Der VO2max-Wert beziffert die maximale Menge Sauerstoff, die der Körper bei intensiver Belastung nutzen kann. Wieso er darauf hinweisen kann, wie gut die Herzgesundheit ist, und was man bei der Smartwatch-Anzeige beachten sollte.
Der Wert scheint geradezu eine Summenformel der Gesundheit zu sein, und vielen Smartwatch-Nutzern ist er längst vertraut: VO2max. Das eigenwillige Kürzel steht für die maximale Menge Sauerstoff, die der Körper bei intensiver Leistung nutzen kann. Je höher sie liegt, desto besser ist die kardiorespiratorische Fitness – und umso länger womöglich das Leben.
«Ich trainiere regelmässig und erreiche jetzt 34,6», berichtet sichtlich stolz der Besitzer einer Apple Watch auf der Online-Plattform Reddit. «Angefangen hat es vor acht Monaten mit 27.» Bei einem VO2max-Wert von 15 dürfte man nur mit Mühe drei Stockwerke schaffen, bei 60 in der Lage sein, einen Marathon zu laufen.
Die meisten neueren Modelle von Herstellern wie Apple, Garmin, Fitbit oder Polar liefern auch VO2max-Daten. Bevor das möglich war, liessen nur ambitionierte Athleten ihre VO2max im Sportlabor ermitteln – der aufgenommene Sauerstoff wird bei einem Belastungstest, einer sogenannten Spiroergometrie, über eine Atemmaske analysiert. Heute jedoch kann jeder seine «Kardiofitness» ganz einfach am Handgelenk checken. Allerdings sind die Werte der Wearables Schätzungen, auf Basis von Algorithmen.
VO2max: ein unterschätzter Risikomarker
Doch was genau steckt hinter der erstaunlichen Grösse, die immer mehr Fitnesstracker und Uhren anzeigen? Lebt man gesünder, wenn man die Werte weiss – und wie zuverlässig können die Angaben überhaupt sein?
Unbestritten ist die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness per se. Der Basler Sportmediziner Arno Schmidt-Trucksäss hält sie sogar für den «am stärksten unterschätzten Risikomarker». Niedrige VO2max-Werte gingen etwa mit häufigeren Herzinfarkten oder Schlaganfällen einher und könnten für die Risikoprognose aussagekräftiger sein als Bluthochdruck, Diabetes oder Übergewicht.
Denn bei der Sauerstoffaufnahme (meist gibt man sie in Milliliter O2 pro Minute und Kilo Körpergewicht an) spielen gleich mehrere Organsysteme mit – die VO2max spiegelt einen grossen Teil der Funktionstüchtigkeit und Ausdauer des Körpers. So ist neben der Lunge die Herzleistung entscheidend, um Sauerstoff, gebunden an rote Blutkörperchen, durch den Kreislauf zu pumpen. Die Muskeln setzen dann das O2 im zellulären Energiestoffwechsel um.
Erst kürzlich hat ein Team um den amerikanischen Sportphysiologen Peter Kokkinos anhand der Fitnessdaten einer Dreiviertelmillion männlicher und weiblicher amerikanischer Veteranen zwischen 30 und 95 Jahren gezeigt, dass die Sterblichkeit umso niedriger liegt, je mehr Sauerstoff der Organismus nutzen kann. Besonders fitte Personen leben laut den Daten mehrere Jahre länger als besonders unfitte Menschen. Schon ein geringer Fitnesszuwachs, etwa die Steigerung der VO2max um 3 bis 4 Milliliter pro Minute und Kilo, könne das Risiko senken, rechneten die Forscher in einer Folgestudie vor.
Wie man die Fitness steigert
«Das Präventionspotenzial dürfte beträchtlich sein», bekräftigt der Sportkardiologe Pascal Bauer vom Uniklinikum Giessen. Seit Jahrzehnten scheint die VO2max in vielen reicheren Ländern etwa durch zunehmendes Sitzen zu sinken – umso wichtiger sei es, gegenzusteuern, sagt Bauer.
Während grundsätzlich jegliche körperliche Aktivität die Fitness fördern kann, gilt das sogenannte hochintensive Intervalltraining als besonders effektiv: Phasen mässiger und hoher Belastung wechseln hier einander ab, etwa durch kurze Zwischensprints beim Jogging. Langfristig steigen das Schlagvolumen des Herzens und die Kapillardichte der Muskeln. Auch gehen offenbar Störungen im Zucker- und Fettstoffwechsel oder Entzündungsprozesse im Körper zurück, wenn man die Fitness steigert und somit automatisch die VO2max erhöht.
Erstaunlich ist deshalb: Ärzte beachten das genaue Fitnesslevel ihrer Patienten in der Alltagspraxis immer noch vergleichsweise wenig – nicht zuletzt, weil eine direkte Messung aufwendig ist. Auch deshalb diskutieren Experten weltweit längst darüber, ob sich die Daten der Fitnesstracker sinnvoll für die Gesundheitsprävention nutzen lassen und ob sie mehr sind als ein verkaufsförderndes Feature für die Fitnessindustrie. Die Smartwatch-Produzenten jedenfalls argumentieren: Es sei besser, einen errechneten VO2max-Wert zu haben, als gar keinen. Aber wie wird der Wert überhaupt errechnet?
So schätzen Smartwatches den VO2max-Wert
Beispielsweise erfasst die Apple Watch die Geschwindigkeit beim Joggen per GPS; zugleich werden LED-Signale von der Unterseite der Uhr ins Gewebe geschickt und der reflektierte Lichtanteil gemessen. Da sich die Lichtreflexion mit dem pulsierenden Blutfluss verändert, kann daraus die Herzfrequenz ermittelt und die Kardiofitness geschätzt werden: Denn hat ein Jogger bei einer bestimmten Geschwindigkeit einen niedrigen (oder schon hohen) Puls, ist auch seine Leistungsreserve und damit die VO2max, entsprechend gross oder klein.
Tatsächlich haben auch Forscher viele vergleichbare Ansätze und Formeln entwickelt, um die VO2max etwa anhand von Alter, Aktivitätsniveau und Herzfrequenz näherungsweise schätzen zu können. «Bei kommerziellen Anbietern bleiben die genauen Algorithmen zur Berechnung jedoch in der Regel intransparent», hebt Bauer hervor. Apple hatte seiner Smartwatch in einer unternehmenseigenen Studie das Zeugnis ausgestellt, «genau und zuverlässig» zu sein. Doch wie amerikanische und deutsche Forscher jüngst nachgerechnet haben, können die Schätzwerte im Einzelfall schnell 10 bis 15 Punkte zu hoch oder zu tief liegen.
Eine «miserable Genauigkeit» bescheinigt auf Reddit ein frustrierter Nutzer seiner Apple Watch Ultra – vorgeblich «das ultimative Tool für ein gesundes Leben», das etwa auch den Schlaf oder den Eisprung überwachen kann. Geräte anderer Hersteller stehen laut Studien nicht besser da: Bereits wenn ein Wearable nicht richtig am Handgelenk sitzt, kann dies die Schätzung verzerren.
Der renommierte Lausanner Sportmediziner Aaron Baggish und seine Kollegen haben kürzlich dazu geraten, statt der absoluten Zahlen, wenn überhaupt, nur den Trend der VO2max-Daten zu beachten. «Wenn ein Freizeitsportler seine Fitness immer mit demselben Device misst, kann das durchaus sinnvoll sein, um das Training zu optimieren», pflichtet Bauer bei.
Dennoch besteht ein weiteres Problem: Obwohl es zweifellos besser ist, über eine hohe statt eine niedrige VO2max zu verfügen, fehlen bislang eindeutige Werte für ein «normales» Fitnessniveau. So hatte das Team um den Basler Spezialisten Schmidt-Trucksäss mit Belastungstests bei gesunden, nicht rauchenden und nicht adipösen Schweizern ermittelt, dass die VO2max etwa bei einem Mann in den Vierzigern im Schnitt 44 und bei einer gleichaltrigen Frau knapp 35 beträgt – damit aber wesentlich höher liegt als in anderen internationalen Studien. Übereinstimmung besteht lediglich darin, dass die Fitnesswerte ab dem jungen Erwachsenenalter ungefähr um 10 Prozent pro Dekade sinken. Wearables liefern also Daten, für die es gar keine universellen Vergleichsstandards gibt.
Die Messung kann verunsichern
«Wir hängen an den Daten, wir alle lieben Daten. Wir messen Dinge, nur um sie zu messen.» So kommentierte der kalifornische Kardiologe Ethan Weiss unlängst in der «New York Times» den scheinbar unwiderstehlichen Trend, den eigenen Gesundheitszustand zu protokollieren.
Ob dies die Fitness der Bevölkerung insgesamt hebe, bleibe derzeit dahingestellt, «aber wir hoffen es natürlich», bemerkt Patrick Badertscher, Spezialist für digitale Gesundheit am Universitären Herzzentrum Basel. «Wenn eine Fitnessuhr als Ansporn dient, aktiver zu werden, und sich die Werte dann verbessern, kann das die Leute bei Laune halten.» Viele Studien belegen einen solchen Effekt – in begrenztem Masse. Andererseits sei jedoch klar, dass massenhaft generierte Gesundheitsdaten auch zu Verunsicherungen und Falschbefunden führten, fügt der Kardiologe hinzu. Erst kürzlich hat sein Team genau deshalb eine «Wearable Clinic» an der Uni Basel eingerichtet: Nutzer können hier ein EKG, das ihre Smartwatch aufgezeichnet hat, für 20 Franken zur Überprüfung hochladen.
Das Paradoxe derzeit sei, so Badertscher, dass viele Wearable-Träger jünger und ohnehin auf ihre Gesundheit bedacht seien, die Geräte aus medizinischer Sicht also gar nicht brauchten. Für die VO2max-Daten lässt sich Ähnliches sagen: Man braucht sie nicht unbedingt. Wer sie erhebt, sollte spielerisch bleiben und die Zahlen nicht zu ernst nehmen.