Gift tötet unauffällig. Schon die alten Griechen vertuschten ihre Giftmorde als Krankheiten. Heute bringt der russische Geheimdienst mit toxischen Substanzen Regimekritiker zum Schweigen.
Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall. Der Zustand verschlechtert sich rapide. Bald kommen Organe zum Erliegen: die Nieren, die Leber, schliesslich das Herz. Was der Verlauf einer schweren Erkrankung sein könnte, sind in Wirklichkeit die Symptome einer Vergiftung.
Wer jemanden erschiesst oder erwürgt, hinterlässt eindeutige Spuren am Körper des Opfers. Doch ein Giftmord ist auf den ersten Blick kaum von einem natürlichen Tod zu unterscheiden. Das hat Gift zu einer beliebten Mordwaffe gemacht. Der Blick in die Geschichte zeigt: Eheleute nutzten es, um einen ungeliebten Partner loszuwerden, Adlige, um sich die Erbfolge zu sichern, totalitäre Regime, um ihre Kritiker unauffällig zu beseitigen.
Die ersten Gifte sind Pflanzen und Pilze
Schon in der Antike wird von Giftmorden berichtet. In Rom ereignen sie sich im Jahr 82 vor Christus offenbar so häufig, dass man es für nötig befindet, sie spezifisch in einem Gesetzestext zu verbieten. Die ersten Giftmorde der Menschheit dürften noch deutlich weiter in der Vergangenheit liegen. Denn viele Gifte wachsen einfach in der Natur. Die Tollkirsche, der Eisenhut und die Herbstzeitlose sind nur einige Beispiele für hochgiftige Pflanzen, die in ganz Europa verbreitet sind.
Besonders bekannt – und für seine tödliche Wirkung berüchtigt – ist der Gefleckte Schierling, dessen Sud in der Antike zur Hinrichtung von Verbrechern verwendet wurde. Ein Schicksal, das bekanntermassen auch den Philosophen Sokrates traf. Schierling enthält das Nervengift Coniin, das die Verbindung zwischen Nerven und Muskeln trennt. Das Opfer kann zuerst die Füsse und Beine nicht mehr bewegen, später wird der Rumpf gelähmt. Schliesslich erstickt es, weil es nicht mehr atmen kann.
Genauso alt wie der Giftmord ist die Angst, ihm zum Opfer zu fallen. Herrscher stellen Vorkoster an, die alle Speisen und Getränke probieren. Manch einer nimmt täglich kleine Dosen verschiedener Gifte zu sich, in der Hoffnung, dadurch immun zu werden. Doch eine sichere Methode, sich zu schützen, gibt es nicht. «Die Vorbeugung gegen Gifte ist schwierig, weil die, welche heimlich Gift geben, es so anstellen, dass auch die Erfahrensten getäuscht werden», schreibt der griechische Arzt Dioskorides vor 2000 Jahren.
Arsen ist der König der Gifte – und das Gift der Könige
Das perfekte Gift sieht aus wie Zucker, riecht nach nichts, schmeckt nach nichts und lässt sich nicht nachweisen: Für lange Zeit ist das perfekte Gift Arsen.
Ab dem späten Altertum, im Mittelalter, in der Renaissance und bis ins frühe 19. Jahrhundert ist es das mit Abstand beliebteste Gift. Man schätzt, dass 90 bis 95 Prozent aller Giftmorde in diesem Zeitraum auf Arsen zurückzuführen sind. Die Familien Borgia und Medici sind dafür berüchtigt, ihre Rivalen mithilfe von Arsen aus dem Weg zu räumen.
In den Archiven der Stadt von Florenz sind zahlreiche Berichte von Giftmorden aus der Renaissance zu finden, einschliesslich Preisen und Vertragsbedingungen. Erst als der britische Chemiker James Marsh 1836 eine Methode entwickelt, um Arsen nachzuweisen, verliert es als Mordinstrument an Bedeutung.
Das chemische Element Arsen kommt in geringer Konzentration überall im Boden vor. Bei dem Mordgift handelt es sich nicht um reines Arsen, sondern um eine Verbindung von Arsen und Sauerstoff, das Arsenik. Es greift im Körper gleich an mehreren Stellen in den Stoffwechsel ein, stört Enzyme, verhindert die Weiterleitung von Signalen und hemmt den Energiestoffwechsel. Das Opfer leidet an Erbrechen, Durchfall und starken Schmerzen. Beinahe identische Symptome löst die im Mittelalter weitverbreitete Cholera aus, ein Arsenmord kann daher leicht als natürlicher Tod verschleiert werden.
Parallel zu seinem Aufstieg zur Lieblingsmordwaffe der Adligen macht Arsen Karriere als Medikament gegen eine ganze Reihe von Leiden. Hippokrates soll Geschwüre damit behandelt haben, die arsenhaltige Fowlersche Lösung ist ab dem späten 18. Jahrhundert ein beliebtes Medikament gegen Malaria, Ekzeme, Asthma oder einfach gegen Fieber. Und 1910 entwickelt Paul Ehrlich auf der Basis von Arsen die Substanz Salvarsan – das erste wirksame Heilmittel gegen die Syphilis.
Auch als Droge hat Arsenik seinen Platz in der Geschichte. Besonders in den steirischen Alpen ist das Arsenikessen im 17. Jahrhundert beliebt. Der deutsche Schriftsteller Ernst von Bibra beschreibt 1855 in seinem Buch «Die narkotischen Genussmittel und der Mensch», das Arsenik mache beim Bergsteigen einen leichten Atem. Frauen nähmen es ein, um ein gesundes Aussehen und eine kräftige Gesichtsfarbe zu bekommen.
Chemische Waffen machen die Massenvergiftung möglich
Mit dem Ersten Weltkrieg beginnt eine neue Ära der Vergiftung. Eine Ära, in der Regierungen aktiv Forschung nach immer wirkungsvolleren Giften zur Massenvernichtung vorantreiben und Hunderttausende Soldaten und Zivilisten Giftgasen zum Opfer fallen.
Die ersten chemischen Waffen sind giftige Stoffe aus der Industrie, die nicht ursprünglich als Waffe konzipiert wurden, Chlorgas zum Beispiel. Doch im Verlauf des Ersten Weltkrieges gründen viele Nationen Programme zur Entwicklung neuer Gifte, speziell für den Einsatz als Kriegswaffe. Obwohl im Verlauf des Ersten Weltkriegs verhältnismässig wenig Soldaten an Giftgasen sterben, sind diese besonders gefürchtet. Denn der Todeskampf zieht sich oft tagelang hin.
Schon 1925 gibt es daher Bemühungen, die grausamen Waffen mit einem völkerrechtlichen Vertrag, dem Genfer Protokoll, zu verbieten. Doch nicht alle Nationen unterzeichneten den Vertrag, und nicht alle Vertragsstaaten halten sich daran. Chemische Waffen werden immer wieder eingesetzt: im Zweiten Weltkrieg von Japan, im Vietnamkrieg von den USA, im Golfkrieg vom Irak, um nur einige Beispiele zu nennen.
Doch neben Giften für den Kriegseinsatz suchen Regierungen auch Gifte, um möglichst unauffällig Spione oder politische Gegner loszuwerden. Insbesondere in der Sowjetunion forscht man an dem perfekten Gift: hochpotent, sicher zu lagern und kaum nachweisbar, das moderne Äquivalent zum mittelalterlichen Arsen.
Heraus kommt eine Gruppe von Nervengiften namens Nowitschok. Der blosse Hautkontakt mit einem Milligramm Nowitschok endet in 50 Prozent der Fälle tödlich. Das Gift wirkt ganz ähnlich wie der Gefleckte Schierling: Es verhindert die Weitergabe von Signalen zwischen den Nerven und von den Nerven an die Muskeln.
Seit 1997 verbietet das internationale Chemiewaffenübereinkommen die Entwicklung, die Herstellung, die Lagerung und den Einsatz chemischer Kampfstoffe. 193 Staaten haben dem Völkerrechtsvertrag zugestimmt. Die Ära der chemischen Kampfstoffe sollte damit beendet sein – eigentlich.
Regimekritiker fürchten, vergiftet zu werden
Doch noch heute tauchen immer wieder Fälle von Vergiftungen mit chemischen Kampfstoffen auf. Zu den bekanntesten gehören das Attentat auf Sergei Skripal und seine Tochter Julia im Jahr 2018 sowie die Vergiftung Alexei Nawalnys 2020. In beiden Fällen wurde Nowitschok verwendet, Skripal wurde das Nervengift auf die Türklinke geschmiert, Nawalny auf die Unterhose. Beide Attentate verübten Mitglieder des russischen Geheimdiensts.
Die Fälle mysteriöser Krankheiten und Tode unter russischen Oppositionellen und Regimekritikern haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren verdächtig gehäuft. Nicht immer konnte eine Vergiftung nachgewiesen werden, noch seltener das genaue Gift bestimmt werden. Gifte rufen heute die gleiche Unsicherheit hervor wie vor Jahrhunderten: War es wirklich eine Vergiftung? Oder doch nur eine Krankheit? Die Gifte haben sich verändert, die Angst ist die gleiche geblieben.
Obwohl die Methoden, Gifte nachzuweisen, sich deutlich weiterentwickelt haben, sind sie nicht perfekt. Wird heutzutage ein Tod als verdächtig eingestuft, veranlasst man eine toxikologische Untersuchung. Doch die gängigen Tests könnten nicht alle Substanzen abdecken, sagt der forensische Toxikologe Andrea Oestreich vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich. Etwa 1500 Stoffe könnten sie in einer routinemässigen Untersuchung finden. Das tönt nach viel, bis man bedenkt, dass die Palette der Giftstoffe Hunderttausende oder Millionen Substanzen umfasst. Nur mit einem konkreten Verdacht könne man auch exotischere Stoffe in der Regel mit einer spezifischen Analyse nachweisen, sagt Oestreich.
An einem fehlenden Verdacht scheitert mutmasslich die Aufklärung der allermeisten Giftmorde. Christian Jackowski, Leiter des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Bern, sprach in einem Artikel der NZZ von 50 Prozent unentdeckten Morden. Denn meistens wird bei der Leichenschau ein natürlicher Tod bescheinigt. Man muss davon ausgehen, dass auch heute Giftmörder häufig unentdeckt davonkommen.
Die Klassiker scheinen nicht aus der Mode zu kommen. In Sachsen-Anhalt haben kürzlich die Ermittlungen gegen einen Mann begonnen, der seine Ehefrau mit Eisenhut vergiftet haben soll. Ein Giftmord, wie er auch vor mehr als 2000 Jahren hätte stattfinden können.