Wenn Karl Marx von der klassenlosen Gesellschaft schwärmte, waren die Irokesen sein Vorbild. Und Margaret Mead holte ihre Ideen über Sexualmoral aus Samoa. Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl zeichnet nach, wie indigene Gesellschaften das westliche Denken beeinflussten.
Im Jahr 1554 soll den portugiesischen Bischof Sardinho in Brasilien ein grausames Schicksal ereilt haben. Er geriet in Gefangenschaft des feindlich gesinnten Stammes der Tupinamba, wurde ermordet, auf dem Rost gebraten und anschliessend verspeist. Fast vier Jahrhunderte später wurde die grausame Tat in einem provokativen Künstlermanifest des Schriftstellers Oswaldo de Andrate zum eigentlichen Gründungsakt der brasilianischen Nation überhöht und entsprechend gefeiert.
Aus der Einverleibung des Anderen soll eine neue Identität entstehen, in der die vorhandenen Gegensätze zwischen Arm und Reich, Indigenen, den Nachfahren versklavter Menschen und denjenigen der Kolonisatoren überwunden wären. Die in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstehende Künstlerbewegung des brasilianischen Modernismo richtete sich gegen die auch unter der republikanischen Verfassung weiter bestehende Vorherrschaft einer sich vornehmlich aus weissen Grossgrundbesitzern zusammensetzenden Oligarchie.
In seinem Buch «Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne» gibt der Ethnologe Karl-Heinz Kohl einen Eindruck davon, wie vielfältig die Impulse waren, die von sogenannten Naturvölkern auf die europäische Kultur-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte ausgingen. Die politische Struktur der Irokesen etwa stand Pate für die von Marx und Engels entwickelten Vorstellungen einer herrschaftsfreien Urgesellschaft. Der Soziologe Émile Durkheim entwickelte sein Werk über «Die elementaren Formen des religiösen Lebens» anhand der Gesellschaftsstruktur der Arnada, einer indigenen Gruppe in der australischen Wüste.
Tradition rekonstruieren
Der an Amerikas Nordwestküste zelebrierte Potlatsch inspirierte Thorstein Veblens Theorie des verschwenderischen Lebensstils der nordamerikanischen Oberschicht und die Überlegungen seines französischen Kollegen Marcel Mauss zur Funktion des Austauschs von Geschenken. Die Theorien von Claude Lévi-Strauss fussen auf Einsichten, die der französische Ethnologe im Kontakt mit der Gesellschaft der Bororo in Brasilien gewonnen hatte. Und die Untersuchungen, die Margret Mead mit Jugendlichen auf Samoa durchführte, hatten einen ähnlichen Einfluss auf die Liberalisierung der amerikanischen Sexualmoral wie die Bücher des Sexualforschers Alfred Kinsey.
Indigene waren allerdings nicht immer nur Untersuchungobjekte. Sie nahmen auch selbst Einfluss auf den Verlauf der Forschungen. Die Arbeit von Franz Boas an der amerikanischen Nordwestküste wäre ohne dessen Kooperation mit George Hunt, dem Sohn einer Tlingit-Mutter und eines weissen Angestellten der Hudson’s Bay Company, nur schwer möglich gewesen. Er dolmetschte, erklärte ihm die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und verschaffte ihm Zugang zu Ritualen, die Aussenstehenden normalerweise verwehrt waren.
Auf der anderen Seiten griffen indigene Gruppen, aus denen Historiker, Ethnologen und Sozialwissenschafter hervorgingen, in der jüngeren Vergangenheit häufig auf frühe Ethnografien zurück, wenn sie sich bemühten, ihre teilweise vergessenen Traditionen zu rekonstruieren oder wiederzubeleben.
Kulturelle Aneignung
So orientieren sich die westafrikanischen Dogon bei der Inszenierung ihrer Maskentänze und Rituale an dem, was Marcel Griaule in den 1930er Jahren über sie geschrieben hatte, und die Indigenen der amerikanischen Nordwestküste studierten die restaurierte Fassung des halbdokumentarischen Films «In the Land of the War Canoes» aus dem Jahr 1914.
«Die einstigen Fremdbilder», so Kohl, «sind so gewissermassen selbst zu einem Teil ihres ‹authentischen› Kulturerbes geworden.» Ein Vorzug seines facettenreichen und anschaulichen Buchs ist die Einbeziehung der Widerstandsgeschichte der neun geschilderten Stammesgesellschaften vom Erstkontakt bis in die unmittelbare Gegenwart. Sie erscheinen in seiner Sicht als handlungsmächtige Akteure, denen es immer wieder gelungen ist, ihre kulturelle Eigenständigkeit gegenüber den Bekehrungsversuchen der Missionare und den Zwangsmassnahmen der Kolonialverwaltungen zu bewahren.
Eine differenzierte Betrachtung widmet er dem heute vieldiskutierten Phänomen der kulturellen Aneignung. Ein klarer Fall ist das Beispiel der Mitglieder der Handelskammer von Seattle, die Ende des 19. Jahrhunderts bei einem Ausflug in die nördlichen Küstenregionen Kanadas einen prächtigen Wappenfahl in einer irrtümlicherweise verlassen geglaubten Siedlung der Tlingit fällten, um damit das Erscheinungsbild ihrer boomenden Stadt zu verschönern. Weniger eindeutig ist das Beispiel der von Repräsentanten der Hopi heute zurückgeforderten Kachina-Puppen. Sie waren einst eigens für den Verkauf an Touristen angefertigt worden.
Karl-Heinz Kohl: Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne. C.-H.-Beck-Verlag, München 2024. 312 S., Fr. 46.90.