Die Soziologin Anja Glover hat ein Buch über Rassismus in der Schweiz geschrieben. In «Was ich dir nicht sage» erklärt sie etwa, warum gerade Menschen, die besonders vorbildlich sein wollen, ihr grösstes Problem sind.
In Anja Glovers erstem Jahr am Gymnasium schaute einer der Lehrer in die Gesichter seiner neuen Klasse; sein Blick blieb an Glover hängen. «Früher ging ich mit meinen Jungs die Negerli an der Chilbi anschauen. Und jetzt sitzen sie schon bei mir im Unterricht», sagte er dann. Das war 2005 und weder das erste noch das letzte Mal, dass Glover – Tochter einer Schweizerin und eines ghanaisch-schweizerischen Doppelbürgers – in der Schweiz Rassismus erlebt hat.
Die amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison schrieb, Rassismus sei eine Art Ablenkungsmanöver: Man könne sich immerzu damit beschäftigen und seine gesamte Zeit und Energie mit Aufklärungsarbeit und dem Sezieren potenziell rassistischer Situationen verschwenden – statt sie in die eigene Karriere, das eigene Glück zu stecken. Die Soziologin Glover allerdings hat sich nicht ablenken lassen, sondern aus dem Manöver eine Karriere gemacht: Sie gibt Workshops und Coachings zum Thema Antirassismus, ist Gastgeberin eines erfolgreichen Podcasts, sensibilisiert in den sozialen Netzwerken und ordnet als Expertin regelmässig ein, wenn ein Rassismus-Fall zur Schlagzeile wird. Als sie im vergangenen Jahr aber ein Buch über Rassismus in der Schweiz schrieb, wurde es plötzlich still. Weder in der Schweiz noch in Deutschland fand Glover einen Verlag. Allzu überrascht war sie davon allerdings nicht.
«Wenn ich ein Buch schreiben will, das auch veröffentlicht und gelesen wird, dann muss es den weissen Feminist*innen gefallen. Ich müsste es für sie schreiben», mit diesen Worten erklärte Glover ihren Freundinnen, warum sie gar keine Lust habe, ein Buch über Rassismus zu verfassen. Geschrieben hat sie «Was ich dir nicht sage», ein nüchternes, klar formuliertes Debattenbuch, nun doch. Es erscheint Mitte Dezember, finanziert mittels Crowdfunding.
Was heisst das genau – kein Buch für weisse Menschen schreiben zu wollen?
Nur schon vom Begriff «weiss» zu sprechen, ist schwierig. Es ist immer ein Konstrukt, ich meine damit keine konkreten Personen – auch wenn viele sich durch das Wort sofort angegriffen fühlen. Ich meine nicht einmal nur die Hautfarbe, sondern eine privilegierte Position, die jemand in einem System in Bezug auf Rassismus hat. Dieses Buch soll auch für Betroffene sein. Aber bei Medien und auch bei Verlagen sitzen auf den entscheidenden Posten weisse Menschen. An ihnen muss man vorbei, wenn man reinkommen will.
Und wie macht man das?
Man überzeugt sie durch ruhiges, einfühlsames Erklären. Der allergrösste Teil meiner Arbeit besteht darin, «weissen» Menschen die Angst davor zu nehmen, schlechte Menschen zu sein, weil auch sie – wie jeder Mensch – rassistische Stereotype reproduzieren. Diese Angst ist sehr gross, darum wollen sie Rassismus oft auch nur dann thematisieren, wenn er ausserhalb ihres Einflussbereichs stattfindet: früher, in einem anderen Land oder mutwillig böse und verletzend. Erst wenn die Leute realisiert haben, dass wir alle unbewusst und nicht bösartig Rassismus reproduzieren, weil dieser Teil unseres Systems ist, passiert eine Art Entlastung. Das Angst- und Schuldgefühl rückt in den Hintergrund. Dann ist eine Diskussion möglich.
Eine Diskussion über Rassismus kann man mit vielen also nur führen, wenn man ihnen die Verantwortung für ihr Handeln abnimmt?
Natürlich müssen die Leute Verantwortung übernehmen. Aber Schuldgefühle führen meistens dazu, dass Menschen sich verschliessen. Darum muss man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass niemand perfekt ist, dass wir alle Fehler machen. Problematisch wird es dann, wenn jemand bestreitet, über rassistische Denkmuster zu verfügen.
Ist die Diskussion gerade mit den Menschen besonders schwierig, die glauben, Rassismus längst überwunden zu haben?
Am schwierigsten ist es tatsächlich mit Menschen, die alles richtig machen wollen und ihren Selbstwert davon abhängig machen. Sie sind besonders gut im Abwehren. Aber damit wachsen wir auch auf: Es gibt die Guten und die Bösen. In jedem Märchen identifiziert man sich mit den Guten, und es bleibt ein Leben lang schwer, sich von dieser binären Weltanschauung zu lösen. Dabei kann es jemand aufrichtig gut meinen und trotzdem Rassismus reproduzieren.
Können Sie ein Beispiel geben?
Neulich war ich mit meiner Schwester in einem Hotel, und da wurden wir – wie so oft – gefragt, woher wir kommen. Meine Schwester antwortete: «Luzern.» Und die Person, die gefragt hatte, sagte dann: «Nein, ich meinte: woher ursprünglich? Wir haben ja selten so schöne, exotische Frauen bei uns.» Da steckt vieles drin. Die wirklich unglaublich häufige Frage nach der Herkunft, das Exotisieren unserer Körper und damit verbunden das unangenehme Hervorheben.
Manche sagen, sie stellten die Frage nach der Herkunft, weil sie sich für das Gegenüber und dessen Geschichte interessierten.
Ich interessiere mich auch für die Löhne anderer Leute. Trotzdem weiss ich, dass man in der Schweiz nicht als Erstes fragt: «Und wie viel verdienst denn du?» Ich habe auch genug Anstand, niemanden einfach ungefragt anzufassen, weil ich sie so «speziell» finde. Auch das passiert mir oft.
Problematisch ist also das Hervorheben, ja Überhöhen, der Andersartigkeit. Aber in Ihrem Buch schreiben Sie, auch der Versuch, über Unterschiede hinwegzusehen, sei gefährlich.
Wer sagt, «wir sind alle gleich» und «ich sehe keine Unterschiede», negiert auch die Probleme und die Herausforderungen, die unterschiedliche Positionen in der Gesellschaft mit sich bringen. Aber wir sind alle unterschiedlich, kein einziger Mensch ist genau gleich wie der andere. Darum unterscheiden sich auch unsere Bedürfnisse und Hürden. Diese Unterschiede sind nicht das Problem. Die Hierarchisierung dieser Unterschiede ist das Problem. Ich beobachte das oft bei Kindern: Die sehen sofort, wenn eine Person nicht weiss ist – und sie sprechen das auch an. Aber erst, wenn die Eltern dann sagen: «Pssst, das sagt man nicht», lernen die Kinder, dass dieser Unterschied, den sie sehen, etwas Schlechtes ist.
Wann haben Sie selbst realisiert, was Rassismus ist und was das mit Ihnen zu tun hat?
Ich weiss nicht, ob es da einen klaren Moment gibt. Aber ich habe schon sehr früh versucht zu verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Ich habe wissenschaftliche Erklärungen gesucht dafür, dass Menschen mit mir anders umgehen.
Sie schreiben auch, dass Sie besonders von dem Lehrer, der sich am Gymnasium rassistisch geäussert hat, gemocht werden wollten – warum?
Die meisten wollen doch gemocht werden, es macht das Leben so viel einfacher. Niemand will die Person sein, die andere herausfordert oder sogar nervt. Dass ich das nun quasi beruflich mache, ist nicht passiert, weil ich grosse Lust darauf habe, sondern aus einer Notwendigkeit und aus der Tatsache heraus, dass ich das Privileg habe, es zu tun.
Ihr Engagement hat Ihnen körperlich geschadet – Ihr Buch ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit Rassismus, sondern auch eine Art Logbuch heftiger Rückenschmerzen. Sie hatten einen Bandscheibenvorfall und konnten sich kaum noch bewegen.
Ja, und ich kenne meinen Körper gut genug, um zu wissen, dass die Rückenprobleme auch psychische Auslöser hatten. Das war ein wichtiger Grund dafür, mein Buch zu schreiben. Viele Aktivisten haben irgendwann körperliche Probleme. Bei mir haben sich die Rückenschmerzen während des Schreibens gelöst. Ich habe natürlich auch auf mich geachtet und war in Behandlung. Aber jetzt, wo das Buch fertig ist, sind auch die Schmerzen weg. Etwas hat sich gelöst.
In Ihren Workshops nehmen Sie den Teilnehmern die Schuldgefühle und die Angst. In Ihrem Buch dagegen führen Sie einem namenlosen «Du», das sehr viele Facetten hat, die jeweiligen Unzulänglichkeiten vor Augen. Sie schreiben etwa von weissen Feministinnen, die vergessen, dass ihre Karriere oft nur möglich sei, weil eine nichtweisse Frau bei ihnen daheim putze. Oder von Gutmenschen, die für antirassistisches Engagement ein Danke erwarteten. Stossen Sie damit nicht genau die Menschen vor den Kopf, die Ihnen wohlgesinnt wären?
Vor der «Black Lives Matter»-Bewegung 2020 wäre ein solches Buch in der Schweiz womöglich nicht publiziert worden. Gut, ich musste es ja auch jetzt selber machen. Aber ich habe immerhin bis jetzt schon 700 Vorbestellungen erhalten. Und ich vertraue darauf, dass die Menschen mit meiner Kritik umgehen können.
Was nennen weisse Menschen oft als Grund für ihren Einsatz gegen Rassismus?
Viele sagen, sie seien gegen Rassismus, weil er niemandem etwas bringe. Das ist leider falsch. Rassismus hat, wie jede Diskriminierung, einen ganz klaren Nutzen: Wenn die einen Menschen diskriminiert werden, profitieren die anderen davon. Dessen muss man sich bewusst sein. Wer Rassismus bekämpfen will, muss Privilegien abgeben. Das fühlt sich nicht so gut an. Im Gegenteil. Ich habe einmal gelesen, dass sich Gleichstellung für privilegiertere Menschen anfühle wie Unterdrückung.
Ihre Mutter, ihr Partner, viele Menschen in Ihrem Umfeld sind weiss. Fühlen die sich manchmal angegriffen aufgrund Ihrer Arbeit und Ihrer Kritik?
Ich möchte nicht für sie sprechen. Aber eher Nein. Sie lernen zusammen mit mir. Ohne sie wäre mein Buch nie entstanden. Ich kritisiere ein System, keine Einzelpersonen.
Zum Buch
nad. «Was ich dir nicht sage» ist kein Erklärbuch, keine Anleitung, wie man divers- und nichtrassistisch ist, und ist auch nur über kurze Strecken ein Erfahrungsbericht. Obwohl die Soziologin Anja Glover, die als selbständige Expertin und Workshopleiterin davon lebt, sich selbst zu vermarkten, genau weiss, dass Betroffenheit sich gut verkauft, hat sie sich für Ehrlichkeit entschieden. Sachlich und ruhig zeigt sie auf, warum «es gut meinen» und tatsächlich nichtrassistisch handeln zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Und warum sie sich gerade bei scheinbaren «Gutmenschen» oft die Zähne ausbeisst – weil Menschen, die bereits vieles gut machen, daraus ihren Selbstwert ziehen und sich mit Kritik entsprechend schwertun. Glovers Buch erzählt von den Konsequenzen, die Rassismus für einzelne Betroffene und die gesamte Gesellschaft haben kann. Sie schreibt im «Du» eine Art langen Brief an zahllose Empfänger. Ein Debattenbuch, auf das man sich einlassen sollte.