Er war nach Goethes Einschätzung einer der begabtesten Dichter seiner Zeit, er war ein Exzentriker und Erotomane. Und halb Europa schwärmte von dem Libertin, der nichts fürchtete als die Grenzen der Sittlichkeit.
Am 19. April 1824 verstarb im Alter von 36 Jahren George Gordon Noël Lord Byron zu Missolunghi in Griechenland an den Folgen einer Lungenentzündung. Anfang 1823 hatte er das Kommando über die von ihm selber ausgerüsteten freien griechischen Streitkräfte im Befreiungskampf gegen die Türken übernommen. War Byron schon zu Lebzeiten ein Mythos, so wurde er erst recht mit seinem Tod zu einer Kultfigur. Goethe hat sie in der Gestalt Euphorions im Helena-Akt des «Faust» mit enthusiastischer Ambivalenz gespiegelt.
Nach dem Erscheinen der ersten «Cantos» seines Versepos «Childe Harold’s Pilgrimage» (1812), das seine Reisen im Mittelmeerraum zwischen 1809 und 1811 reflektiert, war Byron mit einem Schlage eine literarische Weltsensation. «I woke up one morning and found myself famous.» So seine berühmten Worte.
Mit Childe Harold betrat der «Byronic hero» die Bühne, die folgenreiche Figur des gegen die klassische Heldenrolle aufbegehrenden Aussenseiters und ironischen Rebellen, der alle Arten von Reglement mit kaustischem Überlegenheitsgestus von sich weist, zugleich aber von charakterlichen Dunkelheiten bis an den Rand der Selbstzerstörung zerrissen ist. Seine Grundstimmung ist der «Weltschmerz», den Byron als mentale Epochenerscheinung geradezu erfunden hat.
Byron war vielen das, was Nietzsche später den «Übermenschen» genannt hat. Schon im Alter von siebzehn Jahren hat Nietzsche diese Vokabel in seinem Vortrag «Über die dramatischen Dichtungen Byrons» (1861) mehrfach auf ihn und sein dramatisches Gedicht «Manfred» bezogen. Da ist die Rede von der «furchtbaren Erhabenheit dieses geisterbeherrschenden Übermenschen», vom «beinahe übermenschlichen Werk» namentlich des «Manfred».
In einem Fragment von 1881, kurz vor der Entstehung von «Also sprach Zarathustra», gibt Nietzsche gar vor, seine philosophische Dichtung «als eine Art Manfred» zu konzipieren. Ja, er glaubte Byrons Werk auch musikalisch gepachtet zu haben, als er 1872 in Opposition gegen Schumanns Bühnenmusik zu «Manfred» seine eigene «Manfred-Mediation» für Klavier komponierte, die von Hans von Bülow freilich gnadenlos als «Notzüchtigung der Euterpe» verrissen wurde.
Hang zum Unbegrenzten
Byron verkörperte für Mitwelt und Nachwelt den Typus des ausschliesslich auf sich selbst bezogenen ästhetischen Genies, das alle Fesseln der Konventionen sprengt, jede religiöse, moralische und politische Grenze überschreitet, ja seine Existenz jenseits von Gut und Böse ansiedelt. «Sich selbst alles erlaubend und an andern nichts billigend, musste er es mit sich selbst verderben und die Welt gegen sich aufregen. (. . .) Es war ihm überall zu enge, und bei der grenzenlosesten persönlichen Freiheit fühlte er sich beklommen; die Welt war ihm wie ein Gefängnis» (so Goethe zu Eckermann am 24. Februar 1825). Für sich selbst wie für seine Zeit war Byron das Inbild des Selbstschöpfertums – zugleich Prometheus und Satan in den Spuren von Miltons «Paradise Lost».
Auf der Flucht vor der Enge und Prüderie seines Vaterlandes begab er sich immer wieder auf Reisen und abenteuerliche Expeditionen zumal im Mittelmeerraum, in dem er sich mehr zu Hause fühlte als da, wo er es eigentlich war, wenn es für diesen ewig Unbehausten überhaupt ein Zuhause gab.
Der «Hang zum Unbegrenzten», den Goethe ihm zuschrieb, ging so weit, dass er schliesslich die Grenzenlosigkeit selber als Grenze empfand, die es im Sinne der Selbstbegrenzung zu überschreiten galt: in der Poesie etwa, indem er als Dramatiker mit der pedantischen Wahrung der drei Einheiten des französischen «classicisme» kokettierte.
In einem seiner langen Byron-Gespräche mit Eckermann lacht Goethe darüber, «dass er, der sich im Leben nie gefügt und der nie nach einem Gesetz gefragt, sich endlich dem dümmsten Gesetz der drei Einheiten unterworfen habe». Im wirklichen Leben aber glaubte Byron schliesslich die ästhetisierende Schranken- und Nutzlosigkeit seines bisherigen Daseins gegen die Existenz des Kriegers im griechischen Freiheitskampf vertauschen zu müssen – um, wie er am 22. Juli 1823 an Goethe schreibt, «zu sehen, ob ich dort nicht irgendwie nützlich (!) sein kann».
Byrons ausuferndes und von ihm selbst nie verheimlichtes, ja vieltönig ausposauntes Liebesleben war lange das Gespräch Europas. Er scheute keinen Skandal, zumal wenn es um verheiratete Frauen ging. Selbst der Inzest war ihm kein Tabu, verliebte er sich doch unsterblich in die eigene Halbschwester Augusta.
Bedenkenlos verstrickte er sich von Jugend an bis in seine letzten Lebenswochen nicht nur in heterosexuelle, sondern ebenso häufig in homosexuelle Beziehungen und geriet damit im puritanischen England in Gefahr für Leib und Leben. Leicht hätte auch ihn schon das Schicksal Oscar Wildes ereilen können, der Sturz vom Gipfel der Umschwärmtheit durch die Londoner High Society in den Abgrund der Diskriminierung. Diesem drohenden Debakel entzog er sich, indem er im April 1816 England endgültig verliess.
Provokation und Skandal
Byron war einer der ersten Poeten, die sich selber zum Kunstwerk stilisierten. Seine Werke sind im Grunde nichts als Sedimente seines von ihm selbst gedichteten, inszenierten und gespielten Lebensschauspiels. Er war, wie vor allem Stendhal hervorgehoben hat, der Prototyp des Dandys in der Nachfolge von George Bryan Brummell, dem von ihm neidvoll bewunderten Modekönig.
Provokation und Skandal waren Byrons Lebenselixier. Doch sein Übermenschentum war einem Makel abgerungen, unter dem er sein Leben lang litt. Er hatte einen Klumpfuss, der ihn zum Beispiel hinderte zu tanzen, ein Unding für einen Dandy seines Anspruchs – das Stigma des Teufels, Luzifers, des gefallenen Engels.
Byrons Werk ist durchzogen von Figuren, die den Makel der Natur (über)kompensieren. Kaum eine Zeile, die er geschrieben habe, sei unbeeinflusst von seinem Gebrechen, hat Mary Shelley bezeichnenderweise in ihr Exemplar von Byrons Fragment gebliebenem letzten Drama, «Der umgestaltete Missgestaltete», geschrieben, das von der Verwandlung eines Missgebildeten in eine griechische Heldengestalt handelt.
Byrons Enkel Ralph Milbanke berichtet, jener habe sich immer wieder bis an den Rand der Wahnvorstellung in die mythologische Rolle eines präexistenziellen Wesens hineinphantasiert, das wegen schwerer Schuld aus dem Himmel verbannt sei und unter Fluch und Qual eines Erdendaseins existieren müsse. Das «wunderbarste, zu eigener Qual geborene Talent» hat Goethe ihn anlässlich des Erscheinens seines «Manfred» genannt, «höchst grausam in seinen eigenen Eingeweiden wütend».
Am 22. Juni 1823 schickt Goethe Byron einen Brief mit einem eingefügten Gedicht auf die Reise nach Griechenland: «Ihm, der sich selbst im Innersten bestreitet, / Stark angewohnt, das tiefste Weh zu tragen.» Vermag Goethe Byron auch nicht körperlich seiner Wanderung nach Hellas zu folgen, so kann er es doch sehr wohl in geistiger Hinsicht: «Nicht ist der Geist, doch ist der Fuss gebunden.»
Musste Byron bei diesem Vers nicht zusammenzucken? War nicht auch sein Fuss, wenngleich in anderem Sinne, als Goethe meint, gebunden? Byron hat einen Monat später Goethe tief bewegt geantwortet. Und er kündigt an: Sollte er jemals aus Griechenland zurückkehren – eine Ahnung seines baldigen Todes –, werde er Goethe in Weimar einen Besuch abstatten.
Das grösste Talent des Jahrhunderts
Wenn Byron in seinem Tagebuch vom November 1813 schreibt: «Mich selbst von mir selbst zurückzuziehen (oh, diese verfluchte Selbstsucht)» sei der einzige Beweggrund seines Schreibens, so hat ihm das kaum jemand geglaubt. All seine Dichtungen seien Selbstspiegelungen und nur durch dieses Selbst bedeutend, haben Byron-Analytiker wie Stendhal, Puschkin oder Nietzsche immer wieder betont. Deshalb sei er, so Stendhal, «der undramatischste Dichter, den es je gegeben hat», denn «er konnte sich niemals in einen anderen Menschen versetzen», seine dramatischen Figuren, ob Manfred, Marino Faliero, Jacopo Foscari oder Sardanapal, seien sämtlich nichts als Abspaltungen seines Ich.
Niemand hat Charakter und Schicksal Byrons psychologisch hellsichtiger analysiert als Goethe. Er hat nicht nur aus «Manfred» und dem «grenzenlos-genialen» Epos «Don Juan» übersetzt, sondern sich in immer neuen Anläufen mit seinem Werk auseinandergesetzt. Für ihn war Byron «ohne Frage das grösste Talent des Jahrhunderts».
Das mutet umso erstaunlicher an, als er an ihm gerade die in seinen Augen pathologischen Züge mit kritischer Bewunderung darstellt, die ihm an den Repräsentanten der jüngsten deutschen Literatur vielfach so gründlich missfallen. In der Gestalt Byrons aber treten sie ihm in derart übermenschlicher Steigerung entgegen, dass er Eckermann energisch widerspricht, als dieser bezweifelt, dass sich aus dem Werk Byrons Gewinn für «reine Menschenbildung» ziehen lasse. Da fährt Goethe auf, ob Byrons grenzensprengende «Grandiosität» denn nicht ebenso «bildend» sei. «Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Grosse bildet.»
In der «klassisch-romantischen Phantasmagorie» des Helena-Akts hat Goethe Byron als «Repräsentanten der neuesten poetischen Zeit» in die allegorische Gestalt des Euphorion projiziert. Als Kind der «klassischen» Helena und des «romantischen» Faust ist Euphorion weder das eine noch das andere, sondern ein neues Drittes.
In seinem die Erdenschwere verleugnenden masslosen Höhenstreben stürzt er sich gleich Ikarus zu Tode: «man glaubt in dem Toten eine bekannte Gestalt zu erblicken», heisst es in der Regieanweisung – wen anders als Byron. Und der Chor, der hier nach Goethes Worten «ganz aus der Rolle fällt», das heisst aus dem dramatischen Kontext heraustritt, widmet seinen «Trauergesang» weniger der Figur des Euphorion als der «bekannten Gestalt», die sich in ihm verbirgt:
«Doch du ranntest unaufhaltsam / Frei ins willenlose Netz: / So entzweitest du gewaltsam / Dich mit Sitte, mit Gesetz; / Doch zuletzt das höchste Sinnen / Gab dem reinen Mut Gewicht, / Wolltest Herrliches gewinnen, / Aber es gelang dir nicht.»
Unverkennbar spielen die letzten Verse auf das gescheiterte Griechenlandabenteuer an, das sich nur als Parodie auf Byrons Illusionen darstellte, denn die von ihm angeheuerten griechischen Söldner, die er da in Kriegshelme nach homerischem Muster hatte stecken lassen, waren nichts als ein geldgieriger Räuberhaufen ohne alle patriotischen Ideale; und nicht auf dem Feld der Ehre fiel Byron, sondern er siechte auf dem Krankenbett im Fieber dahin. Goethes «Faust» gönnt ihm indessen die «Aureole» des grossen Dichters, die – indem «das Körperliche entschwindet» – «wie ein Komet zum Himmel aufsteigt».
Heinrich Heine, für den Byron «der einzige Mensch war, mit dem ich mich verwandt fühlte», hat seinem «Vetter», wie er ihn nennt, 1824 einen Trauergesang mit dem Titel «Childe Harold» gewidmet, der demjenigen des Goetheschen Chors ebenbürtig ist. Er spielt an auf die Überführung Byrons per Schiff nach England. Sie wird in diesem Gedicht als Fahrt über den Totenfluss zum Eingang des Hades mythisiert.
Noch einmal erscheint Byron als der mit der Natur aufs Innigste vertraute Poet. Doch das Elementarwesen in der Wassertiefe, dem der kühne Schwimmer einst so eng verbunden war, ist nun krank, und die Wellen schlagen in einer entgötterten und entpoetisierten Welt nur noch sinnentleert an den Kahn des toten Dichters.
Eine starke, schwarze Barke
Segelt trauervoll dahin.
Die vermummten und verstummten
Leichenhüter sitzen drin.
Toter Dichter, stille liegt er,
Mit entblösstem Angesicht;
Seine blauen Augen schauen
Immer noch zum Himmelslicht.
Aus der Tiefe klingt’s, als riefe
Eine kranke Nixenbraut,
Und die Wellen, sie zerschellen
An dem Kahn, wie Klagelaut.