Der Tod eines Jugendlichen führte in Lausanne zu Krawallen und Kritik an der Polizei, doch von bürgerkriegsähnlichen Szenen wie in Paris oder Marseille könne keine Rede sein, schreibt der Autor Peter Rothenbühler.
Haben wir bald Zustände wie in den französischen Vorstädten, wo sich die Polizei regelmässig von randalierenden Banden aus dem Quartier treiben lässt? Wo bei jedem jungen Menschen, der vor einer Polizeikontrolle flieht und dabei unglücklicherweise angeschossen wird, ganze Quartiere in Flammen aufgehen im Protest gegen die Polizei, sei es in Marseille, in Valence, in Paris oder in Grenoble?
Man könnte fast meinen, dass es in Lausanne so weit ist. Aber da sind am letzten Wochenende mehrere Dinge zusammengekommen, die man gut auseinanderhalten muss. Es stimmt, dass in der Nacht auf den Montag, kurz vor vier, ein 17-jähriger Jugendlicher auf einem 330-ccm-Motorrad, das als gestohlen gemeldet war, auf der Flucht vor der Polizei in eine Mauer gefahren und dabei umgekommen ist.
Schon Anfang Sommer ist ein 14-jähriges Mädchen unter ähnlichen Umständen gestorben. In zehn Jahren sind im Kanton Waadt acht Menschen bei Polizeinterventionen ums Leben gekommen. Nicht jedes Mal hat die Polizei einen Fehler gemacht.
Mit einer Konferenz Öl ins Feuer gegossen
In der Nacht auf Montag und am Montagabend haben rund 150 vermummte Jugendliche in der Nähe des Unfallortes Abfallcontainer in Brand gesetzt, Fenster eingeschlagen, Trolleybusse mit der Botschaft «La police tue» («die Polizei tötet») beschmiert und die aufgebotenen Polizisten mit Mörser- und Wurfgeschossen empfangen. Weil das eher selten geschieht im beschaulichen Lausanne, gibt es eine mediale Aufregung.
Vor allem, weil die Polizei von Lausanne einen kapitalen Fehler begangen hat. Ausgerechnet an diesem Montag hatte sie zu einer Pressekonferenz geladen, bei der es nicht um den Unfall ging, aber um Vorfälle, die Vorurteile gegenüber der Polizei bestätigen. Gemäss einer unabhängigen Untersuchung der Staatsanwaltschaft gab es im Polizeikorps zwei voneinander unabhängige Whatsapp-Gruppen mit je vierzig Teilnehmern, die rassistische, rechtsextreme und frauenfeindliche Sprüche austauschten. Sowohl der für Sicherheit zuständige Stadtrat Pierre-Antoine Hildbrand (der einzige Freisinnige in einer rot-grünen Stadtregierung) wie auch sein Polizeikommandant mussten sich schämen, weil sie nichts wussten.
Hätte der Stadtrat bewusst Öl ins Feuer schütten wollen, er hätte es nicht besser machen können. Diese Pressekonferenz hätte nach dem Tod des 17-jährigen Jugendlichen in der Vornacht unbedingt verschoben gehört. Nun ist das Ganze ein gefundenes Fressen für alle linksextremen Grüppchen und die linken Medien der rot-grünen Stadt, die sich mit Wollust an den Problemen der Polizei ergötzen. Natürlich sind die Whatsapp-Gruppen sofort aufzulösen, vier der verantwortlichen Polizisten sind bereits vom Dienst suspendiert, eine Strafuntersuchung läuft an.
Doch nochmals von vorne: Das Quartier Prélaz, in dem sich der Unfall ereignete, ist ein behagliches Wohnquartier in der Nähe des Stadtzentrums, mit Arztpraxen, Luxuswohnungen, populären Blöcken, Brockenhäusern und netten Cafés, am Rand eines wunderschönen Parkes (Valency) mit Blick auf den See und die Savoyer Alpen. Die Bewohner haben am Dienstagmorgen alles aufgeräumt, was die Demonstranten liegen liessen. Sie protestierten gegen die nächtliche Unruhe.
Bei der «Verfolgungsjagd» hielt das Polizeiauto rund hundert Meter Abstand zum Motorradfahrer. Die Polizisten konnten nicht sehen, dass er so jung und schwarz ist. Die Stadt Lausanne hat überall Schwellen zur Beruhigung des Verkehrs in die Strassen eingebaut, sogenannte liegende Gendarmen. Sie wirken für ein schnell fahrendes Motorrad wie eine Abflugrampe. So ist der Jugendliche mit dem schweren Töff in einer Mauer gelandet. So tragisch der Tod des jungen Menschen ist – ob dieser der Polizei angelastet werden kann, ist fraglich.
Aufrufe in Whatsapp-Gruppen
Die rund hundert Leute, die sich zum Protest gegen «die Polizei, die tötet», eingefunden haben, werden zurzeit noch näher identifiziert. Die Demonstranten kamen kaum nur aus dem Quartier oder aus dem nahen Renens, das früher als schwierige Gegend galt, heute aber voll gentrifiziert ist.
Vielmehr finden sich jedes Mal, wenn es ähnliche Vorfälle gibt, vermummte Randalierer des schwarzen Blocks aus der ganzen Westschweiz zusammen. Oft reisen sie auch aus Frankreich und der deutschen Schweiz an, meist folgen sie Aufrufen in Whatsapp-Gruppen und reisen nach der Demo wieder heim. So war es auch vor zwei Jahren bei den Sitzstreiks auf Lausannes Strassen im Namen der Bewegung Extinction Rebellion, bei denen sich auch linksextreme (Deutschschweizer) Professorinnen von der Uni Lausanne auf die Strasse klebten.
In Frankreich geht es bei den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Vermummten meist um den Drogenhandel. Das ist in Lausanne nicht der Fall. Hier werden Drogen von friedfertigen Nigerianern verkauft, leider mitten in der Stadt, aber ohne Krieg zwischen Gangs.
Was ein von Frankreich exportiertes Phänomen sein könnte, ist der mangelnde Respekt vor der Polizei. In den französischen Medien ist fast wöchentlich von Angriffen auf die Polizei zu lesen, von «rodéos urbains», Rodeos, bei denen Jugendliche mit Motorrädern durch die Stadt rasen und andere gefährden. Nachdem der 17-jährige Jugendliche Nahel 2023 bei einer Polizeikontrolle erschossen worden war – er hatte am Steuer eines teuren Mercedes gesessen –, randalierten Gewalttäter tagelang, ein Bürgermeister und seine Familie wurden in ihrem Haus überfallen. Erst als Drogenhändler ihre Geschäfte bedroht sahen und Imame zum Ende der Gewalt aufriefen, beruhigte sich die Lage.
Diese in Frankreich allseits beklagte «Verwilderung» hat vielleicht auch schon ein wenig in die Westschweiz übergegriffen, aber im Allgemeinen ist das Einvernehmen zwischen Polizei und Bevölkerung eher gut und anständig. Gerade im Kanton Waadt, wo der Respekt vor der Autorität noch etwas gilt.
Peter Rothenbühler war unter anderem Chefredaktor der Zeitung «Le Matin» und des «Sonntags-Blicks». Er lebt in Lausanne.