Wer am Everest Aufmerksamkeit erregen will, muss sich heutzutage etwas einfallen lassen. Zum Beispiel eine Art Mega-Triathlon über 13 000 Kilometer wie Mitchell Hutchcraft.
Längst gibt es allerlei Verrücktheiten am Mount Everest. Um heutzutage Aufmerksamkeit zu generieren, reicht es nicht mehr, einfach auf den höchsten Berg der Welt zu steigen. Deshalb machen sich findige Alpinistinnen, Extremsportler und Influencerinnen auf, ihre eigenen Superlative zu kreieren.
Im vergangenen Jahr schlug ein amerikanischer Influencer den «höchsten Rückwärtssalto der Welt». Einmal hat sich ein nepalesisches Paar auf dem Gipfel vermählt; richtig, es war die «höchste Hochzeit der Welt». Ein Bergsteiger brachte seinen Hund mit bis auf den Gipfel und erklärte ihn, man ahnt es, zum «ersten Hund auf dem Mount Everest». Das sind nur einige von Dutzenden Beispielen.
In diesem Frühjahr liefern sich der Schweizer Karl Egloff und der Amerikaner Tyler Andrews ein von Netflix inszeniertes Duell um den schnellsten Auf- und Abstieg vom Basislager aus – ohne Flaschensauerstoff, versteht sich. Und der österreichische Expeditionsveranstalter Lukas Furtenbach will eine kommerzielle Seilschaft innerhalb einer Woche aus Europa auf den Everest bringen. Auch das ein Superlativ, der eine zahlungskräftige Klientel mit viel Geltungsdrang, aber wenig Freizeit anziehen soll.
Zeit hat der Brite Mitchell Hutchcraft genug; Geltungsdrang ebenso. Also hat auch er sich den Everest vorgenommen. Er ist in seinem Leben auch schon 3000 Kilometer über den Atlantik gerudert oder hat die USA mit dem Velo durchquert.
Die Hochsaison am Mount Everest fällt auf April und Mai; Hutchcraft hat sich aber bereits im vergangenen September auf den Weg gemacht. Der 31-Jährige setzte sich – Achtung: Superlativ! – die «längste Everest-Besteigung» zum Ziel. Mit einer Art Mega-Triathlon.
Von Frankreich nach Indien – auf dem Velo
Am 14. September 2024 steht Hutchcraft, ein ehemaliger Marineinfanterist, an der Kanalküste in Dover, dem Startpunkt seines Besteigungsversuchs. Hutchcraft schwimmt 34 Kilometer durch den Ärmelkanal nach Calais, in 15 Grad kaltem Wasser, bekleidet nur mit einer Badehose. Und das sei – noch ein Superlativ – der härteste Tag seines Lebens gewesen, so bekennt er in den sozialen Netzwerken. In Frankreich angekommen, schwingt sich Hutchcraft sogleich aufs Velo. Ziel: Indien.
Ob die Überquerung des Kanals tatsächlich der härteste Tag in Hutchcrafts Leben war, ist zweifelhaft. Eine direkte Antwort darauf gibt es nicht, eine Gesprächsanfrage der NZZ blieb unbeantwortet. Doch in den sozialen Netzwerken inszeniert Hutchcraft sein Abenteuer professionell. Er berichtet dort von allerlei Strapazen und Malheurs, die ihn auf seinem Trip ereilten.
Vorerst verläuft die Reise einigermassen geordnet – von einigen Umwegen und Verirrungen in deutschen Wäldern sowie einem Überfall in Serbien abgesehen. Hutchcraft sagt von sich, er sei weder ein guter Schwimmer noch ein guter Radfahrer und schon gar kein guter Läufer. Doch entscheidend sei der Wille. Wie gut er als Bergsteiger ist, diese Antwort bleibt er auch auf seinen Kanälen schuldig.
Ausgangssperre und bissige Hunde im Irak
Hutchcraft sagt dort dafür, er habe schon als Achtjähriger unbedingt auf den Everest steigen wollen. Auf seiner Reise nun sammelt er Spenden für eine Organisation, welche mithilfe der Natur und von Wildtieren die psychische Gesundheit von Kriegsveteranen verbessern will. Hutchcraft hofft, dass eine halbe Million Pfund zusammenkommen wird, umgerechnet 560 000 Franken.
So pedalt er durch Deutschland, Österreich, Ungarn und dann den Balkan hinab in die Türkei. Manchmal zwingt ihn ein besonders nah vorbeifahrender Lastwagen zu einem Sprung in den Strassengraben.
Er übernachtet im Zelt, folgt keinem speziellen Ernährungsplan; er isst, was er gerade bekommt. Aus der Türkei will er zunächst durch Iran nach Pakistan und von dort weiter nach Indien reisen. Doch die iranischen Behörden verhindern die Einreise; stattdessen entscheidet sich Hutchcraft für eine südlichere Route durch die Türkei und den Irak. Dort beginnen die Probleme.
Zunächst verwehren ihm Beamte den Übertritt aus den Kurdengebieten ins irakische Kernland. Hutchcraft dreht um, versucht die Einreise an einem anderen Checkpoint und hat Glück. Dann wird er von streunenden Hunden gejagt, einer beisst zu. Und wenig später sitzen er und sein Kameramann, der das Abenteuer dokumentiert, im Hotelzimmer fest. Die Armee hat aus Sicherheitsgründen eine Ausgangssperre erlassen.
19 Länder passiert
48 Stunden später darf Hutchcraft weiterfahren, durchquert Sandwüsten in Kuwait, Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, bis er den Golf von Oman erreicht. Dort wirft er sich mitsamt seines Fahrrads in die Wellen. Doch schon wieder steht Hutchcraft still, langsam aber sicher gerät er unter Zeitdruck.
Es fehlt eine Schiffspassage über den Golf von Oman nach Pakistan, Hutchcraft entschliesst sich zum Flug, setzt sich nach der Landung sogleich wieder aufs Velo. Durch Belutschistan bekommt er eine Polizeieskorte, die selbst in der Nacht nicht von seiner Seite weicht. Dann endlich, nach über 10 000 Kilometern im Sattel, erreicht Hutchcraft Indien. Nach nervtötenden Einreiseschwierigkeiten läuft er los in Richtung Nepal. Die letzte Etappe vom Golf von Bengalen zum Everest legt er rennend und wandernd zurück.
214 Tage nach dem Start in Dover, nach Hundebissen, dem Überfall mit vorgehaltener Waffe, Lebensmittelvergiftungen, Dauerregen und glühender Hitze, steht Hutchcraft im Basislager des Everest und beginnt dort mit der Akklimatisierung. Er hat mehrere Kilogramm Körpergewicht verloren, ist unsicher, ob er es auf den Gipfel schaffen wird. «Ich wusste, dass ich ein Risiko eingehe», sagt Hutchcraft kurz vor dem letzten Aufstieg.
An einem Maisonntag steht er trotzdem auf dem Mount Everest. Auf dem Weg zum höchsten Berg der Welt hat er 19 Länder durchquert und mehr als 13 000 Kilometer zurückgelegt. Zurück im Basislager, hat er einen letzten Superlativ auf Lager: «Das war das Härteste, was ich je gemacht habe.» Natürlich.