In der Präsidentenpartei mehrt sich der Unmut. Ein früherer Fraktionschef muss als wilder Kandidat zur Wiederwahl ins Abgeordnetenhaus antreten, weil ihm die Partei einen Vertrauten der Kulturministerin vorzieht.
Im Zentrum von Paris ist vom laufenden Parlamentswahlkampf fast nichts zu erkennen, abgesehen von den offiziellen Parteiplakaten vor den öffentlichen Schulen und den Titelblättern am Zeitungskiosk. In der Rue Cler, einer der raren Fussgängerzonen im 7. Arrondissement unweit von Eiffelturm und Invalidendom, verteilt der bisherige Abgeordnete Gilles Le Gendre Flugblätter. Seine Zuversicht vor dem ersten Wahlgang am kommenden Sonntag hält sich sehr in Grenzen, ist er doch seit kurzem ein «wilder Kandidat». Das nicht nur, weil er den Entscheid seines Staatspräsidenten Emmanuel Macron, die Wahl kurzfristig vorzuziehen, als unnötig, unsinnig und hochriskant kritisiert hat.
Schockiert hat ihn ausserdem, dass Macron weder ihn noch andere historische Mitstreiter seiner Bewegung zu Rate gezogen oder wenigstens informiert hat. Der 66-jährige ehemalige Journalist und Unternehmensberater war von Beginn an mit dabei, als Emmanuel Macron 2016 seine Bewegung En marche startete. Le Gendre hatte damals ein feines politisches Gespür, denn 2017 wurde er als Abgeordneter der in La République en marche (LREM) umbenannten Mittepartei gewählt. 2018 wurde er LREM-Fraktionschef und erhielt damit einen Schlüsselposten in der Nationalversammlung.
Als Parteisoldat liess er dort die Politik der Regierung und des Präsidenten gutheissen. Das fiel ihm nicht besonders schwer. Denn er bezeichnete sich selbst als Liberaler, der sich «wirtschaftspolitisch eher rechts, in Kultur- und Gesellschaftsfragen eher links und darum bei Wahlen etwas schizophren» fühlte, bevor er bei Macron und dessen Devise «links und auch rechts und in der Mitte» seine politische Familie fand.
Sorge bereitet Le Gendre heute in seinem Wahlkreis nicht etwa das nationalistische Rassemblement national (RN), das landesweit stark auf dem Vormarsch ist und nach der Regierung greifen möchte. Sorge bereitet ihm vielmehr ein Konkurrent aus dem eigenen Lager: Le Gendres Partei, inzwischen unter dem Namen Renaissance, hat im 7. Arrondissement einen Gemeinderat aus den Reihen der konservativen Partei Les Républicains (LR) nominiert.
Le Gendre sagt, dies sei wegen des Druckes von Rachida Dati erfolgt. Die konservative Politikerin ist kürzlich von Macron zur Kulturministerin ernannt worden. «Als sich Madame Dati unserer Regierung anschloss, sollte uns das stärken. Doch was tut sie nun bei dieser so enorm wichtigen Parlamentswahl? Sie sät Zwietracht in unserem Wahlkreis.»
Gegen Macron aber will Le Gendre trotz allem nichts Böses sagen, auch wenn er zu wissen glaubt, wo die Ränke gegen ihn geschmiedet wurden. «Ich denke, das wurde zwischen Dati, der Parteiführung und vielleicht dem Staatspräsidenten abgemacht», sagt er. Datis einziges Interesse sei es, ihre politische Gegnerin Anne Hidalgo als Bürgermeisterin von Paris abzulösen, ganz egal, was das für andere bedeuten könne.
Die nach der Niederlage von Macrons Partei bei der Europawahl so unvermittelt angeordnete Parlamentswahl hat den Macronismus in eine schwere politische Krise gestürzt. Gilles Le Gendre ist nur einer, der sie weiter anheizt, wenn er im Namen der «Majorité présidentielle», einer seit 2022 schon fiktiven «präsidialen Mehrheit», als «Wilder» gegen den offiziellen Kandidaten antritt.
Er kann dabei auf die Unterstützung prominenter Macronisten zählen, unter anderem von ehemaligen Ministern und der bisherigen Vorsitzenden der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet. Auch sie haben Macrons Vorgehen öffentlich kritisiert und konsterniert darauf hingewiesen, dass mit Macrons abrupter Aktion viele Parteikollegen ihren Posten verlieren könnten. Das gleiche Los droht auch Hunderten von parlamentarischen Assistenten.







