Die Finanzmärkte beginnen, einen Wahlsieg von Donald Trump einzupreisen. Mit Blick auf China herrscht Ratlosigkeit über die Grösse der Konjunkturmassnahmen. Zudem: Weshalb lässt sich der Ölpreis vom Krieg nicht beeindrucken?
«Mein Lieblingswort in der englischen Sprache? Importzoll.»
Donald Trump, 45. Präsident der USA, am 15. Oktober 2024
Unser dieswöchiges «Big Picture» beginnt mit einer Geschichte, die sich der Legende nach vor bald hundert Jahren abgespielt haben soll und die auf der Etikette einer bekannten Wodka-Marke verewigt ist.
Die Geschichte soll uns als Anschauungsbeispiel für die heutige Zeit dienen.
Moskau, 1932: Josef Stalin wünscht sich einen Prunkbau als Hotel, der der Welt den Glanz, Ruhm und Fortschritt der Sowjetunion präsentieren soll. Das Hotel Moskwa, in unmittelbarer Nähe zum Roten Platz, soll die erste Adresse in der Hauptstadt des Reichs werden, seine Innenräume werden von den angesehensten Künstlern der Sowjetunion gestaltet.
Der Architekt, Alexei Schtschussew, der zuvor schon das Mausoleum für Lenin gebaut hatte, erstellte zwei Entwürfe für die Fassade des Hotels: eine dekorative, mit grossen, teils bogenförmigen Fenstern, und eine streng klassische, mit kleinen Fenstern und harten Kanten. Diese zwei Skizzen soll der Architekt Stalin vorgelegt haben. Der Generalsekretär kritzelte ein «Ja» auf die Pläne und retournierte sie an Schtschussew.
Das stellte den Architekten vor ein Dilemma. Stalin hatte die Entwürfe zwar abgesegnet, aber für welchen der beiden Vorschläge hatte er sich entschieden?
Weil sich niemand traute, den aufbrausenden Generalsekretär zu fragen, welchen Fassadenentwurf er bevorzuge, erhielt das Hotel Moskwa schliesslich eine Mischung aus beiden Vorschlägen. Bilder des historischen Baus – er wurde 2004 abgerissen – zeigen den linken Flügel mit verspielten, dekorativen Fassadenelementen und grossen Fenstern, während der rechte Flügel streng und schlicht erscheint.
Nun fragen Sie sich wahrscheinlich, was das mit der Gegenwart zu tun hat. Dieser Frage widmen wir uns im heutigen «Big Picture». Zunächst blicken wir aber auf den amerikanischen Wahlkampf und den US-Bondmarkt. Zudem befassen wir uns mit dem Ölpreis und dem grössten Albtraum der Europäischen Währungsunion.
Donald Trump wird die Wahlen vom 5. November gewinnen. Zumindest die Finanzmärkte und die Wettbörsen scheinen zu diesem Schluss zu kommen. «Die Märkte zeigen sich zunehmend überzeugt, dass Trump gewinnen wird», sagte der Hedge-Fund-Manager Stan Druckenmiller diese Woche in einem Interview mit Bloomberg, «man sieht das beispielsweise an den Aktienkursen der Banken oder in den Kursen von Kryptowährungen.»
Banken gelten als eine der Industrien, der von weiteren Deregulierungen unter einer Trump-Präsidentschaft profitieren könnten. Der Branchenindex hat diese Woche, angetrieben von starken Quartalszahlen von Banken wie Morgan Stanley, ein Allzeithoch erreicht.
An den Wettmärkten sind die Quoten von Trump seit Anfang Oktober deutlich gestiegen. Gemäss den Daten von RealClearPolitics, die sechs verschiedene Wettbörsen aggregieren, wird die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Trump derzeit auf 58% beziffert.
Selbstredend kann sich bis zum 5. November vieles ändern, und es liegt uns fern, eine Prognose abzugeben. Aber die Finanzmärkte scheinen sich auf eine zweite Trump-Präsidentschaft einzustellen.
In den Kommentaren der Wallstreet-Brokerhäuser wird zunehmend auch das Szenario eines Red Sweep als wahrscheinlich erachtet, wonach die Republikanische Partei nicht nur das Weisse Haus, sondern auch beide Kongresskammern gewinnt (Rot ist die Farbe der Republikaner). Dass die Demokraten den Senat verlieren werden, ist ohnehin fast sicher, aber im Red Sweep-Szenario würde Trumps Partei auch das Repräsentantenhaus dominieren.
Was würde das bedeuten?
Auf die Handelspolitik von Trump hat die Zusammensetzung des Kongresses keinen Einfluss. Der Präsident kann Zölle im Alleingang erheben – und Trump liebäugelt mit breit angelegten Importzöllen von 60% auf Waren aus China, 200% auf Autos aus Mexiko und 10% oder mehr aus allen Ländern. In einem Gespräch vor dem Economic Club of Chicago bezeichnete Trump «Tariffs» (Importzölle) als das schönste Wort der englischen Sprache.
Wichtig dagegen ist die Zusammensetzung des Kongresses in der inländischen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ein Red Sweep würde Steuersenkungen und Deregulierungen bedeuten, was das Wachstum der US-Wirtschaft tendenziell befeuern würde.
Aufschlussreich ist es hierbei, die Entwicklung der Renditen von US-Staatsanleihen im Auge zu behalten. Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes ist seit Mitte September um 50 Basispunkte (Bp) auf 4,1% gestiegen. Die Rendite zweijähriger Treasuries hat sich im gleichem Zeitraum um 42 Bp auf 3,96% erhöht.
Die Zinsstrukturkurve ist damit leicht steiler geworden – aber nicht, weil die Bondmärkte starke Zinssenkungen der US-Notenbank (Fed) einpreisen, sondern weil sie wieder eine höhere Prämie auf zehnjährigen Treasuries verlangen. In diesem Zusammenhang, wenn das lange Ende der Zinskurve schneller steigt als das kurze, spricht man von einem Bear Steepener. Diese Bewegung signalisiert die Erwartung einer Reflation der Wirtschaft: entweder über steigendes Realwachstum und/oder über steigende Inflation.
Die Bewegungen in der Zinskurve sind noch gering, allzu viel sollte nicht daraus gelesen werden. Aber bereits klar ist erstens, dass die bis Mitte September herrschenden Befürchtungen einer bevorstehenden Rezession abgeflaut sind und der Bondmarkt seine Erwartungen an das Tempo der Fed-Zinssenkungen gemässigt hat. Und zweitens beginnen sich die langfristigen Zinsen mit dem Szenario einer Reflation der US-Wirtschaft zu befassen.
Auch das würde zum Red Sweep passen: Trumps Importzölle werden inflationär wirken, und wenn die Republikaner den Kongress kontrollieren, werden sie aller Voraussicht nach jegliche Fiskaldisziplin über Bord werfen und das Haushaltsdefizit weiter ausdehnen.
Der Aktienmarkt mag diese Perspektive. Doch dem Bondmarkt könnte es mulmig werden, wenn sich der Red Sweep bewahrheitet.
Sie erinnen sich: Ende September ging ein Freudenschub durch die Finanzmärkte, als die People’s Bank of China und die Parteiführung eine Reihe von geld- und fiskalpolitischen Programmen zur Revitalisierung der darbenden Wirtschaft ankündigten. Wir sprachen damals von einem Whatever it Takes-Moment in Peking, wiesen aber darauf hin, dass noch keine Details zu den fiskalpolitischen Programmen bekannt seien.
Seither herrscht an den Märkten Ratlosigkeit.
Abzulesen ist sie am chinesischen Aktienmarkt, der überaus heftige Ausschläge verzeichnet und zeitweise fast die Hälfte seines Freudensprungs von Ende September abgegeben hat.
In den Preisen für Kupfer und Eisenerz, die besonders am Konjunkturzyklus der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der Welt hängen, ist die Ernüchterung ebenso zu sehen wie in den Aktienkursen von Rohstoffkonzernen wie BHP, Rio Tinto und Glencore.
Was genau kommt denn nun aus Peking?
Die kurze Antwort: Das ist noch nicht bekannt.
An Pressekonferenzen des Finanz- und des Wohnbau-Ministeriums wurden in den vergangenen Tagen zwar durchaus Pläne angekündigt. So sollen beispielsweise bis Ende Jahr bis zu 4 Bio. Yuan (562 Mrd. $) an Krediten aufgeworfen werden, um Immobilienentwickler zu unterstützen, laufende Bauprojekte abzuschliessen. Der Finanzminister stellte einen Kapitaleinschuss in die sechs Grossbanken Chinas in Aussicht, damit diese ihre Kreditvergabe erhöhen. Überschuldete Lokalregierungen sollen zudem Hilfe von der Zentralregierung erhalten.
Die Reaktion der Märkte auf diese schwammigen Ankündigungen war meist von Enttäuschungen begleitet. Ist das alles? Soll das bereits das Whatever it Takes sein, das China aus dem Sumpf zieht?
Doch dieses Vorgehen ist typisch für den Partei- und Regierungsapparat Chinas. Das 24-köpfige Politbüro unter der Führung von Generalsekretär Xi Jinping hat Ende September einen Entscheid gefällt: Chinas Wirtschaft muss gestützt werden, der Vertrauensverlust in der Bevölkerung und der Unternehmenswelt wurde offenbar als zu gefährlich erachtet. Aber das Politbüro ist ein Parteiorgan, es steht über der Regierung. Die Details über das Wie und Was müssen von den Ministerien ausgearbeitet und umgesetzt werden.
«Meiner Meinung nach ist dies ein Beweis dafür, dass Xi seinen hartnäckigen Widerstand gegen pragmatische Kurskorrekturen aufgegeben hat. Die Botschaft an die Beamten in den mehr als 40’000 Kommunalverwaltungen ist eindeutig: Eure Priorität ist die Lösung dieser Probleme, und Peking wird die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird einige Zeit dauern, bis Einzelheiten bekanntgegeben und Erfolge sichtbar werden», kommentiert der langjährige China-Beobachter Andy Rothman vom Fondshaus Matthews Asia die Entwicklung.
Statt einer einmaligen, detaillierten Ankündigung eines einzigen Stützungspakets ist also vielmehr mit einem mehrmonatigen Prozess zu rechnen, in dem immer wieder neue Massnahmen folgen. Formell dürfte ein erstes Paket Anfang November verabschiedet werden. Normal ist dabei auch, dass die Regierung Ideen an die Medien durchsickern lässt, um zu testen, wie die Märkte reagieren. Ein Beispiel ist ein Bericht des Wirtschaftsmagazins «Caixin», wonach die Zentralregierung über drei Jahre Bonds im Umfang von 6 Bio. Yuan (846 Mrd. $) emittieren könnte, um die überschuldeten Lokalregierungen zu unterstützen.
Indem Grösse und Ausgestaltung der Programme offen bleiben, kann die Regierung auch auf neue Umstände reagieren – beispielsweise, wenn Trump gewinnt und seine angedrohten Zölle auf Importen aus China umsetzt.
Das bringt uns zurück zur Analogie des Hotels Moskwa: Xi hat ein «Ja» auf die Skizzen gekritzelt und zum Ausdruck gebracht, dass der deflationäre Kriechgang der chinesischen Wirtschaft gestoppt werden muss. Wie genau das erreicht werden soll, hat der Generalsekretär offen gelassen. Er hat die Richtung vorgegeben, und diese Anweisung sickert nun durch alle Ebenen des Staatsapparats, bis zu den Kommunalregierungen. Jetzt muss umgesetzt werden.
Wir sind nach wie vor der Meinung, dass die Tragweite dieser mentalen Richtungsänderung in der Parteiführung nicht unterschätzt werden soll. Chinas Wirtschaft, nachdem sie zwei Jahre lang eine Enttäuschung nach der anderen produziert hatte, könnte im kommenden Jahr positiv überraschen. Davon dürfte Chinas Aktienmarkt, Emerging Markets im weiteren Sinn – von Brasilien bis Indonesien – sowie die Rohstoffpreise und -aktien profitieren.
Besonders positiv zu werten wäre es, wenn die Regierung in den kommenden Monaten konkrete Massnahmen zur Steigerung der Haushalteinkommen und des Konsums präsentieren sollte. Das wäre das deutlichste Signal, dass die Parteiführung begriffen hat, dass Chinas Wirtschaft unter mangelnder inländischer Nachfrage leidet und dieses Problem nicht gelöst werden kann, indem mehr Ressourcen in den Exportsektor gepumpt werden.
Was hätten Sie vor fünf Jahren gesagt, was mit dem Ölpreis passiert, wenn zwischen Israel und Iran ein Krieg ausbricht? Er würde in die Höhe schiessen, nicht wahr?
Wer jedoch die Entwicklung des Ölpreises über die vergangenen zwölf Monate betrachtet, seit dem Terroranschlag der Hamas auf Israel, sieht sich eines Besseren belehrt. Egal, welche Eskalation der Krieg im Nahem Osten erfahren hat – Israels Angriff auf Gaza; iranische Raketenattacken auf Israel; Israels Vernichtungsschläge gegen die Führung der Hizbullah im Libanon, etc. –, dem Ölpreis schien alles egal zu sein. Die Notierung der Nordseesorte Brent 📈 liegt heute tiefer als vor dem 7. Oktober 2023.
Wie ist das möglich?
Ein Teil der Erklärung liegt auf der Nachfrageseite der Rohölmärkte. Die Flaute in China und der quasi-rezessive Zustand Westeuropas dämpft den Verbrauch. Der wichtigere Teil der Erklärung liegt aber auf der Angebotsseite: Im Nahen Osten mag Krieg wüten, aber die Öl- und Gasproduktion wird weder in Saudiarabien, noch in Iran, im Irak, in Kuwait oder den Golfstaaten beeinträchtigt. Das Öl fliesst. Hinzu kommt, dass die Ölproduktion in den USA auf Rekordhoch steht und Russland weiterhin kräftig produziert und dank einer «Schatten-Tankerflotte» genügend Wege findet, sein Rohöl zu verkaufen.
Israel signalisiert gegenüber Washington, dass bei Vergeltungsschlägen gegen Iran nicht auf die Infrastruktur zur Ölförderung gezielt wird. Und der verlängerte Arm Teherans in Jemen, die Huthi-Milizen, richten ihren Raketenterror zwar auf die Containerschifffahrt im Roten Meer, nicht aber auf die Öltanker in der Strasse von Hormuz und die Produktionsanlagen in Saudiarabien und Abu Dhabi. Das Öl fliesst.
«Das Wichtigste, was die Leute übersehen, ist die Détente zwischen Iran und Saudiarabien», sagte Marko Papic, Chefstratege von BCA Research, im September in diesem Interview. «Es ist klar, dass Teheran den Huthi gesagt hat, dass Saudiarabien tabu ist.»
Ein weiteres Zeichen dieser Détente: Irans Aussenminister Abbas Araghchi besuchte am 9. Oktober Riad und traf dabei nicht nur seinen Amtskollegen der Saudi, sondern wurde auch medienwirksam von Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) empfangen.
Wir massen uns keine Prognose für die Frage an, wie lange diese Détente zwischen Teheran und Riad hält. Auch wäre es töricht, weitere Eskalationsszenarien zwischen Israel und Iran auszuschliessen.
Für den Moment aber gilt: Im Nahen Osten herrscht Krieg, doch die Produktion von Rohöl und Erdgas ist davon nicht betroffen. Die geopolitische Risikoprämie im Ölpreis ist gering. Und alle Beteiligten, von Jerusalem über Teheran bis Riad und im weiteren Sinne auch von Washington bis Peking, haben ein Interesse daran, dass das so bleibt.
Wir haben das «Big Picture» mit Russland begonnen, wir beenden es mit einem russischen Wort: кушмар («kuschmar»). Es ist eines der Wörter in der russischen Sprache, die dem Französischen entnommen wurden, als sich die Oberschicht des Landes ab dem 18. Jahrhundert nach Paris orientierte: Cauchemar, Albtraum (vor Peter dem Grossen gab es offenbar keine Albträume in Russland).
Ein Albtraum der heutigen Zeit sind die Staatsfinanzen Frankreichs und die nahezu unmögliche Aufgabe der Anfang September eingesetzten Regierung unter Premier Michel Barnier. Das Budgetdefizit im laufenden Fiskaljahr beläuft sich auf 6,1%, die Staatsverschuldung auf mehr als 110% des BIP. Barnier hat ein Budget für 2025 vorgelegt, das unter anderem Steuererhöhungen vorsieht, aber im Parlament wird er einen schweren Stand haben.
Das rechtspopulistische Rassemblement National politisiert damit, eine Abstimmung zu erzwingen, um die bereits beschlossene Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 rückgängig zu machen. Die Sozialisten auf der anderen Seite bekämpfen alle Versuche Barniers, die Ausgaben zu kürzen. Der Premier könnte im Parlament jederzeit einem Misstrauensvotum zum Opfer fallen. Die Ratingagentur Fitch hat den Ausblick für Frankreichs Bonität am 11. Oktober auf «negativ» gesetzt.
Der Bondmarkt ist nervös. Der Risikoaufschlag (Spread) zwischen Staatsanleihen Frankreichs und Deutschlands ist auf 75 Basispunkte geklettert. Genau auf diesem Niveau lag der Spread im Juli 2012, bevor der damalige EZB-Chef Mario Draghi mit seinem Whatever it Takes-Versprechen das Ende der Eurokrise einläutete.
Die Stimmungslage der Bondmärkte gegenüber Frankreich muss im Auge behalten werden. Der Spread – Sie finden ihn in unserem wöchentlich publizierten The Market Chart Pack auf Seite 25 – dient als Fieberkurve für Stress im europäischen Finanzsystem.
Während der Eurokrise waren es die Peripheriestaaten Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien, die die Finanzmärkte in Atem hielten. Nun ist Frankreich der grösste Problemfall. Und es ist nicht ersichtlich, wie das Land mit seinen derzeitigen politischen Machtverhältnissen auf einen Pfad zur Gesundung kommen soll.
PS. Vielleicht fragen Sie sich, was es mit der eingangs erwähnten, bekannten Wodka-Marke auf sich hat. Wir wollen Ihnen die Auflösung nicht vorenthalten: Eine Illustration des Hotels Moskwa ziert seit Jahrzehnten die Etikette der russischen Marke Stolichnaya.