Der Harvard-Professor Edward Glaeser erklärt, weshalb Städte in den 1970er Jahren einen Niedergang erlebten und danach wieder aufstiegen. Die Schweiz hat seiner Ansicht nach Luxusprobleme.
Herr Glaeser, Sie sind ein Verfechter von Städten. Warum ist es besser, in einer Stadt zu leben als auf dem Land?
Natürlich sollen Menschen frei wählen können, wo sie leben wollen. Aber Städte bieten einzigartige Vorteile: Sie fördern den Austausch von Wissen und Ideen, sie sind umweltfreundlicher durch kürzere Wege und kleinere Wohnflächen, und sie sind Zentren für Kultur, Freizeit und Innovation. Städte bereichern das Leben und fördern das Unternehmertum.
Als Stärke von Städten betonen Sie deren Dichte. Doch viele Menschen empfinden hohe Dichte als unangenehm.
Dichte ist entscheidend für Produktivität und Kreativität. Ohne sie gäbe es nicht die Vielfalt an Restaurants oder Unternehmen. Gleichzeitig erfordert Dichte kluge Planung, um Probleme wie Verkehrsstaus oder Kriminalität zu bewältigen. Je wirksamer der Staat, desto besser lassen sich die Nachteile handhaben.
Gibt es einen Punkt, an dem Städte zu dicht und unattraktiv werden?
Dichte reguliert sich oft selbst: Wenn Städte zu dysfunktional werden, ziehen weniger Menschen dorthin. Dennoch bleiben Städte, gerade in ärmeren Regionen, oft die einzige Chance auf ein besseres Leben. Selbst ein schwieriges Leben in einer indischen Grossstadt ist meist besser als die Perspektivenlosigkeit in einem armen Dorf.
In der Schweiz gibt es seit Jahren Diskussionen um Dichtestress, dies vor dem Hintergrund eines starken Bevölkerungswachstums. Was raten Sie?
Bevölkerungswachstum bringt zwar Herausforderungen mit sich, etwa beim Verkehr oder im Wohnungsbereich, doch das sind gewissermassen gute Probleme. Die Schweiz ist offenbar attraktiv – viele andere europäische Länder wären froh darüber. Mit kluger Politik lassen sich diese Probleme lösen. Ein Beispiel ist Singapur: Dort zeigt sich, wie Dichte durch Planung zum Vorteil werden kann.
In der Schweiz will die Mehrheit der Bevölkerung aber nicht zu einem zweiten Singapur werden.
Das muss sie auch nicht. Trotzdem kann man von Singapur lernen, zum Beispiel in Bezug auf den Umgang mit dem Verkehr durch Massnahmen wie Staugebühren, die es dort schon seit 1975 gibt. Auch New York hat davon gelernt und will solche Gebühren bald erheben.
Seit der Pandemie arbeiten viele im Home-Office. Welche Folgen hat das für Städte?
Für die Städte sehe ich keine grosse Gefahr. Das Home-Office birgt aber vor allem für junge Menschen in den Zwanzigern Nachteile: In diesem Alter ist es entscheidend, in der Interaktion von erfahrenen Kollegen zu lernen. Das fehlt, wenn man allein im Starbucks sitzt. Auch emotional entstehen Bindungen im Büro leichter. Studien zeigen, dass Mitarbeiter vor Ort bessere Karriereaussichten haben, weil sie leichter Mentoring und Unterstützung finden.
Junge Leute, die neu auf den Wohnungsmarkt kommen, finden oft nichts Bezahlbares in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Warum sind Wohnungsprobleme in Städten so hartnäckig?
Die hohe Nachfrage nach Wohnraum in funktionierenden Städten trifft auf ein begrenztes Angebot. Gleichzeitig erschweren Regeln und Vorschriften, die von etablierten Gruppen geschaffen werden, den Zuzug neuer Bewohner. Viele Immobilieneigentümer möchten steigende Preise. Massnahmen, die Wohnkosten senken, stossen daher auf Widerstand – ein klassisches Insider-Outsider-Problem.
Dieses Problem gab es aber schon immer. Warum hat sich die Wohnsituation in den letzten Jahrzehnten so verschärft?
Früher wurden Bauprojekte oft schnell umgesetzt, selbst wenn sie ganze Viertel zerstörten. Seit den 1960er Jahren organisieren sich Bürger stärker, um Projekte zu verhindern, die ihr Quartier beeinträchtigen. Oft haben Anwohner ein faktisches Vetorecht, wo sie nur ein Mitspracherecht haben sollten. Das bremst die Stadtentwicklung erheblich.
Lässt sich dieses «Not in my backyard»-Problem aus ökonomischer Sicht lösen?
Ökonomisch betrachtet erleiden Anwohner minimale Verluste im Vergleich zu den Vorteilen, die der Bau grosser Gebäude bringen würde. Eine Lösung wäre, sie finanziell zu entschädigen. Aber das Kernproblem ist eben nicht wirtschaftlich, sondern politisch.
Haben Sie einen politischen Ratschlag?
Der einzige Ort, wo die Verdichtung relativ einfach ist, sind Industriebrachen. Wenn Sie ein ehemaliges Industriegelände oder ein vormals nicht für Wohnzwecke genutztes Gelände haben, dann sollten Sie es von Anfang an massiv aufzonen und sich überlegen, wie Sie etwas Schönes daraus machen können.
In links regierten Städten wie Zürich fordert man mehr Genossenschaftswohnungen und mehr staatlichen Wohnungsbau. Eine gute Idee?
Das hängt davon ab, welche Alternativen es gibt. Wenn ohne Genossenschaften gar nichts gebaut wird, ist dies eine akzeptable Lösung. Doch besser wäre eine grössere Verfügbarkeit günstiger Mietwohnungen für alle statt weniger subventionierter Einheiten, die nur ausgewählten Personen zugänglich sind. Singapur zeigt, dass öffentlich geförderter Wohnbau funktionieren kann, in den USA sind die Erfahrungen mit solchen Kooperativen aber negativ.
Was macht eine gute Stadt aus?
Das ist, als würde man mich nach meinem Lieblingskind fragen. Das beantworte ich ungern. Jede Stadt hat ihre Stärken. Besonders Ostasien – Städte wie Seoul, Tokio oder Singapur – zeigt, wie man Dichte massiv erhöhen und es trotzdem gut funktionieren kann.
Und in den USA?
Funktionale Städte findet man derzeit vor allem im Sonnengürtel, etwa Austin oder Plano in Texas, Raleigh in North Carolina oder Atlanta in Georgia. Diese Städte vereinen qualifizierte Arbeitskräfte und wirtschaftsfreundliche Regeln. Küstenstädte scheitern dagegen oft an restriktiven Vorschriften und veralteter Infrastruktur.
Was hat es mit dem Sonnengürtel auf sich?
Das Klima spielt eine überraschende Rolle. Wärmere Regionen haben in den USA oft weniger Bauvorschriften und sind weniger gewerkschaftsfreundlich. Zudem erleichtert das Wetter die Fertigung von Gütern und Bauaktivitäten.
Obwohl Sie Städte lieben, leben Sie nun in einem Vorort von Boston. Weshalb?
Ich bin nicht alleiniger Entscheidungsträger. Ich wollte unbedingt in der Region von Boston bleiben, da ich Harvard nicht verlassen wollte. Meine Frau durfte dafür den Wohnort wählen, und der erinnert an ihre Kindheit in Maryland, nicht an meine in einer Zweizimmerwohnung in Manhattan.
Ist das für Sie ein tägliches Leiden?
Nein, man passt sich an. Inzwischen liebe ich es, allein im Wald spazieren zu gehen und dabei Hörbücher in doppelter Geschwindigkeit zu hören.
Sind Sie der richtige Ansprechpartner für die Lösung von Wohnungsproblemen, oder analysieren Sie vor allem?
Ich habe viele Politiker beraten, und die Antwort lautet immer: mehr Angebot. Die Herausforderung ist, herauszufinden, wo das politisch durchsetzbar ist. Wo kann man ein massives Angebot schaffen, ohne die nächste Wahl zu verlieren?
In den 1970er Jahren galten Städte wie Zürich oder New York als unattraktiv. Heute zieht es Menschen in grosser Zahl dorthin. Wie erklären Sie diese Zyklen?
Dieser Wandel prägte mein Leben: Ich erlebte den Niedergang von New York in den 1970er Jahren und dann den Wiederaufstieg. Der Grund für den Niedergang war die Deindustrialisierung. Städte hatten sich für kurze Zeit auf die Fertigung spezialisiert, New York etwa auf die Textilindustrie. Doch die verarbeitende Industrie passt nicht zu Städten, weil sie flächenintensiv ist und wenig von städtischen Interaktionen profitiert.
Was passierte dann?
In New York gingen innerhalb kurzer Zeit eine halbe Million Jobs in der Bekleidungsindustrie verloren. Gleichzeitig geriet die Kriminalität ausser Kontrolle. Zudem versuchten Städte, lokal einen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Das funktionierte nicht: Wohlhabende Bürger und Unternehmen zogen weg, um Steuern zu vermeiden. Mitte der 1970er Jahre stand New York vor dem Bankrott.
Was brachte die Städte zurück?
Sie fanden einen neuen Vorteil: Statt dem Warenumschlag dienten sie nun dem Austausch von Informationen. Finanzdienstleistungen spielten dabei eine Schlüsselrolle, etwa in New York, Zürich oder London. Parallel dazu bekamen Städte die Kriminalität besser in den Griff und investierten in Sicherheit. So wurden Städte wieder attraktiv und lebenswert.
Kann man den Übergang von Produktions- zu Handelsstädten planen? Oder entwickelt sich das evolutionär?
Städte bringen viele negative externe Effekte mit sich, wie Kriminalität oder Verkehrsstaus. Um das zu bewältigen, braucht es effektive Regierungen. Sie müssen sich aber auf das Wesentliche konzentrieren: die Nachteile der Dichte beheben, ohne den Wohnungsbau oder das Unternehmertum unnötig zu behindern. Eine Rückkehr zu industriepolitischen Massnahmen halte ich für wenig sinnvoll – sie haben in der Vergangenheit nicht funktioniert.
Sie sagten, Städte sollten sich nicht zu stark spezialisieren – warum?
Spezialisierung birgt Risiken. In Detroit war die Produktivität beeindruckend, aber die Attraktivität der Fliessbandarbeit führte dazu, dass viele auf einen High-School-Abschluss verzichteten. Langfristig fehlten dadurch wichtige Grundlagen für die Wirtschaft. Was man tun kann: Unternehmern den Einstieg erleichtern und das öffentliche Schulsystem stärken. Rückblickend hätte ich mich für bessere Schulen in Detroit eingesetzt. Aber Henry Ford davon abhalten, Autos zu bauen? Das wäre unsinnig gewesen.
Was halten Sie von Städten, die auf dem Reissbrett geplant werden, wie etwa derzeit Neom in Saudiarabien?
Ich beschäftige mich ein wenig mit Neom, aber ich kann dazu leider nichts sagen, weil ich eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben habe.
Würden Sie unseren Politikern raten, die Zonierung in Städten zu reduzieren?
Ja, deutlich weniger Zonierung und weniger Hindernisse für den Bau – überall, wo es möglich ist. Es gibt keinen Grund mehr, Wohn- und Gewerbegebiete strikt zu trennen. Auch Höhenbeschränkungen sollten abgeschafft werden. Bürokraten sind schlechte Regulatoren, wenn es um Architektur geht. Der Markt sorgt ohnehin dafür, dass wertvolle Grundstücke von guten Architekten bebaut werden.
Architektonisch sollte somit alles erlaubt sein?
Als Sohn eines Architekturhistorikers schätze ich den Dialog zwischen Alt und Neu. Es gibt Quartiere, deren Charakter erhalten werden sollte, aber auch Orte, wo gute Architekten Grossartiges schaffen können. Besonders in New York sehe ich viele geschützte Gebäude, die keine besondere historische Bedeutung haben. Stattdessen könnten dort dringend benötigte Wohnungen entstehen.
In Zürich hat die Regierung jüngst Aufsehen erregt mit Plänen, den Hauptbahnhof zur grünen Flaniermeile zu machen, ohne Autos und mit weniger Trams. Ein guter Ansatz?
Da ich die Situation nicht im Detail kenne, möchte ich das nicht zu stark kritisieren. Aber rund um einen zentralen Verkehrsknotenpunkt die Dichte zu reduzieren, ist enorm teuer. Natürlich gibt es Fälle, in denen das gerechtfertigt ist, aber sie sind selten. Die Nähe zum Zentrum bringt enorme Vorteile – Zeitersparnis, Interaktion und weniger Verkehr. Es ist phantastisch, wenn Menschen den Zug nehmen und dann mit dem Tram oder zu Fuss zur Arbeit gehen können. Das ist ein viel besseres Modell als in den USA, wo wir weit nach draussen gedrängt werden und überallhin fahren müssen – eine Katastrophe für die Umwelt.
Einflussreicher Stadtökonom
am. Der in Manhattan aufgewachsene Edward Glaeser ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und einer der führenden Experten für Stadtökonomie. Der heute 57-Jährige promovierte an der University of Chicago und lehrt seit 1992 in Harvard. Bekannt wurde er durch sein Buch «Triumph of the City» (2011), das die Vorteile urbaner Dichte für Innovation und Wachstum beleuchtet. Glaeser sieht Städte als Motoren des Fortschritts und forscht zu Themen wie Stadtentwicklung, Wohnungsbau und den sozialen Effekten urbanen Lebens.