Emily Kame Kngwarreye begann erst im hohen Alter zu malen, heute erzielen ihre Werke Millionenbeträge. Sie ist zum Symbol eines Markts geworden, der inzwischen die Welt erobert.
Indigene Kunst aus Australien erlebt derzeit eine Renaissance – und sie ist längst nicht mehr nur in den Ateliers entlegener Gemeinden oder in den grossen Galerien von Sydney und Melbourne zu finden. Auf dem internationalen Kunstmarkt werden inzwischen Millionenbeträge für Werke indigener Künstler gezahlt.
Vor allem die Arbeiten von Emily Kame Kngwarreye (um 1910–1996) gehören heute zu den begehrtesten australischen Kunstwerken überhaupt. Noch bis Januar 2026 widmet die Londoner Tate Modern ihr die erste grosse Einzelausstellung in Europa.
«Die Kultur entwickelt sich ständig weiter. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es ein solches künstlerisches Schaffen wie bei den First Nations hier in Australien», sagt Maud Page, Direktorin der Art Gallery of New South Wales in Sydney. Die Institution beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen indigener Kunst, darunter auch Werke Kngwarreyes. Tatsächlich hat die Kunst der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner in den vergangenen Jahren nicht nur in Australien, sondern auch auf der internationalen Bühne eine rasante Entwicklung durchlaufen.
Grossausstellungen, institutionelle Anerkennung und eine gestiegene Nachfrage haben das Interesse neu entfacht. Anders als beim spekulativen Boom der frühen 2000er Jahre, der von Ausbeutung geprägt war, wächst der Markt heute in einem regulierteren Umfeld.
Mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 250 Millionen australischen Dollar (umgerechnet über 130 Millionen Franken) ist indigene Kunst ein gewichtiger Faktor geworden – ökonomisch ebenso wie kulturell.
Monumentales Œuvre
Auffällig ist die Dominanz indigener Künstlerinnen. Sie haben mit neuen Stilen und Techniken die Bewegung geprägt. Emily Kame Kngwarreye ist hierfür ein herausragendes Beispiel. Geboren im Northern Territory, in der Region Sandover, wuchs sie in einer Welt auf, in der die spirituelle Verbindung zum Land im Mittelpunkt stand. Erst in den 1970er Jahren begann sie mit Batik, ehe sie Ende der 1980er Jahre zur Acrylmalerei auf Leinwand überging.
«Als sie auf die Bühne trat, eroberte sie die Phantasie aller», sagt der australische Kunstkritiker John McDonald. «Da war diese kleine alte Dame, die erst mit Mitte 70 zu malen begann – und dann wie im Rausch malte . . . Sie hatte einen kometenhaften Aufstieg, und Australien erkannte plötzlich, dass es ein Phänomen in den Händen hielt.»
In weniger als einem Jahrzehnt schuf Kngwarreye ein monumentales Œuvre. Ihre Werke sind geprägt von tiefem Wissen über das Land und die weiblichen Zeremonien des «awely», die Gesang, Tanz und Körperbemalung umfassen. Sie malte stets auf dem Boden sitzend – so wie sie auch Nahrung zubereitete, Yamswurzeln grub oder Geschichten im Sand erzählte.
Ihre Malweise entwickelte sich unabhängig von den europäischen oder nordamerikanischen Strömungen ihrer Zeit. «Es veränderte unseren Respekt gegenüber den Indigenen . . . Emily wurde nicht nur als Vertreterin der Aborigines gesehen, sondern als Vertreterin ganz Australiens», so McDonald.
Energie des Landes eingefangen
Die Londoner Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der National Gallery of Australia entstand, zeigt über 70 Werke aus allen Schaffensphasen der Künstlerin – von frühen Batiken auf Baumwolle bis hin zu grossformatigen Acrylbildern, die erstmals ausserhalb Australiens zu sehen sind. Höhepunkt ist die «Alhalker Suite» von 1993, ein 22-teiliger Zyklus, der das Land ihrer Herkunft in leuchtenden Farben und Formen porträtiert.
«Im Zentrum ihrer Praxis steht wirklich das Einfangen der Energie des Landes – dieses Gefühl, dass das Land lebendig ist, sich ständig verändert und ein fühlendes Wesen darstellt», sagt Cara Pinchbeck, Kuratorin für Kunst der Aborigines und Torres-Strait-Insulaner an der Art Gallery of New South Wales.
In den Bildern finden sich Symbole aus der Natur: der Emu («ankerr»), die Yamswurzel («anwerlarr») und ihre essbaren Samenkapseln («kam»), nach denen Kngwarreye benannt ist. Ihre Werke changieren zwischen komplexen Farbschichtungen und minimalistischen Linienmustern, die an Körperbemalungen erinnern. In ihren letzten Jahren wandte sie sich schliesslich gestischen Malereien mit fliessenden Pinselstrichen zu – Gemälde voller Energie, die bis heute eine unmittelbare Wirkung entfalten.
Kunst im hohen Alter
Ihr später Einstieg in die Kunst ist kein Einzelfall. «Viele Künstlerinnen und Künstler sind erst im späteren Leben zur Malerei gekommen, weil sie zuvor andere Aufgaben hatten – insbesondere Arbeit», erklärt Pinchbeck. Kngwarreye selbst war über Jahrzehnte «stockwoman» auf einer Rinderfarm, bevor sie in Workshops erstmals Zugang zur Malerei erhielt. «In den Kunstzentren abgelegener Gemeinden ist es üblich, dass Frauen morgens früh beginnen, den ganzen Tag malen und abends wieder nach Hause gehen», so Pinchbeck. «Es ist eine echte Hingabe ans Schaffen – und zugleich ein Lehren für all jene in ihrer Umgebung über das Land.»
Die Kunstzentren sind dabei nicht nur Orte kreativen Ausdrucks, sondern auch ökonomische Lebensadern. «Manche Künstler ernähren nicht nur sich selbst durch ihre künstlerische Praxis, sondern auch ihre gesamte Familie», so die Kuratorin. Kunstschaffen sei für sie eine Möglichkeit, im Land zu bleiben und die Familie zu versorgen. «In vielen dieser abgelegenen Gemeinden gibt es kaum andere Arbeitsmöglichkeiten.» So wird Kunst zum Fundament des sozialen und kulturellen Lebens.
Der globale Erfolg von Aboriginal Art geht dabei weit über einzelne Künstler hinaus. Inzwischen ist ein internationaler Markt entstanden, der sowohl private Sammler als auch grosse Museen anzieht. Während in den 1970er Jahren noch kaum jemand ausserhalb Australiens Notiz von der Kunst aus der Wüste nahm, erzielen einzelne Werke heute Preise von mehreren Millionen Dollar.
Ambivalenz des Erfolgs
Dieser ökonomische Erfolg ist nicht ohne Ambivalenz: «Das Pendel ist zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen», kritisiert der Kunstkritiker McDonald beispielsweise. Oft werde mittelmässige Kunst unter dem Banner der Privilegierung nach vorne geschoben – «und das nützt niemandem». Auch die derzeitige Ausstellung in London überzeugt ihn nicht. «Earth’s Creation», ihr grösstes und berühmtestes Werk, sei ausgelassen worden – ebenso ihre letzten 24 kleinen, berührenden Arbeiten. Das mache die Ausstellung zu einer «verpassten Chance».
Besonders scharf kritisiert McDonald auch den Anspruch der Institution selbst: «Die Tate gratulierte sich selbst zu all den wunderbaren Dingen, die sie für indigene Künstler tut – gab aber fast nichts für die Ausstellung aus. Das ist zutiefst heuchlerisch.» Auch die Beschreibung Kngwarreyes in einem Aufsatz als «eine Art dekolonisierende Kraft» sei nur «eine modische Idee», die der eigentlichen Geschichte nichts hinzufüge.
Trotzdem markiert die Ausstellung in der Tate Modern den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung: Aboriginal Art, einst nur in abgelegenen Wüstenregionen geschaffen, hat ihren Weg in die wichtigsten internationalen Museen gefunden. Dass nun eines der bedeutendsten Ausstellungshäuser der Welt Kngwarreye eine umfassende Schau widmet, ist dabei ein längst überfälliger Schritt.
«Emily Kame Kngwarreye», Tate Modern, London, bis 11. Januar 2026.