen Nachlässe?
Gemäss meinen Schätzungen zwischen 7 und 12 Milliarden Franken. Würden die betroffenen Steuerzahler nicht reagieren, würde eine 50-prozentige Nachlasssteuer Einnahmen von 2,5 bis 5 Milliarden Franken generieren. Aber das ist eine rein akademische Rechnung, die Betroffenen würden garantiert reagieren.
Umgekehrt heisst das aber, dass eine moderate Erbschaftssteuer durchaus helfen könnte, die Finanzprobleme des Bundes zu lindern.
Meines Erachtens ja. Eine moderate Erbschaftssteuer scheint mir sowohl aus Gründen der Effizienz als auch aus Gründen der Verteilgerechtigkeit sinnvoller als weitere Erhöhungen der Mehrwertsteuer oder der Sozialabgaben. Im Gegensatz zu anderen Steuern werden eben gerade nicht jene bestraft, die viel leisten.
Und wofür soll das Geld ausgegeben werden?
Ich betrachte Erbschaftssteuern nicht als Selbstzweck, sondern als ein im Vergleich zu den meisten anderen Steuerarten kleineres Übel. Die Einnahmen sollten ein demokratisch bestätigtes gesellschaftliches Bedürfnis abdecken, etwa die Finanzierung der AHV. Eine moderate Erbschaftssteuer schiene mir in diesem Kontext als ergänzende Finanzierungsquelle geeignet. Dies unter anderem, weil die Jungen kaum belangt werden und unter den Älteren auch nur die Bessergestellten.
Um finanziellen Spielraum zu gewinnen, schlagen vor allem linke Politiker eine Lockerung der Schuldenbremse vor. Was halten Sie davon?
Die Idee hinter der Schuldenbremse ist gut. Beim staatlichen Schuldenmachen ist Vorsicht geboten. Aber unsere Schuldenbremse gibt in ihrer aktuellen Ausgestaltung vor, dass der Bund im Durchschnitt einen Überschuss einfahren muss. Damit haben wir weltweit bei weitem die strengste Regel – nicht nur eine Bremse, sondern einen eigentlichen «Schulden-Rückwärtsgang».
Was schlagen Sie vor?
Der Verfassungsartikel wurde mit 85 Prozent gutgeheissen. Aber auf Gesetzesebene gäbe es Handlungsspielraum. Der heikle Punkt ist die sogenannte «asymmetrische Bewirtschaftung des Ausgleichskontos». Jedes Mal, wenn die Staatsrechnung einen Überschuss aufweist, muss dieser automatisch für den Schuldenabbau verwendet werden. Allerdings bleiben in den meisten Jahren Kreditreste stehen, die zu solchen Überschüssen führen. Das ist normal bei einem gut geführten Staatshaushalt. De facto führt der gesetzliche Teil der Schuldenbremse somit dazu, dass die Schulden nicht, wie das die Verfassung vorsieht, nur konstant bleiben, sondern sogar abgebaut werden.
Der Bundesrat hatte ein weniger strenges Modell vorgeschlagen. Es wurde dann aber im Parlament verschärft.
Mein Vorschlag wäre, eine Art Korrekturfaktor einzubauen, der Kreditreste bei der Festlegung der maximalen Ausgaben berücksichtigt. Damit hätte der Bund zusätzlichen Spielraum von rund einer Milliarde Franken im Jahr. Er würde dasselbe machen wie eine Fluggesellschaft, die ihre Flieger regelmässig leicht überbucht, weil sie weiss, dass so und so viele Prozent der Fluggäste nicht am Gate erscheinen. Damit wäre die Schuldenbremse immer noch verfassungskonform, aber der Bund hätte etwas mehr Marge.
Bürgerliche Kritiker wehren sich gegen eine solche Lockerung. Zudem sind die Schulden wegen Corona gerade wieder gestiegen.
Bisher habe ich von bürgerlichen Finanzpolitikern zum Korrekturfaktor-Vorschlag gehört: «Elegante Idee, aber wehret den Anfängen.» Angesichts des enormen Rückhalts der Schuldenbremse scheint mir dieses Risiko allerdings überschaubar. Zudem könnte man die zusätzliche Milliarde ja beispielsweise für die Armee oder als Gegenfinanzierung der Individualbesteuerung einsetzen. Eine solche Anpassung brächte Gesetz und Verfassung wieder in Einklang. Es ginge ja nicht um eine einschneidende Lockerung wie in Deutschland, sondern um eine kleine Justierung.
Und was sagen Sie denen, die mit einer Lockerung der Schuldenbremse die 13. AHV-Rente oder die höheren Renten für Ehepaare finanzieren wollen?
Schulden sollten vorrangig für Investitionen oder zur Stabilisierung in konjunkturell schwierigen Zeiten eingesetzt werden. Für laufende Transferausgaben wie die AHV sollte der Staat keine Schulden aufnehmen.
Marius Brülhart ist ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg arbeitete er ein Jahr als Ökonom bei der UBS.