Die Personenfreizügigkeit gilt in zwei Richtungen. Auch Schweizer können unkompliziert in die EU auswandern. Beansprucht wird dies aber selten. Auf elf Zuwanderer kommt nur ein Auswanderer.
Die anhaltend hohe Zuwanderung in die Schweiz sorgt für Kontroversen. Wie viel ist zu viel?, lautet die Frage. Kritiker fordern Massnahmen zur Eindämmung eines Bevölkerungswachstums, das vor allem durch die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU und der Efta angetrieben wird. In Brüssel zeigt man bis jetzt aber wenig Bereitschaft, der Schweiz in diesem Punkt entgegenzukommen, etwa in Form einer griffigen Schutzklausel.
Die PFZ ist keine Einbahnstrasse
Im vergangenen Jahr wanderten netto 64 000 Staatsangehörige aus EU- und Efta-Staaten in die Schweiz ein. Seit Inkrafttreten der PFZ im Jahr 2002 war die Nettozuwanderung nur im Jahr 2008 noch deutlich höher. Von den Zugewanderten stammten 23 Prozent aus Deutschland, 16 Prozent aus Frankreich und 15 Prozent aus Italien. Die drei grossen Nachbarstaaten sind seit Jahren die wichtigsten Herkunftsländer bei der Arbeitsmigration in die Schweiz.
Was in der Debatte um die PFZ oft vergessengeht: Die Freizügigkeit ist keine Einbahnstrasse, sie gilt in beide Richtungen. Das Abkommen eröffnet also auch Schweizer Staatsangehörigen einen erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt der EU. Dies hat auch der Bundesrat 2019 in seiner Botschaft zur Begrenzungsinitiative betont: «Dank dem Freizügigkeitsabkommen besitzen Schweizerinnen und Schweizer einen Rechtsanspruch, in der EU leben und arbeiten zu dürfen.»
Doch in welchem Mass wird dieses Gegenrecht überhaupt in Anspruch genommen? Wie viele Schweizerinnen und Schweizer nutzen die PFZ, um in einem EU- oder Efta-Staat zu arbeiten und zu leben? So einfach die Frage klingt, so schwierig ist sie zu beantworten. Denn in Schweizer Statistiken wird zwar detailliert aufgelistet, wie viele Ausländer aus welchen Staaten in die Schweiz ziehen. Wie viele Schweizer ihr Glück im EU-Ausland suchen, wird demgegenüber nur rudimentär erfasst.
Der Perspektivenwechsel ist aus verschiedenen Gründen schwierig. Erfasst werden in der Auslandschweizer-Statistik nur jene Schweizer, die in der Heimat keinen festen Wohnsitz mehr haben und sich bei einer Schweizer Vertretung im Ausland (Botschaft oder Konsulat) angemeldet haben. Wer sich jedoch nicht anmeldet, bleibt in der Statistik ebenso unsichtbar wie jene, die ihren Wohnsitz in der Schweiz nicht aufgeben und sporadisch dorthin zurückkehren.
Ein Fünftel der Auswanderer sind Schweizer
Einige Orientierungspunkte gibt es dennoch. So lebten Ende 2023 rund 466 000 Schweizer in der EU (inklusive Efta, also Island, Norwegen und Liechtenstein). Das entspricht 57 Prozent aller Auslandschweizer. Was sich bei der Zuwanderung in die Schweiz zeigt, gilt dabei auch bei den im Ausland lebenden Schweizern: Ins Gewicht fallen vor allem die drei grossen Nachbarstaaten. Klar am meisten Auslandschweizer leben in Frankreich (209 000), darauf folgen Deutschland (100 000) und Italien (52 000).
Inwieweit hat die Einführung der Personenfreizügigkeit im Juni 2002 diese Dynamik verändert? Hier wird die Datenlage lückenhaft. Denn nach Zielstaaten differenzierte Auswanderungszahlen liegen erst seit 2011 vor. Was sie zeigen: Die Auswanderung von Schweizern in den EU-Raum macht keine grossen Sprünge. Sie pendelt seit 2011 um ein Niveau von knapp 15 000 Personen. Das entspricht rund einem Fünftel der gesamten Auswanderung (Schweizer und Ausländer) aus der Schweiz in die EU.
Allerdings handelt es sich bei diesen Daten um Bruttowerte. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen, wie das Beispiel Deutschland zeigt: So wanderten 2023 zwar 2608 Schweizer nach Deutschland aus, gleichzeitig kehrten aber 2241 Schweizer aus Deutschland in ihre Heimat zurück.
Netto sind also nur 367 Schweizer nach Deutschland ausgewandert – eine sehr geringe Zahl im Vergleich zu den netto 14 500 Deutschen, die 2023 in die Schweiz kamen.
Elf Zuwanderer, ein Auswanderer
Betrachtet man die ganze EU und Efta, so kehren jährlich rund 10 000 Schweizer aus diesen Ländern in ihr Herkunftsland zurück. Diese Zahl ist in den letzten Jahren relativ konstant geblieben. Verrechnet man sie mit der Schweizer Auswanderung in die EU/Efta, so schrumpft letztere von brutto 15 000 pro Jahr auf netto noch zirka 5000. Im letzten Jahr waren es 5800 – auch dies eine kleine Zahl im Vergleich zu den netto 64 000 EU- und Efta-Bürgern, die in die Schweiz eingewandert sind.
Ein Zwischenfazit lautet: Auch wenn die PFZ in beide Richtungen wirkt, ist die Anziehungskraft eher einseitig. Eine hohe Zahl von EU-Bürgern zieht es in die Schweiz, eine viel kleinere Zahl von Schweizern in die EU.
Im vergangenen Jahr lag das Verhältnis bei rund 11 zu 1. Auf netto elf EU-Zuwanderer in die Schweiz kam also ein Schweizer, der in die EU auswanderte. Das ist insofern wenig überraschend, als die im europäischen Umland niedrigeren Löhne wenig anziehend wirken.
Deutschland zur Arbeit, Italien zur Pension
Doch sind die Löhne überhaupt relevant für Schweizer Auswanderer? Ziehen sie also in die EU, um dort zu arbeiten? Leider gibt es zu dieser Frage kaum Daten. Theoretisch kommen für Schweizer Auswanderer vor allem drei Motive infrage: erstens der Antritt einer Stelle oder eines Studiums; zweitens die Rückkehr ins Herkunftsland, nachdem man von dort in die Schweiz ausgewandert ist und den Schweizer Pass erhalten hat; und drittens das Ziel, den Lebensabend im Ausland zu verbringen.
Ein Blick auf das Alter der Auswanderer liefert Hinweise, ob es Schweizer eher zur Arbeit oder zur Rente ins Ausland zieht. Dabei zeigt sich: In den beiden wichtigsten Auswandererländern Frankreich und Deutschland bestehen die Schweizer Auswanderer mehrheitlich aus Personen zwischen 20 und 59 Jahren; im vergangenen Jahr lag deren Anteil in beiden Ländern bei rund zwei Dritteln. Diese Auswanderer dürften im EU-Ausland wohl mehrheitlich einer bezahlten Arbeit nachgehen.
Etwas anders sieht es in den südlicheren EU-Ländern aus, zum Beispiel in Italien. Dort waren im vergangenen Jahr nur 53 Prozent der Schweizer Auswanderer im Alter zwischen 20 und 59 Jahren. In Portugal, seit Jahren auch aus steuerlichen Gründen ein beliebtes Ziel für Rentner aus dem Ausland, waren es gar nur 42 Prozent. In diesen Ländern dürfte bei den Schweizer Auswanderern das Motiv, den Lebensabend am neuen Wohnort zu verbringen, stärker im Vordergrund stehen.
Drei Viertel haben mehrere Pässe
Bei den Auswanderern stellt sich eine weitere Frage: Wie viele von ihnen sind Rückkehrer, also Personen, die einst in die Schweiz ausgewandert sind und nun mit Schweizer Pass in ihr Herkunftsland zurückkehren?
Die verfügbaren Daten legen den Schluss nahe, dass der Anteil der Rückkehrer sehr klein ist. So lässt sich etwa zeigen, dass nur 15 500 jener Ausländer, die 2012 in der Schweiz lebten, bis einschliesslich 2022 als Schweizer Staatsbürger wieder ausgewandert sind. Im Vergleich zu den 128 500 Schweizern, die in dieser Zeit ausgewandert sind, ist das ein kleiner Wert.
Was auffällt: Nur ein Viertel der in der EU lebenden Schweizer besitzen ausschliesslich die Schweizer Staatsbürgerschaft. Drei Viertel gehören hingegen zur Gruppe der Mehrfachbürger, haben also mehrere Pässe. Besonders hoch ist ihr Anteil in Frankreich (82 Prozent) und Italien (85 Prozent), in Deutschland liegt er bei 67 Prozent. Zum Vergleich: In der Schweiz besitzen nur 36 Prozent der dort lebenden EU- und Efta-Bürger gleichzeitig die Schweizer Staatsbürgerschaft. Bei Franzosen und Italienern sind es knapp die Hälfte, bei Deutschen hingegen weniger als ein Drittel.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Je südlicher die Länder, desto älter die Auswanderer. Und erhält ein Zuwanderer aus dem EU-Raum den Schweizer Pass, kehrt er kaum wieder in sein Herkunftsland zurück. Schweizer zeigen grundsätzlich eine geringe «Auswanderungsneigung», wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in seinem Bericht zum Freizügigkeitsabkommen schreibt. Gemäss Seco ist der Anteil der Schweizer im EU-/EFTA-Raum im Quervergleich besonders klein und wird nur von Norwegen unterboten. Die Personenfreizügigkeit scheint nur wenige Schweizer zur Auswanderung in die EU zu motivieren.