Barbie sei für Kinder nicht geeignet, sagen Kritiker. Dabei weist Barbie als Spielzeug durchaus pädagogisch wertvolle Aspekte auf.
Es war eine Puppe, die vergangenen Sommer Millionen von Menschen ins Kino lockte: Die «Barbie»-Verfilmung der Regisseurin Greta Gerwig spielte über 1,4 Milliarden Dollar ein. Und sie trat einen regelrechten Hype los: Scharenweise standen Menschen pink gekleidet in der Kino-Schlange, zu Tausenden wurde der Film auf Social Media gefeiert. Die Verkäufe der Barbiepuppen schossen in die Höhe. Sie dürften zu Weihnachten weiter steigen.
Barbie hat sich zu einer feministischen Ikone gewandelt. Dabei deutete in ihren Kinderjahren noch nichts darauf hin. Im Gegenteil.
Sie war das «Puppenproblem Nummer 1 der Schweiz»: So zumindest wurde uns Barbie im Schweizer Fernsehen der 1960er Jahre vorgestellt. Eltern, so hiess es in einem Beitrag der «Tagesschau», enervierten sich über die modebewusste, zu ausgeprägt weibliche Puppe. Man befürchtete, sie könnte zu früh den Modefimmel oder – noch schlimmer – sexuelles Verlangen in den Mädchen wecken.
Die «Annabelle» nannte Barbie damals eine «frühreife Göre» und ein «lüsternes Sexbömbchen», und die feministische Zeitschrift «Emma» bezeichnete sie als «spinnenbeinige Anorektikerin», die sexualisiertes Spielzeug überhaupt erst in die Kinderzimmer gebracht habe. Wer die Gleichstellung der Frau forderte, konnte eine Barbie im Kinderzimmer nicht gutheissen. Wer die Frauen in der Rolle der Mutter und Ehegattin bewahren wollte, konnte es ebenso wenig.
Die Kinder aber waren Barbara Millicent Roberts – so heisst die Puppe mit vollem Namen – verfallen. Das Potenzial, Kinderwünsche zu wecken, schien unendlich: Bald war Barbie auch mit anderen Haut- und Haarfarben erhältlich. Aus Barbie, dem Mannequin, wurde Barbie, die Prinzessin, Anwältin, Meerjungfrau und Ärztin. Bis heute zählt sie zu den beliebtesten Kinderspielzeugen weltweit, über eine Milliarde Exemplare wurden verkauft.
Doch die Kritik an Barbie hat über all die Jahre nicht nachgelassen. Noch heute ist es in manchen Kreisen verpönt, seinen Kindern eine Barbie zu kaufen. Das zeigt auch ein Blick in Online-Elternforen. Eine Mutter schreibt dort etwa: «Ich finde, dass Barbies nichts für Kinder sind. Sie ziehen sie aus und bewundern ihren Traumkörper.» Andere wiederum debattieren, wie viele Barbies denn zu viele für ein Kind sind.
Dieses Jahr dürften besonders viele Barbies auf dem Weihnachts-Wunschzettel landen. Der Hype stellt Eltern vor die Frage: Kann ich meinem Kind guten Gewissens eine Barbiepuppe schenken? Und wie pädagogisch wertvoll ist sie eigentlich als Spielzeug?
So viel sei vorweggenommen: Die Antwort mag überraschen.
«Man sollte Kindern keine Barbies geben»
Der häufigste Kritikpunkt hat sich über die Jahrzehnte nicht verändert: Barbie vermittle bereits kleinen Kindern ein unrealistisches Schönheitsideal. Das sieht auch Elisabeth Lechner so. Die Kulturwissenschafterin hat in der Vergangenheit immer wieder Kritik am Spielzeug geäussert. «Barbie zeigt den Mädchen in erster Linie, wie eine schöne Frau auszusehen hat: gross, weiss, dünn und makellos. Sie hat keine Akne, keine Cellulite und keine Körperbehaarung», sagt sie.
Schon früh musste sich Barbie dem Vorwurf aussetzen, Essstörungen zu fördern. Dazu hat nicht zuletzt die «Slumber Party Barbie» von 1965 beigetragen, deren Accessoires aus einer Waage (mit der Anzeige von 110 Pfund, also 50 Kilo) sowie einem Buch mit dem Titel «How to lose weight» und der Rückseite «Don’t eat!» bestand.
Eine solche Barbie würde heute zwar nicht mehr goutiert. Die Puppe hat sich optisch in all den Jahren stark verändert – doch die Proportionen der klassischen Barbie sind über all die Jahre unrealistisch geblieben. Wie «American Addiction Centers» in einer Publikation vorrechneten, wäre Barbies langer, dünner Hals im echten Leben nicht im Stande, den übergrossen Kopf zu tragen, in ihrem Bauch hätte es bloss Platz für eine halbe Leber und ein paar Zentimeter Darm, und ihre Füsse wären so klein, dass sie auf allen vieren gehen müsste.
«Barbie mag eine Phantasiepuppe sein, dennoch vermittelt sie ein Ideal, das Mädchen später kritisch auf ihren eigenen Körper blicken lässt», sagt die Kulturwissenschafterin Elisabeth Lechner. Zwei Studien geben ihr recht: Eine Studie der Universität Sussex kam 2006 zum Schluss, dass Mädchen, die mit Barbies spielen, deutlich unzufriedener mit dem eigenen Körper sind. Eine australische Studie ergab 2017, dass Barbie-Mädchen eher dünn sein wollten.
Marika Tiggemann, Psychologin und Autorin der jüngeren Studie, zog damals gegenüber der «Herald Sun» ein radikales Fazit: «Man sollte Kindern keine Barbies geben, besonders wenn sie klein sind.»
Obwohl diese beiden Studien oft zitiert werden, ist ihre Aussagekraft umstritten. So seien etwa die Stichproben nicht aussagekräftig genug (in der einen Studie wurden 200 Mädchen, in der anderen 160 Mädchen befragt). 2015 versuchten 270 Forscher weltweit, die Studie aus Sussex zu wiederholen. Das Ergebnis: Viele Aussagen der ersten Studie liessen sich nicht erhärten. Weiter fehlen bisher Langzeitstudien, welche die Auswirkung der Puppen auf das Körperbild im Erwachsenenalter untersuchen.
Plötzlich war Barbie schon immer Feministin
Barbie war das Spielzeug, das Mädchen verunsicherte – bis 2023. Mit dem Kinofilm gelang dem Hersteller Mattel nicht nur eine der erfolgreichsten Marketingkampagnen der jüngeren Geschichte, sondern auch etwas viel Wichtigeres: ein neues Narrativ. Barbie war nun jenes Spielzeug, das Mädchen gezeigt hat, was sie alles sein könnten.
Die Puppe, die ein schlechtes Körpergefühl vermittelt, scheint vergessen. Plötzlich ist Barbie schon immer eine Feministin gewesen.
Tatsächlich gibt es für diese Auslegung der Geschichte gute Argumente: Ruth Handler, Barbies Erfinderin, wollte keine weitere Puppe schaffen, die Mädchen beim Spielen in die Mutterrolle drängt. Barbie sollte eine unabhängige, berufstätige und modebewusste Frau sein. Und das zu einer Zeit, in der amerikanische Frauen der Mittel- und Oberklasse selbstverständlich dem Hausfrauendasein frönten.
Denn Barbie, so erzählt man die Geschichte heute, war schon immer ihrer Zeit voraus: 13 Jahre bevor Frauen überhaupt am Weltraumprogramm der Nasa teilnehmen durften, war Barbie Astronautin. Acht Jahre vor Hillary Clintons Bewerbung um die US-Präsidentschaft trat Barbie als Kandidatin an. Und als es für amerikanische Frauen noch oberstes Ziel war, zu heiraten, bevorzugte es Barbie, getrennt von ihrem Freund zu leben und selbst ein Haus zu besitzen.
Ihr erstes Haus übrigens kam 1962 auf den Markt. Barbies Welt war damals weder pink noch aus Plastik. Es war ein Puppenhaus wie viele andere jener Zeit, mit einem Unterschied: Es gab keine Küche – ein radikaler Entscheid für jene Zeit.
In den letzten Jahren folgte Barbie auch dem Ruf nach mehr Diversität. So werden heute nebst Puppen unterschiedlicher Hautfarbe auch solche im Rollstuhl, mit Prothesen oder mit Trisomie-21 verkauft – und auch Barbies mit verschiedenen Körperformen.
Anne Polsak, Sprecherin bei Mattel, bestätigt, dass die Reihe mit der Trisomie-21- und der Prothese-Barbie gut verkauft wird. «Vielen Eltern ist es wichtig, ihren Kindern ein vielfältiges Spektrum an Barbiepuppen zu bieten.» Genau, den Eltern. Mattel weiss: Um Barbiepuppen zu verkaufen, muss man zuerst die Eltern überzeugen. Deshalb werde auch gezielt auf deren Bedürfnisse reagiert, sagt Polsak.
So dürfte es dem Unternehmen geradezu in die Karten spielen, dass der «Barbie»-Film Eltern mehr begeistert als die Kinder.
Barbie kommerzialisiert den Feminismus
Wenn Barbie nun also Feministin ist, divers und in realistischeren Körpermassen daherkommt – was also spricht dagegen, sie den eigenen Kindern zu schenken?
Die Kritikerin Elisabeth Lechner ist ambivalent. Sie war einerseits positiv überrascht vom Film: «Der Film hat bestimmte feministische Inhalte einem Massenpublikum zugänglich gemacht und wichtige Debatten ausgelöst.» Er sei unbestritten ein popkulturelles Phänomen, sagt Lechner.
Doch die neue feministische Erzählung überzeugt sie nicht wirklich: «Der Barbie-Hype ist ein weiteres Beispiel dafür, wie der Feminismus – eine eigentlich zutiefst radikale, widerständige Bewegung – kommerzialisiert wird.» Sie bezeichnet dies als «Pop-Feminismus».
Elisabeth Lechner findet es auch wichtig, dass man in der Kritik zwischen Kinofilm und der Barbiepuppe als Konsumprodukt und Spielzeug unterscheidet.
Es sei zwar lobenswert, dass Barbies den Mädchen berufliche Möglichkeiten aufzeigten. «Doch selbst wenn die Puppe eine Ärztin oder Anwältin darstellt, werden die Mädchen primär dazu angeregt, die Barbie neu anzuziehen und sie zu frisieren», sagt Lechner. Mit Blick auf Weihnachten findet sie: «Man kann seinen Kindern Sinnvolleres schenken als Barbies.»
Warum Barbies pädagogisch wertvoll sein können
Doch wie pädagogisch wertvoll kann das Spiel mit der dünnen Puppe tatsächlich sein? Der Spielzeugpädagoge Volker Mehringer kennt Barbie sowohl aus seinem Forschungsgebiet als auch aus dem Kinderzimmer seiner Tochter. Wenn man Barbie differenziert betrachte, gebe es durchaus gute und gelungene Aspekte an der Puppe.
Er sagt: «Zunächst einmal ist Barbie eine Spielfigur, und mit Figuren haben Kinder schon immer gespielt.» Die Puppe habe den Vorteil, dass man einerseits gut mit ihr alleine spielen könne, andererseits sei sie auch ein sehr soziales Spielzeug: «Ich kann damit zu Freunden und deren Barbiepuppen gehen, wir können gemeinsam Rollen aushandeln und uns Geschichten ausdenken.» Es ermöglicht also den Kindern, selbst Spielideen zu entwickeln. Hinzu kommt, dass das Anziehen der Kleider und Schuhe auch viel Feinmotorik erfordere.
«Barbie ist besser als ihr Ruf», sagt Mehringer. Man dürfe ein Spielzeug wie Barbie nicht auf ein Merkmal reduzieren. Mit diesem «Merkmal» spricht er das oft kritisierte Schönheitsideal an: «Wer das Spielen mit Barbies für einen Schlüsselmoment hält, wenn es um Körperbilder geht, der überschätzt die Wirkung eines Spielzeugs.»
Spielzeuge seien lediglich einer von vielen Einflüssen, so wie es Eltern, Medien oder die Schule auch seien. Zudem setze man das Kind in eine sehr passive Position, «als ob sich ein Kind nicht selber mit dem Spielzeug auseinandersetzen würde». Er selbst hatte relativ wenig Bedenken, seine Tochter mit Barbies spielen zu lassen. «Jedoch führte ich Gespräche mit meinen Kindern darüber, wie die Barbies aussehen und was sie daran gut finden», sagt Mehringer. «Oft ist man überrascht, wie gut man mit Kindern schon über ein solches Thema diskutieren kann.»
Soll man sich aber deswegen überreden lassen, den Kindern auch noch das zehnte Barbie-Set zu schenken? Volker Mehringer relativiert: «Es ist ein wenig wie mit Lego. Mit drei Steinen kann ich nichts bauen. Ich brauche eine gewisse Anzahl, um damit vernünftig spielen zu können.» Bis zu einem gewissen Punkt steigere das die Spielmöglichkeiten. «Aber wenn es dann bloss mehr vom Gleichen ist, nimmt die Qualität wieder ab.»
Manche Eltern dürften dennoch zum Schluss kommen, ihren Kindern ausschliesslich «gutes» Spielzeug zu schenken. Der Spielzeugpädagoge indes hält wenig davon, den Kindern Spielsachen zu schenken, die sie gar nicht wollen. «Nur weil ich ‹pädagogisch wertvolle› Spielsachen zu Hause habe, kommen nicht automatisch alle positiven Lern- und Bildungseffekte zum Tragen», sagt Mehringer. Und Spielzeug, mit dem nicht gespielt werde, sei pädagogisch ohnehin wertlos.