Normalos verbringen einhundert Tage in einer WG – das Konzept von «Big Brother» ist simpel. Trotzdem begeistern sich im Jahr 2000 Millionen Deutsche für Zlatko und Jürgen.
Anfang Jahr ist auf Netflix die deutschsprachige Version von «Love is Blind» erschienen. Millionen haben in den vergangenen Jahren die Liebeswirren der «Bachelor»- und «Bachelorette»-Kandidaten mitverfolgt. Und gerade hat die 20. Staffel von «Germany’s Next Topmodel» begonnen.
Am Anfang des deutschsprachigen Reality-Show-Hypes stand aber eine andere Sendung: «Big Brother». Vor 25 Jahren hat der deutsche Privatsender RTL Zwei die erste Staffel ausgestrahlt und das Fernsehen für immer verändert.
Normalos werden rund um die Uhr gefilmt
Das Konzept von «Big Brother» ist simpel. Die Kandidaten werden in eine Wohnung gesteckt, wo sie rund um die Uhr von Kameras und Mikrofonen aufgezeichnet werden. Alle zwei Wochen wählt das Fernsehpublikum, welcher Bewohner das «Big Brother»-Haus verlassen muss. Wer die WG als Letzter verlässt, gewinnt 250 000 Deutsche Mark, also knapp 130 000 Euro.
Ob Thomas, Despina, Jana, Zlatko, Manuela, Kerstin, Alex, Andrea, Jürgen und John ahnten, wie populär sie werden würden? Ende Februar 2000 betraten sie den 153 Quadratmeter grossen Wohncontainer in Hürth bei Köln und erkundeten ihr neues Zuhause. Die Küche mitsamt Esstisch, den Garten mit dem Hühnerstall, die holzverkleideten Massenschläge, wo die Kandidaten die Betten untereinander aufteilten, als seien sie Fünftklässler und im Skilager.
In den folgenden 102 Tagen verliebten sich Kerstin und Alex, stritten Alex und John, wurden Zlatko und Jürgen Freunde. All das unter den Augen Deutschlands. Germany’s watching you.
Tausende Fans vor dem Fernsehstudio
Es war eine andere Zeit. Das Jahr 2000 war eine Welt ohne Tiktok, ohne Instagram oder Facebook. Eine Welt ohne Smartphone. Wer anderen beim Leben zuschauen wollte, musste den Fernseher einschalten. Und das taten viele: An manchen Abenden schauten 4,7 Millionen Deutsche zu, wenn RTL Zwei die Highlights des vergangenen Tages zeigte oder ein Kandidat die Sendung verlassen musste.
Besonders viele sahen zu, als sich entschied, ob Jürgen Milski oder der befreundete Zlatko Trpkovski das «Big Brother»-Haus verlassen muss. Jürgen war ein überdrehter 36-jähriger Sonnyboy mit Backstreet-Boys-Frisur, Zlatko ein 24-jähriger arbeitsloser Kfz-Mechaniker, der gerne Playstation spielte und ein bisschen dümmlich war. So zumindest stellte es RTL Zwei dar.
Einmal zeigte der Sender, wie Zlatko ein Kreuzworträtsel löste. Adelstitel mit vier Buchstaben? «Miss», schrieb er. Zlatko kannte weder Westernhagen noch Shakespeare und gab an, keine Bücher zu lesen. Er schien nichts Besonderes zu sein. Einer von vielen. Viele dachten sich wohl: einer von uns.
In der Live-Sendung, in der das «Big Brother»-Abenteuer für Jürgen oder Zlatko enden sollte, schaltete RTL Zwei zu einer Aussenreporterin. Sie stand vor dem «Big Brother»-Haus, wo sich Tausende Fans versammelt hatten. Es gab Sprechchöre und Fahnen, Jürgen-Ultras und Zlatko-Merchandise.
Zurück im Studio, meldete sich ein ernst dreinblickender Moderator im Anzug. Neben ihm wurden zwei Balken mit der Aufschrift «41,52 Prozent» und «58,48 Prozent» eingeblendet. Wenn man sich die damalige Sendung heute anschaut, ist einem, als verkünde CNN gerade, wer bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl den entscheidenden Swing State gewonnen hat. Dabei ging es um die Frage, wer das «Big Brother»-Haus verlassen muss: Jürgen oder Zlatko? «Es wird Zlatko sein», sagte der Mann im Anzug.
Zlatko musste das «Big Brother»-Haus noch am selben Abend verlassen. RTL Zwei übertrug auch seinen Abschied live. Immer wieder blendete der Sender eine etwa 40-jährige Frau ein, die erst den Tränen nah war, dann zu weinen begann.
«Big Brother» ist umstritten
Später brachte «Spiegel TV» einen achtminütigen Beitrag über Zlatko, den der Sprecher in offensichtlicher Sorge um das kulturelle Erbe Deutschlands einen «Messias der Peinlichkeiten» und einen «sprechenden Maschendrahtzaun» nannte.
«Big Brother» war in vielen Medien umstritten. Sie kritisierten die ständige Überwachung, den Voyeurismus. Sogar die Bundespolitik schaltete sich ein: Der SPD-Innenminister Otto Schily schrieb in einem Gastbeitrag für «Die Welt», «Big Brother» sei ein «massiver Verstoss» gegen Artikel 1 des Grundgesetzes, wo es bekanntlich heisst: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.»
Ebenfalls unantastbar war: die Begeisterung für Zlatko. Zwei Münchner Unternehmer erstellten die Website Rettetzlatko.de, zeitweise hatte die Site eine Million Aufrufe pro Woche. Andere verkauften Kaffeetassen und T-Shirts mit Zlatkos Gesicht darauf. Auf einem stand «Zlatko for President».
Zlatko will zum ESC – und wird ausgepfiffen
Schliesslich gewann John Milz die erste Staffel von «Big Brother», er blieb als Letzter im Haus und kassierte das Preisgeld. Zweiter wurde Jürgen, der wenige Tage später mit Zlatko den Pop-Schlager «Grosser Bruder» veröffentlichte. Die Single wurde unter anderem vom Modern-Talking-Sänger Thomas Anders produziert und hielt sich vier Wochen lang auf Platz eins der deutschen Charts.
2001 wollte Zlatko beim Eurovision Song Contest mitmachen und trat beim Vorentscheid an. Im Fernsehen sahen 10 Millionen Deutsche, wie Zlatko mit sängerischen Mängeln seinen Song «Einer für alle» performte. Als er ausgepfiffen wurde, sagte er ins Mikrofon: «Danke, ihr Fotzköpfe.»
Danach zog sich Zlatko weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Bis er 2019 bei «Promi Big Brother» mitmachte. Zlatko gab zu, dass er Geld brauche. Über die Freundschaft mit Jürgen sagte er, es sei «alles fake» gewesen.
Jürgen blieb den deutschen Wohnzimmern erhalten. Er nahm unter anderem bei der «TV total Wok-Weltmeisterschaft» auf Pro Sieben teil, moderierte bei RTL Zwei die Sendung «Die Entertainer – auf ins Rampenlicht» und trat beim «Dschungelcamp» und beim «Kampf der Realitystars» an. Das Reality-Fernsehen reproduziert sich selbst.