Am Kostümverleih für den diesjährigen Sechseläuten-Kinderumzug sind über 670 Kinder fündig geworden. Dabei hätte ein Wasserrohrbruch beinahe für eine Katastrophe gesorgt.
Im Saal des Kirchgemeindehauses Neumünster, einer Mischung aus Mehrzweckhalle und Konzertsaal, hängen die farbigen Kostüme sorgfältig auf mehr als dreissig Kleiderständern. Ob Rüschen, Falten, Puffärmel oder Reifröcke – es hat für alle etwas dabei.
Drei Mädchen in dunkelroten Kleidern und weissen Rüschenkragen hüpfen vor dem Spiegel hin und her, während sich eine noch umzieht. «Wow!», ruft Alexandra und streicht sich mit beiden Händen über den schweren Samt den Bauch hinauf, den goldenen Verzierungen entlang. «Die nehmen wir!» Ihre Freundinnen Lisa und Nicola nicken. «Wir können uns ja noch schminken!»
Die vier Mädchen sind zwischen 12 und 13 und laufen bereits zum fünften Mal am Kinderumzug des Sechseläutens mit. Sie wissen genau, was sie wollen. Ganz früh hätten sie sich geeinigt: «Wir schauen schon vorher im Internet, welches Kleid uns am besten gefällt», sagt Alexandra. «Wir wollten unbedingt die Amazonen.» Die mit den schwarzen Dreispitzhüten und den grossen, weissen Federn.
Da tritt plötzlich eine andere Mutter zu ihnen und fragt: «Wollt ihr die Kostüme wirklich? Können wir sie nicht abkaufen?» Alexandra, Lisa und Nicola schauen sich an. «Doch, wir wollen sie!», sagen sie. «Nun, wir haben es versucht», sagt die Mutter zu ihrer Tochter und verschwindet wieder.
Die Mädchen haben die letzten vier Amazonen-Outfits ergattert.
Dabei ist der Kostümverleih für den Sechseläuten-Kinderumzug gerade einmal vor knapp zwei Stunden gestartet. Vier Tage wird er dauern, 678 Kinder werden dieses Jahr eingekleidet.
Damit alles reibungslos abläuft, mussten Eltern und Kinder im Voraus einen Anprobetermin buchen. Online statt wie früher per Telefon. Denn der Andrang hat die Telefonzentrale immer wieder zum Absturz gebracht.
3000 Kinder zwischen 5 und 15 Jahren laufen jeweils am Kinderumzug mit. Dabei sein dürfen auch jene, die keiner Zunft angehören. Dazu kommen dieses Jahr 210 Kinder aus dem Gastkanton Appenzell Ausserrhoden. Losmarschiert wird am Sechseläuten-Sonntag, 14. April, um 14 Uhr 30.
950 Kostüme und eine Reise durch 800 Jahre Geschichte
Drinnen rennen freiwillige Helferinnen zwischen den Kleiderständern hin und her und bringen die gewünschten Kostüme zu den Tischen, über die sich ungeduldige Kinderkörper beugen. Denn nur die Helferinnen dürfen die Kostüme holen.
58 Mal fand der Kostümverleih bereits statt. Das Ganze gehört längst zur Tradition des Sechseläutens. Die 950 Kostüme, Trachten und Fräcke aus verschiedenen Epochen sind eine Reise durch 800 Jahre Geschichte. Von Renaissance über Rokoko bis zu Biedermeier und Belle Epoque. So werden sie auch am Umzug präsentiert: streng geordnet nach Kleider-Epochen. Erst Barock, dann Rokoko und schliesslich alles Moderne.
Seit über fünfzig Jahren dabei
Zuvorderst im Raum, wo sonst die Konzertbühne ist, sitzen an zusammengeschobenen Tischen zwei Frauen, die an diesem Nachmittag immer wieder zu Retterinnen werden. Vor ihnen: Nähmaschinen, Fadenspulen und Plastikboxen mit säuberlich sortierten Knöpfen.
Eine Helferin rennt herbei: «Ein Notfall, der Gummizug ist ab», ruft sie. «Ich mach das schnell», sagt Gabriele Klemm und winkt sie zu sich heran. Links neben Klemm sitzt Kathrin Zehnder. Zusammen flicken die beiden Frauen die kleinen Notfälle. Solche, die bei der Kleiderrücknahme vom letzten Jahr übersehen wurden oder während der Anprobe passiert sind – eine offene Naht, ein abgefallener Knopf oder eben ein loser Gummizug.
Die Näherinnen Klemm und Zehnder helfen seit über fünfzig Jahren beim Kinderumzug und am Kostümverleih mit. Zuerst als sogenannte «Chäfer», Erwachsene, die am Kinderumzug mitlaufen, dann als Vermieterinnen und seit zehn Jahren als Näherinnen. Was sich in dieser Zeit verändert hat? «Die Mütter sind anspruchsvoller geworden», sagt Klemm. Die Kinder seien rasch zufrieden, während die Eltern oft mit klaren Vorstellungen kämen.
Dabei ist jedes Kostüm ein Schmuckstück. «Einige davon sind uralt», sagt Klemm und blickt konzentriert durch die dunklen Ränder der Brille auf die Kostüme. Manche wurden von ihren Vorgängerinnen genäht, andere bekamen sie von den Zünften geschenkt. Wieder andere wurden von den Fachschülerinnen und -schülern der Modeschule Modeco genäht. Zum Beispiel die blau-weissen Matrosenanzüge.
Die Prinzessin mit den Turnschuhen
Die Kleiderstangen leeren sich langsam. Der 7-jährigen Céline ist das egal. Sie dreht und dreht sich vor dem Spiegel, bleibt stehen, macht einen Knicks und hält dabei sanft den Überrock ihres Prinzessinnenkleids mit den Fingerspitzen fest. Unter dem goldenen Glitzerkleid blitzen ihre Turnschuhe leuchtend rot hervor.
Dreimal hat sie sich umgezogen. Das gelbe Rokoko-Kostüm mit dem weiten Reifrock, den passenden Netzhandschuhen und den Schleifen am Décolleté soll es nun sein. Das gefalle ihr am besten, sagt Céline und strahlt mit einem zahnlosen Lächeln.
Die Chefin
Hinter der ganzen Veranstaltung steht Christa Gabsa. Eine zierliche Frau, die inmitten des Trubels völlig gelassen wirkt. Sie leitet bereits zum elften Mal den Kostümverleih und bildet mit sechs weiteren Frauen das Kostümkomitee. Dank ihnen und den 80 Freiwilligen bekommt jedes Kind das passende Kostüm, gerade diejenigen, die keiner Zunft angehören. Nur so können die Kostüme zu einem vergleichsweise günstigen Preis von 20 bis 60 Franken pro Stück vermietet werden.
Die Organisation rund um den Kostümverleih sei für sie fast eine Vollzeitbeschäftigung, sagt Gabsa. Denn: «Nach dem Sechseläuten ist vor dem Sechseläuten.»
Besonders in diesem Jahr. Mitte August platzte im Kostümlager ein Rohr und überschwemmte den Raum. Das Komitee musste alle Kleider an einen trockenen Ort bringen und auf Schäden untersuchen. Sie konnten erst zwei Wochen vor dem Kostümverleih in das alte Lager zurückgebracht werden. «Anstatt in den Bergen zu sein, war ich im Keller», sagt Gabsa. Aber: «Die strahlenden Gesichter der Kinder machen alles wieder wett.»
Gabsa wird gerufen. Es gebe ein Problem mit einem Rückenverschluss, sagt eine Helferin. Zusammen verschwinden sie zwischen den Kleiderständern.
Die Teenies
Kurz vor 17 Uhr tritt am ersten Tisch der Härtefall ein. Vier Mädchen haben sich Biedermeierkleider ausgesucht, aber ein Rock ist zu kurz. «Das passt nicht zum Erscheinungsbild», sagt die Chefin Christa Gabsa streng. Prüfend hält sie ihre Handfläche an den Rand des Rocks. «Schau, das ist mehr als eine Handbreite über dem Boden.»
Ein zu hohes Kleid, das geht für Gabsa nicht. Schliesslich soll es im Umzug optisch zu den anderen passen.
Das Mädchen im Rock verzieht das Gesicht. «Bitte, das wird schon gehen!» Sie verspricht, flache Schuhe zu tragen.
Die Helferin hat schon ein neues Kleid von der Stange geholt, diesmal eine Tracht. Die Mädchen rümpfen die Nase. Wie wäre es denn als Trägerinnen des Gemeindebanners, in Lederhosen, mit weissem Hemd? «Braune Hosen? Nie im Leben!», rufen die Mädchen. Die Mutter kommt hinzu, sie will mit der Chefin sprechen. «Diese braunen Hosen!», sagt sie. Da verstehe sie die Mädchen. Sie hätten sich doch so gefreut.
Was nun? «Es ist immer eine Abwägung zwischen dem Aussehen und dem, was die Mädchen mögen», sagt Gabsa. Am Ende überwiegt das Letztere. Gabsa stimmt zu, und die vier Mädchen dürfen die Kostüme behalten. Aber nur mit Ballerinas. Kein Problem, heisst es. Auch wenn es zu kalt ist. Zufrieden ziehen sie davon. Gabsa sagt: «Es ist nicht immer einfach. Aber am Ende klappt es meistens. Irgendwie.»