Am 17. Oktober 1989 kickte Diego Armando Maradona mit der SSC Neapel auf dem Letzigrund gegen den FC Wettingen. Was bleibt vom einzigen Auftritt des Weltstars in der Schweiz?
«Ein lieber Mensch, durch ihn könnte ich noch Fussball-Fan werden.» So liess sich die Chefin eines Zürcher Uhrengeschäfts im Oktober 1989 im «Blick» zitieren. Man hatte ihr nicht eine VHS-Kassette mit den Kunststücken von Diego Armando Maradona vorgeführt. Sondern sie verkaufte dem Argentinier in der Bahnhofstrasse Uhren im Wert von 70 000 Franken – in diesen Dimensionen sind warme Worte inbegriffen.
Zu diesem Zeitpunkt war Maradona längst zur Lichtgestalt aufgestiegen, einem Weltstar in eigener Sphäre. Es waren die Jahre nach Maradonas legendärem Goal mit der «Hand Gottes» an der WM 1986.
Am 17. Oktober 1989 absolvierte Maradona seine einzige Partie in der Schweiz: Mit Napoli gastierte er in der 2. Runde des Uefa-Cups auf dem Letzigrund. Als Widersacher stellte sich ihm nicht der FC Zürich, der damals wie Basel in der Nationalliga B vor sich hin vegetierte. Sondern der FC Wettingen. Der Klub ist heute Tabellensechster in der 2. Liga regional, sechste Stärkeklasse; am Dienstag gewann er 3:2 gegen den FC Küttigen.
100 Franken für einen Sitzplatz im Letzigrund: Wettingens Präsident war mit seiner Preispolitik der Zeit voraus
Doch vor 35 Jahren dominierte der Provinzverein einen Herbst lang die nationalen Sportschlagzeilen. Zunächst wegen der unwürdigen Treibjagd auf den Schiedsrichter Bruno Klötzli, der dem FC Wettingen in Sitten ein Tor verweigert hatte und danach von mehreren Spielern verprügelt wurde. Es war einer der denkwürdigsten Skandale in der Geschichte des Schweizer Fussballs, mehrere lange Sperren waren die Konsequenz.
Und wenige Wochen später aufgrund des Duells mit Maradona. Wettingen hat sich in seiner Historie ein einziges Mal fürs europäische Geschäft qualifiziert, holder kann einem das Losglück nicht sein. Der Präsident Hubert Stöckli stellte sicher, dass diese Fortune in kräftigen Einnahmen zinste: Der Stehplatz im Letzigrund kostete 40 Franken, der Sitzplatz deren 100. Und das in einer Zeit, in der Fussball Volkssport war. Und die breite Masse auch noch nicht für die belanglosesten Stadionkonzerte klaglos dreistellige Beträge entrichtete – Coldplay hätte es vermutlich schwer gehabt.
Aber Maradona zog. Schon für das Abschlusstraining hatte der findige Klubchef Stöckli Eintritt verlangt. Und warum auch nicht? Für viele Menschen war das die einzige Gelegenheit, diesen Ausnahmefussballer einmal selbst zu bestaunen – bis auf die Weltmeisterschaften waren auch Live-Spiele am TV selten.
Der Letzigrund war selbstredend ausverkauft, 23 000 Zuschauer, von den Tribünen wurde neugierig aufs Spielfeld gelinst – in der Erwartung, dass bei jeder Ballberührung ein kleines Wunder geschieht. Der «Blick» hatte die kollektive Impertinenz mit einer Reihe eigenwilliger Artikel zusätzlich geschürt: «Maradona: In Hitlers Rolls zur Hochzeit». Und: «Wird Maradona bei Servette parkiert?», das waren die Schlagzeilen. Im Prä-Internet-Zeitalter wurde offenkundig schneller verziehen, dass beides jeder Grundlage entbehrte.
Maradona ist zeitlebens zu einer Überfigur stilisiert worden, als «Fussballgott» wurde er kaum einmal apostrophiert. In Zürich war er der einzige Napoli-Profi, der in einer Suite logierte, im «Atlantis». Er nutzte die Tage in der Stadt, um seine Hochzeit vorzubereiten und die Tennisspielerin Steffi Graf zu besuchen, die er bewunderte. Im Letzigrund aber war er ein sehr gewöhnlicher Fussballer, der wenig Akzente setzte. Obwohl er nach der Auslosung frohen Mutes von einem «leichten Gegner» gesprochen hatte. Die Auguren der italienischen Sportpresse sahen das ähnlich, sie stuften Wettingen als eine Mannschaft ein, die vielleicht in der Serie C mithalten könnte, der dritthöchsten Division.
Doch der Aussenseiter spielte frech auf. Und Maradona wurde vom als Manndecker abdetachierten Schweden Jan Svensson praktisch gänzlich abgemeldet. Die NZZ schrieb nach dem 0:0 säuerlich über die Schwerfälligkeit des Stars: «Statt den Fans zuliebe zu brillieren, versteckte sich Maradona, so gut er konnte.»
Das Remis genügte Wettingen aber nicht zur Qualifikation für die nächste Runde: Im Rückspiel gewann Napoli ohne den suspendierten Maradona dank einem späten Penaltytreffer 2:1 – ein Unentschieden hätte Wettingen aufgrund der damals noch gültigen Auswärtstorregel zur Sensation gereicht. Zum Auswärtsspiel war das Team mit dem Privatjet angereist – ein Erlebnis für eine Mannschaft, in der das Gros der Spieler um die 5000 Franken verdiente.
Für viele war es der einsame Höhepunkt der Karriere. Brian Bertelsen, Wettingens Torschütze, erzählte der «Luzerner Zeitung» vor ein paar Monaten ungläubig, dass ihn später ein asiatischer Tourist beim Skifahren in Zermatt um ein Foto bat, das sei doch schon er, der sich einst mit Napoli gemessen habe?
Nach der Niederlage im mittlerweile in Stadio Diego Armando Maradona umbenannten Hexenkessel am Fusse des Vesuvs, waren die Wettinger untröstlich. Der Penaltyentscheid wurde tagelang kontrovers diskutiert – war es nicht äusserst verdächtig, dass der Referee eigentlich in einem maltesischen Casino als Croupier arbeitete? Der Präsident Stöckli jedenfalls zürnte: «Ich bin stolz auf unsere Mannschaft. Aber wir sind betrogen worden. Das kostet uns eine Million Franken.» Und der trotz einer Bänderverletzung formidabel haltende spätere Schweizer Nationalgoalie Jörg Stiel wurde so zitiert: «Der Penalty war ein schlechter Witz des Schiedsrichters.»
Der Personenkult um Maradona irritierte den jungen Wettinger Torhüter Jörg Stiel
Es ist eine Meinung, die Stiel längst revidiert hat. Stiel, 56, heute Torhütertrainer bei den Grasshoppers, sagt: «Nein, aufhören, es war ein klarer Penalty. Heute gibt den jeder Schiedsrichter. Wir waren besser und hätten weiterkommen müssen. Aber wir sind nicht wegen des Penaltys ausgeschieden. Sondern weil wir die Tore nicht gemacht haben.»
Stiel hat im Fussball einiges erlebt, er spielte in Mexiko und fing sich einst eine Ohrfeige von Eric Cantona ein. In St. Gallen und Mönchengladbach war er selbst Publikumsliebling, aber er sagt, der Personenkult um Maradona habe ihn befremdet: «Ich weiss noch, wie wir auf den Platz liefen. Und er bis aufs Spielfeld von Journalisten und Fotografen umringt war. Irgendwann habe ich gesagt: ‹Ich müsste mal durch und hier Fussball spielen, wenn’s euch nichts ausmacht?› Es war bizarr, mit welcher Öffentlichkeit er sich herumschlagen musste.»
Und Stiel sagt auch: «Es ist tragisch, was mit ihm passiert ist, das hat mich auf einer menschlichen Ebene sehr berührt. Ich bin mir sicher, dass er im heutigen Fussball noch mehr erreicht hätte. Weil er besser geschützt worden wäre. Er ist ja von sehr vielen Menschen ausgenutzt worden, ich fand das schlimm.»
Sich Maradonas Strahlkraft ganz entziehen – das schafften allerdings auch die Wettinger nicht. Schon vor der Partie legten sie intern fest, wer das Trikot mit dem im November 2020 verstorbenen Maradona tauschen darf: Das Privileg wurde dem Captain Martin Rueda zuteil. Das Shirt dürfte heute eine schöne fünfstellige Summe wert sein. Genug jedenfalls, um bei einem Juwelier an der Bahnhofstrasse im grossen Stil Kommissionen tätigen zu können.