Der russische Schriftsteller Sergei Lebedew diagnostiziert nach zwei Jahren Krieg bei seinen Landsleuten Anpassung und Angst. Es ist eine moralische Verwahrlosung, wie er sie nicht für möglich gehalten hat.
In Russland gehen Grauen und Absurdität Hand in Hand. Man reibt sich die Augen und fragt: Ist es ein Grauen der Absurdität oder die Absurdität des Grauens? Da erklärte der Gouverneur der Region Kaliningrad kürzlich, am Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sei wer schuld? Immanuel Kant. Der gebürtige Königsberger sei es, so der Gouverneur, auf den «das globale Chaos zurückzuführen ist, mit dem wir jetzt konfrontiert sind».
Was wie wahnhaftes Gerede klingt, wird zur politischen Agenda. Doch wie funktioniert eine Gesellschaft, die solchem Irrwitz ausgesetzt ist?
Russische Liberale im Exil behaupten, dass Russen in ihrem gegenwärtigen Verhalten nur etwas vorspielen, sich aus nachvollziehbarer Angst vor harten Strafen zwar scheinbar unterwerfen, aber keinesfalls ernsthaft geschädigt seien. Der vermeintliche Verfall sei nur Mimikry, ein Rückzug ins Innere.
«Blutbusse» tun
Doch die Gesellschaft bröckelt. Mittlerweile kehren ehemalige Häftlinge, die in Gefängnissen für den Kampf in der Ukraine rekrutiert wurden und ihren Dienst abgeleistet haben, in ihre russische Heimat zurück. Sie sind begnadigt worden, haben ihre Rechte zurückgewonnen – als Lohn für weitere Untaten, sprich für die Tötung von Ukrainern. Dmitri Peskow, Putins Pressesprecher, gebrauchte dafür nicht zufällig den Begriff «Blutbusse».
Unter den Rückkehrern gibt es kaltblütige Sadisten, Serienmörder und Triebtäter. Sie kehren dahin zurück, wo sie vor kurzem noch verhaftet und verurteilt wurden. Dank ihrer Beteiligung am verbrecherischen Krieg sind sie «rein». Nun leben sie wieder in Nachbarschaft der Angehörigen ihrer Opfer. In Nachbarschaft aller.
Es handelt sich um ein Ding der Unmöglichkeit, um einen Verstoss gegen alle Regeln. Aber niemand kann dagegen etwas tun.
Ein Serienmörder, Kannibale oder Zerstückler gilt als universelle Figur des absoluten Bösen, und dieses Urteil teilen sogar jene, die eine andere Nation grundlos zu entmenschlichen, mit einer Invasion zu überziehen und dabei Kriegsverbrechen zu entschuldigen imstande sind. Wenn diesen Monstern eine legale Rückkehr ermöglicht wird, zeigt dies, dass an die Stelle der gesellschaftlichen Moral ein absolutes ethisches Vakuum getreten ist, ein Raum ohne Grenzen, in dem das Böse jederzeit möglich ist.
In Russland gibt es keine roten Linien mehr. Zur Normalität ist das geworden, womit man einverstanden ist. Gleichzeitig ist es eine Normalität, mit der man leben muss und die man nicht ändern kann.
Besessen vom Sex
Seltsamerweise sorgt man sich in Russland, das alle erdenklichen Normen eliminiert hat, zunehmend um die sexuelle Sittlichkeit. Ein Staat, der ein friedliches Nachbarland schändet, verfällt einem reaktionären pädagogischen Eifer und will alles verhindern oder umformatieren, was sexuell von der Norm abweicht.
Ende 2023 wurde die LGBTQ-Community faktisch für ungesetzlich erklärt und in einem kafkaesken Gerichtsurteil als «extremistische Organisation» eingestuft. Davor hatte die Duma im Sommer 2023 Geschlechtsumwandlungen verboten und Transmenschen inkriminiert: Faktisch geht es dabei um die Möglichkeit einer erzwungenen Umkehr von Geschlechtsumwandlungen.
Natürlich ist die LGBTQ-Community für Putin eine ideologische Zielscheibe, ein Symbol für den kollektiven, angeblich dekadenten und seelenlosen Westen. Wenigstens sie kann er bestrafen.
Bekannt wurde der Fall einer Festnahme wegen des Tragens von Regenbogen-Ohrringen. Ein Junge, der auf einer Schulparty Lippenstift trug, wurde mit einer Geldstrafe belegt und musste sich öffentlich entschuldigen. Weiter spürte die Polizei zwei Mädchen auf, die auf Social Media ein Video gepostet hatten, worauf zu sehen war, wie sie sich in einem Café küssten. Auch sie bekamen eine Geldstrafe und mussten öffentlich Abbitte leisten für ihr «obszönes Verhalten».
Man kann das als absurd bezeichnen, doch in Wahrheit handelt es sich um ernsthaften Terror, um einen Angriff auf die Vielfalt des Lebens. Zumal das besagte Duma-Gesetz darüber hinaus ein unerhörtes Potenzial an Repression birgt. Sollten die Behörden jemals Massenverfolgungen für zweckmässig halten, muss nichts geändert oder hinzugefügt werden. Alles ist längst vorbereitet.
Pathologische Brutalität
Die Psychose des Strafens beschränkt sich indes keineswegs auf LGBTQ. In Wolgograd gibt es ein 1967 eingeweihtes Denkmal, die Mutter-Heimat-Statue. Die riesige Betonskulptur einer Frau mit einem Schwert in der Hand symbolisiert den Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht in der Schlacht von Stalingrad im Jahr 1942/43. Ich selber nenne sie «Nike von Stalingrad», denn die Figur der siegreichen Maid verströmt gewaltige sexuelle Energie, sie besitzt erotisch wirkende Brüste mit gut sichtbaren Brustwarzen.
Im Sommer 2023 veröffentlichte eine junge Frau ein Video, in dem sie, mit der Perspektive spielend, scheinbar die Brustwarzen der «Mutter Heimat» kitzelt. Die «Täterin» wurde mittlerweile verhaftet – wegen Verharmlosung des Nationalsozialismus. Das Monument gilt als Gegenstand sakraler Verehrung, und der Versuch, es spielerisch zu vermenschlichen, indem man ihr sexuelle Gefühle und Wünsche zuschreibt, gilt als Staatsverbrechen.
Generell wird das Körperliche zum ideologischen Schlachtfeld. Die Sexualität als solche steht zur Disposition. Der Staat erhebt totalitären Anspruch auf seine Bürger. So steht ein partielles Abtreibungsverbot im Raum; hinzu kommen Einschränkungen bei der Pille danach. Fortpflanzung wird (eingedenk der massiven Verluste der Armee) bereits offen als Bürgerpflicht propagiert. Sex zum blossen Vergnügen erscheint als verantwortungslos.
Man könnte das alles für einen Witz, eine schwarze Komödie halten. Aber der russische Staat agiert mit der Brutalität eines pathologischen Idioten, was ein Zeichen dafür ist, dass es keine Differenzierung mehr gibt und sich das System von innen nicht mehr stoppen lässt.
Die russische Aggression gegen aussen gründet auf der Angst des Regimes vor dem inneren Scheitern als modernes Land. Mit ihrer entschiedenen Hinwendung zum Westen haben die Ukrainer Putin und seinen Kumpanen einen Spiegel vor Augen gehalten. Auch musste der Kreml erkennen, dass sich nicht alles mit Geld kaufen lässt. Die Ukraine wendet sich ab, weil sie sich für einen ganz anderen Weg entschieden hat: für Freiheit und Demokratie. Etwas, was Russland nicht bieten kann.
So wurzelt der Krieg denn in sehr primitiven Gefühlen, im Wunsch nach Rache und im Verlangen nach Macht. Ziel ist es, ein Land, das erfolgreich aufbegehrt und sich abgewendet hat, buchstäblich zu vernichten.
Der Tod auf Telegram
Früher starben Soldaten den Kriegstod irgendwo in der Ferne, und das Ganze wurde später auf Schlachtengemälden verewigt. Später brachten Fotografien und Zeitungen das Kampfgeschehen näher, und dann liess das Fernsehen es in die Wohnzimmer.
Nun aber produzieren Smartphone-Kameras Unmengen von «war porn», den man in sozialen Netzwerken wie Telegram abrufen kann. In Drohnenvideos erlebt man dann zwanzig, dreissig, vierzig Sekunden lang die letzten Lebensmomente feindlicher Kämpfer, bevor die tödliche Sprengladung hochgeht. Der Tod ist optisch nah, er ist immer da, erreichbar und verfügbar, man drücke einfach auf «Play».
Dieser «war porn» schwappt dann vom Internet ins Fernsehen, in die landesweiten Sender. Sein öffentlicher Konsum ist in besonderer Weise ein Symbol für die neue Gefühllosigkeit der russischen Gesellschaft, ein Zeichen der Gewöhnung an den Krieg. Alle in Russland haben das mittlerweile gesehen, alle wissen, wie der Tod über die Soldaten kommt: als bläuliche Wolke einer explodierenden Granate und in sekundenlangen Zuckungen eines Körpers, der mit seinem Ende ringt.
Alles wirkt so nah wie in keinem anderen Krieg der Menschheitsgeschichte. Es wohnt dieser Nähe aber leider nicht das Potenzial für eine moralische Umkehr inne. Im Gegenteil, wie jede Pornografie ersticken auch die obszönen Bilder des Krieges wahre Gefühle und entwürdigen Menschen zu Puppen.
Ringsum, im hermetisch geschlossenen Raum der staatlich kontrollierten russischen Medien, wuchert die zynische Sprache der Gewalt. Sie ist höhnisch, weil sie zwanghaft die Opfer verspottet und den Betrachter dazu einlädt, sich an diesem Spott zu beteiligen oder zumindest reflexartig zu grinsen.
«Geranien» seien nachts in Odessa und Mikolajiw erblüht, heisst es etwa über grossflächige Drohnenangriffe in der Zeitung. Um der Wehrpflicht zu entgehen, hört man weiter, verwandelten sich Ukrainer in Tiere – denn ukrainische Männer, die nach Westeuropa flöhen, um der Wehrpflicht zu entgehen, kröchen auf allen vieren über die Grenze.
Diese Sprache ist wie Säure, sie schafft ein korrosives Milieu. Auch wenn man sie nicht teilt, entfaltet sie Wirkung. Sie entmenschlicht Kriegsopfer und lässt den Tod wie einen Spass aussehen.
Es ist zu befürchten, dass die Bevölkerung Russlands durch die Sprache der Propaganda mittlerweile völlig korrumpiert ist. Die Menschen treibt nicht allein die Angst, für das Aussprechen der Wahrheit bestraft zu werden. Sie sind auch dabei, ihre unmerkliche Gewöhnung an das Böse und an die Lügen vor sich selber zu verleugnen. So folgt dem allmählichen Erlöschen von Kritik und Selbstkritik am Ende die moralische Apathie.
Sergei Lebedew, Jahrgang 1981, gehört zu den bedeutenden Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur und lebt heute im Exil. – Aus dem Russischen von Franziska Zwerg.