Auf Jahresbeginn habe ich mein Essverhalten geändert und begonnen, regelmässig Sport zu treiben. Schon nach einer Woche habe ich zwei Kilogramm an Gewicht verloren. Warum das noch kein Grund zum Jubeln ist und die Energiebilanz beim Abnehmen das Mass aller Dinge bleibt.
Dieser Beitrag ist Teil der NZZ-Serie «Ich nehme ab», die von Januar bis Mitte April 2023 erschienen ist. In den Texten beschreibt der Wissenschaftsredaktor und Mediziner Alan Niederer einen Selbstversuch und vermittelt wichtige Informationen zu den Themen Übergewicht und Abnehmen.
Fakten und Zusammenhänge: Wie Abnehmen eigentlich funktioniert
Knapp eine Woche ist es her, seit ich mein Selbstexperiment gestartet habe. Und schon bin ich zwei Kilogramm leichter! Das ist toll, klingt aber nach mehr, als es ist. Denn am meisten dürfte ich nicht Fettmasse verloren haben, sondern Wasser.
Das hat damit zu tun, dass der Körper beim Abnehmen sehr systematisch vorgeht – und seine Fettreserve wie eine heilige Kuh behandelt. Er verbrennt sie erst dann, wenn es nicht anders geht. Lieber greift der Organismus auf Zucker (Kohlenhydrate) als Energielieferanten zurück. Deshalb wird beim Abnehmen zuerst das «Zucker»-Depot in der Leber und den Muskeln geplündert. Dieser sogenannte Glykogen-Speicher besteht aus Traubenzucker-Bausteinen (Glukose) und bindet viel Wasser. Mit dem Glykogen-Abbau geht auch das Wasser verloren: Das Körpergewicht sinkt.
Wer längere Zeit vollständig auf Nahrung verzichtet, hat seinen Glykogen-Speicher nach etwa einem Tag aufgebraucht. Bei mir dürfte es etwas länger dauern, da ich ja weiterhin esse, aber einfach weniger. Damit sind wir bei einem zentralen Thema angelangt: Abnehmen beginnt mit einer negativen Energiebilanz.
Was bedeutet das? Um Gewicht zu verlieren, muss man weniger Energie zu sich nehmen, als man verbraucht. Weil wir Menschen unsere Energie in Form von Nahrung aufnehmen und die Energie als Kalorien (eigentlich Kilokalorien, kcal) bezeichnet wird, kann man auch sagen: Um abzunehmen, müssen wir mit dem Essen und Trinken weniger Kalorien zuführen, als der Körper verbrennt.
Das klingt eigentlich ganz logisch. Dennoch dürfte dieses biochemische Naturgesetz nicht allen gleichermassen bekannt sein. Sonst würden wir nicht ständig Sätze hören wie: «Mein Bruder kann so viel Schokolade essen, wie er will, er nimmt nicht zu. Bei mir dagegen genügt es, wenn ich die Schokolade anschaue, und schon zeigt das Gewicht nach oben.»
Dass man vom Anblick von Essen dick wird, ist natürlich Unsinn und meist wohl auch nicht ganz ernst gemeint. Interessanter ist die Aussage zum Bruder: Hier müsste man schon wissen, was dieser ausser der Schokolade sonst noch isst und wie sein Sportprogramm aussieht. Erst dann kann man seine Energiebilanz beurteilen.
Wie aber kann ich meinen Kalorienverbrauch berechnen? Der energetische Grundumsatz in Ruhe beträgt für einen Erwachsenen ganz grob gerechnet 1 kcal pro kg Körpergewicht und Stunde. Je schwerer man ist, desto höher ist also der Grundumsatz. Das heisst aber auch: Wenn ich mit meinen 82 Kilogramm 10 Kilogramm abnehme, habe ich danach einen geringeren Kalorienbedarf und muss weniger essen. Wird das nicht berücksichtigt, geht das Gewicht nach der erfolgreichen Abspeckkur rasch wieder hoch. Das ist einer der Gründe für den gefürchteten Jo-Jo-Effekt.
Wer seinen Grundumsatz relativ genau berechnen will, berücksichtigt neben dem Körpergewicht auch das Alter (ältere Menschen haben einen geringeren Grundumsatz als jüngere), das Geschlecht (Frauen haben einen geringeren Grundumsatz als Männer) und die Grösse (kleinere Menschen haben einen geringeren Grundumsatz als grössere). Das gelingt mit der sogenannten Harris-Benedict-Formel: Gebe ich hier meine Daten ein, beträgt mein täglicher Grundumsatz als 55-jähriger, 1,72 Meter grosser Mann 1683 kcal.
Um den täglichen Kalorienbedarf zu kennen, muss ich zum Grundumsatz noch den durch körperliche Bewegung verursachten Leistungsumsatz dazuzählen. Auch dafür gibt es im Internet hilfreiche Rechner. Als Bürolist mit relativ wenig Extra-Bewegung verbrennt mein Körper jeden Tag rund 2600 kcal. Mit regelmässiger körperlicher Aktivität kann ich den Wert auf 2850 kcal steigern.
Diese ganze Rechnerei soll uns nicht zu strengen Kalorienzählern machen. Sie kann uns aber ein paar wichtige Tatsachen vor Augen führen:
- Der grösste Teil des täglichen Kalorienbedarfs wird bei den meisten Menschen durch den Grundumsatz des Körpers und nicht durch sportliche Aktivität verbraucht. (Ausnahmen sind körperlich sehr hart arbeitende Leute, die auch einmal 8000 kcal am Tag verbrennen können.)
- Mit regelmässigem Sport kann man seinen Kalorienbedarf steigern. Der Effekt ist aber beim durchschnittlichen Freizeitsportler eher bescheiden.
- Wer rasch abnehmen will, lässt lieber beim Essen Kalorien weg, als dass er eine Extrarunde joggen geht. Das gilt insbesondere in der Anfangsphase des Abnehmens.
- Weil der Grundumsatz für die Energiebilanz so wichtig ist, ist es von Vorteil, wenn dieser mit dem Abnehmen nicht kleiner wird. Dafür muss die körperliche Betätigung, die das Herz-Kreislauf-System und die Muskeln stärkt, erhöht werden.
- Aus all dem folgt: Wer gesund abnehmen und sein Gewicht langfristig halten will, muss auf die Ernährung und die Bewegung achten. Die beiden Faktoren sind kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
Meine Erfahrungen im Experiment (Woche 1)
Sorry, aber ich muss so beginnen. Mit einem Satz, den jeder schon gehört hat: Abnehmen beginnt im Kopf. Das ist nicht sehr originell, ich weiss. Denn alles, was wir tun, beginnt im Kopf. Wo sonst? Im Magen?
Der Satz gefällt mir trotzdem. Denn er macht deutlich, dass man sich mit dem Thema Übergewicht und Abnehmen auseinandersetzen sollte, bevor man zur Tat schreitet. Ich habe mir dafür mehrere Monate Zeit genommen. Um zu recherchieren, mit Fachleuten zu sprechen und mir selber Fragen zu stellen. Etwa diese: Welche Sportart will ich als Ausdauertraining betreiben?
Ich habe mich für Nordic Walking entschieden. Es hätte auch Joggen, Velofahren oder Schwimmen sein können. Warum also Nordic Walking? Weil dieser Sport gut zu mir und meinen Vorlieben passt. Das scheint mir sehr wichtig zu sein, schliesslich soll das Training langfristig Spass machen.
Denn auch wenn der Selbstversuch offiziell nach fünf Monaten beendet ist (so war es geplant, tatsächlich dauerte er dann nur dreieinhalb Monate), werde ich meinen neuen Lebensstil über diese Zeit hinaus beibehalten müssen. Sonst gerate ich rasch wieder ins alte Fahrwasser. Wobei «müssen» das falsche Wort ist. Ich will das aus tiefstem Herzen und mit grosser Freude: schlank werden und schlank bleiben. Um mich wieder besser, gesünder und fitter zu fühlen, wie ich im Kick-off-Artikel zu diesem Selbstversuch geschrieben habe.
PS: Das nächste Mal schreibe ich über die Bedeutung meiner Ernährung. Die Kalorien werden dabei nicht die Hauptrolle spielen . . .
Meine Resultate im Experiment (Woche 1)
Mitarbeit an diesem Projekt – Medizinische Unterstützung: Prof. Dr. Marc Donath, Universitätsspital Basel (Stoffwechselspezialist), Prof. Dr. Arno Schmidt-Trucksäss, Universität Basel (Sportmediziner), Dr. Matthias Hepprich, Kantonsspital Olten (Stoffwechselspezialist), Jolanda Arnold BSc, Kantonsspital Olten (Ernährungsberaterin), journalistisch-technische Unterstützung: Frank Brunner, Nicolas Fröhner, Franco Gervasi, Reto Gratwohl, Jonas Holenstein, Alex Kräuchi, Marit Langschwager, Severin Pomsel, Annick Ramp, Roman Sigrist, Sven Titz.