Die schiitische Miliz verkauft den Waffenstillstand als Sieg über Israel. Doch nur wenige haben Lust, zu feiern. Eine Reportage.
Zumindest nach aussen geben sich die Leute in Maaraka kämpferisch. «Der Hizbullah wird für immer in unseren Herzen sein», sagen zwei junge, schwarzgekleidete Frauen mit Kopftuch. Beide sprechen ausgezeichnetes Englisch und betonen, wie stolz sie trotz allem auf die Opfer seien, die ihr Dorf erbracht habe. Derweil dringt laute Musik aus einem Lautsprecherwagen.
Unzählige Menschen säumen die Hauptstrasse in Maaraka, einem Schiitendorf in Südlibanon. Bis vor einer Woche fielen hier noch die Bomben. Der Ort war leer, die Einwohner sind nach Norden geflüchtet. Von den Bergen rundherum schossen Kämpfer des Hizbullah Raketen auf Israel ab. Die israelische Luftwaffe wiederum belegte das hügelige Land mit einem heftigen Bombardement – auch Maaraka.
Es herrscht eine bedrückte Stimmung
Jetzt ist der Krieg vorbei. Vierzehn Monate nachdem der Hizbullah zur Unterstützung der Hamas in Gaza in Südlibanon eine zweite Front eröffnet hatte und zwei Monate nachdem diese Grenzgefechte in einen offenen Krieg gemündet waren, einigten sich Israel und die Schiitenmiliz auf einen Waffenstillstand. Die Einwohner von Maaraka sind zurück in ihrem Dorf. Bevor sie die Trümmer beseitigen, müssen sie allerdings ihre Toten bestatten.
Allein in Maaraka sind neben vierzehn Zivilisten auch sechzehn gefallene Kämpfer zu beklagen. Elf von ihnen werden heute beerdigt. Das ganze Dorf ist gekommen, um sie zu verabschieden. Doch während in den Schiitenvierteln von Beirut teilweise gefeiert wurde, herrscht in Maaraka eine bedrückte Stimmung. Zwar haben viele Anwohner ihre gelben Hizbullah-Flaggen mitgebracht. Ihre Blicke sind jedoch leer und voller Schock. Dieser Krieg, so scheint es, erschüttert Libanons Schiiten bis ins Mark.
Trümmerhaufen und ausgebombte Gebäude
Die muslimische Glaubensgemeinschaft, die in Südlibanon die Mehrheit stellt, bildet das Rückgrat des Hizbullah. Die Familien schicken ihre Söhne seit Generationen in den Kampf. Selbst in Friedenszeiten hängen überall an den Strassen Bilder von gefallenen Männern, die als Märtyrer verehrt werden. Der Sommerkrieg von 2006, als der Hizbullah Israel empfindliche Verluste beibrachte, gilt hier als göttlicher Sieg. Damals waren im Süden und in der Beiruter Schiitenvorstadt Dahiye nach Kriegsende tagelang Süssigkeiten verteilt und Feierlichkeiten abgehalten worden.
Nun hat der Hizbullah erneut einen göttlichen Sieg verkündet. Doch obwohl Naim Kassam, der neue Chef der Miliz, seinen Anhängern in seiner Rede zum Waffenstillstand Zuversicht einbleute und von einem «noch grösseren Erfolg als 2006» schwärmte, scheint der bizarre Siegesrausch der Spitze trotz gelegentlichen Feiern bei der Basis nicht richtig zu verfangen. Die Zerstörung, die der Krieg angerichtet hat, ist zu gross.
Man habe bis zu sechzig Häuser und Wohnblöcke verloren, sagt Hassan Dabouk, der Bürgermeister von Tyros, der wichtigsten Küstenstadt in Südlibanon. Er steht in einer staubigen Strasse, hinter ihm ragen Trümmerhaufen und ausgebombte Gebäude empor. «Wir haben kein Trinkwasser und zu wenig Heizöl. Zudem sind Tausende Leute obdachlos. Wir müssen dafür schleunigst eine Lösung finden.» Viel Zeit hat er nicht, denn der Winter steht vor der Tür.
Doch der Bürgermeister hat eine Mammutaufgabe vor sich. 2006 hatte der Hizbullah gleich nach Kriegsende einen Geldregen über Südlibanon niedergehen lassen. Jetzt hat die Miliz aber kaum noch Mittel dafür. Und auch Iran, der grosse Sponsor des Hizbullah, ist nach Jahren harter Sanktionen knapp bei Kasse. «Wir rechnen daher damit, dass die internationale Gemeinschaft uns hilft», sagt Dabouk trotzig. «Das ist ihre Verpflichtung.»
«Der härteste Krieg, den sie je ausfechten mussten»
Die reichen Golfstaaten, die nach dem Krieg 2006 Milliarden in das zerstörte Libanon gepumpt hatten, halten sich jedoch zurück. Geld gebe es nur gegen Reformen, heisst es aus Riad und Abu Dhabi immer wieder. Und was damit gemeint ist, wissen inzwischen auch die Libanesen selbst: eine Entmachtung des immer noch schwerbewaffneten Hizbullah, der am Golf als Vasall Irans gilt.
Die Miliz selbst tut so, als gäbe es kein Problem. Man arbeite mit der libanesischen Armee zusammen und werde den Waffenstillstand umsetzen, sagte Naim Kassem, ohne dabei auf die strittigen Punkte wie den Abzug der Kämpfer aus Südlibanon oder die Frage der Entwaffnung einzugehen. Derweil nimmt die israelische Armee trotz Waffenruhe immer noch Stellungen oder Waffenlager der Miliz unter Beschuss und vertreibt Rückkehrer mit Warnschüssen aus den Grenzdörfern.
Der Hizbullah wirkt demgegenüber fast machtlos. Inzwischen zeigt sich auch, wie schwer die Verluste waren, die die Truppe hinnehmen musste. Zwar ist noch nicht bekannt, wie viele Kämpfer gefallen sind, Beobachter rechnen jedoch mit Verlustzahlen von bis zu 4000 Mann. «Die Kämpfe waren extrem blutig», sagt ein Einwohner aus Maaraka, der zur Beerdigung gekommen ist und die müde aussehenden Kämpfer aus dem Dorf persönlich kennt. «Es war der härteste Krieg, den sie je ausfechten mussten.»
Die Schiiten wirken führerlos
Ähnlich schlimm wiegt der Verlust von Hassan Nasrallah. Der langjährige Führer, der Ende September bei einem israelischen Luftangriff in Beirut ums Leben kam, war mehr als nur ein Generalsekretär. Er war der gottgleiche Übervater, der die Gemeinschaft zusammenhielt. Wie sehr er fehlt, zeigt sich an einem Samstagabend, als seine Miliz in Beirut eine Gedenkveranstaltung an der Einschlagstelle organisiert. Tausende strömen zu der riesigen Grube inmitten von zerstörten Wohnblöcken, um ihm mit brennenden Kerzen die Ehre zu erweisen.
«Nasrallah hätte wie immer die richtigen Worte für die jetzige Lage gefunden», sagt ein junger Mann in einer Daunenjacke. Nun ertönt die Stimme des Führers allerdings nur noch vom Tonband, während vom Ort seines Todes ein paar Scheinwerfer in den kalten Nachthimmel gerichtet sind. Sein Nachfolger Naim Kassem hingegen ist derart uncharismatisch, dass ihm viele Libanesen kaum zuhörten, als er sich nach dem Ende des Krieges zum ersten Mal zu Wort meldete.
Stattdessen ist es immer noch Nasrallah, dessen Bildnis die führerlos gewordenen Schiiten in ihren ausgebombten Ortschaften an die kaputten Hauswände hängen. Manchen fällt es schwer, zu glauben, dass er tatsächlich tot ist. Andere scheinen das Ausmass der Katastrophe langsam zu begreifen. In Nabatiye, einer ebenfalls schwer beschädigten Stadt im Süden, sitzt ein muskulöser junger Mann in schwarzem T-Shirt vor den Trümmern seines Hauses und weint.
Die Grenzdörfer sind immer noch gesperrt
Im Zentrum von Tyros erklärt derweil ein Restaurantbesitzer mit steinerner Miene: «Ich muss meinen Laden jetzt zum fünften Mal neu aufbauen.» Auf die Frage, ob der Hizbullah tatsächlich gewonnen habe, zuckt er erst mit den Schultern. «Nun, es scheint so, oder etwa nicht?», sagt er dann mit einem ironischen Lächeln, während sich schmutzige Autos voller Rückkehrer durch die kaputten Strassen der Stadt quälen.
Weiter südlich hat die libanesische Armee die Zugänge zu den Grenzdörfern abgesperrt. Wann die Einwohner dorthin zurückkönnen, weiss niemand. Noch immer ist der wenige Kilometer breite Streifen von Israel besetzt. Nur die christlichen Dörfer im äussersten Osten der Grenze sind erreichbar. Dort ist die Stimmung ebenfalls finster, allerdings aus einem anderen Grund. Man habe den Hizbullah endgültig besiegt sehen wollen, sagt Ghadi Abou Samu, ein Bäcker im Ort Marjayoun. Sein Freund Farid fügt an: «Wenn er diesmal nicht entwaffnet wird, nehmen wir die Sache selbst in die Hand.»
Die christliche Minderheit in Südlibanon wollte mit dem Krieg von Anfang an nichts zu tun haben. Ihre Dörfer blieben meist verschont. Gelitten haben manche von ihnen aber trotzdem. Am Rand von Marjayoun zeigt eine Frau das Haus ihres Bruders, das nur zwei Tage vor dem Ende der Kämpfe von vier israelischen Panzergranaten zerstört wurde. Er habe all sein Geld hineingesteckt, sagt sie, während sie mit den Tränen kämpft. «Wozu das alles? Wir haben doch mit alledem nichts zu tun.»
«Sie haben genug vom Krieg»
Ihre schiitischen Nachbarn hingegen dürften ihre Söhne möglicherweise schon bald in die nächste Schlacht schicken. Denn während die Südlibanesen ihre Wunden lecken, stürmen in Syrien islamistische Kämpfer auf die Stellungen des Hizbullah-Verbündeten Bashar al-Asad zu. Die libanesische Miliz hatte den Damaszener Herrscher – über dessen Territorium ihre Nachschubwege laufen – schon einmal vor dem Untergang gerettet. Nun muss sie ihm erneut zur Hilfe eilen.
Hat der Hizbullah die Kraft dazu? In Maaraka werden inzwischen die Leichen der Kämpfer in einer Prozession durchs Dorf getragen und neben dem Friedhof aufgebahrt. Die Verwandten der Toten umringen die von Hizbullah-Flaggen bedeckten Särge. Männer starren ins Leere, Frauen weinen bitterlich. Ein schiitischer Geistlicher spricht das Gebet. Mittendrin versagt ihm die Stimme. «Ich sage dir, was die Leute hier wirklich denken», flüstert ein Bewohner derweil. «Sie sind einfach nur müde. Sie haben genug vom Krieg.»