Der Tag des brutalen Anschlags von Hanau jährt sich zum fünften Mal. Angehörige der Opfer fordern mehr Aufklärung. Bislang ohne Erfolg.
Vor fünf Jahren, am 19. Februar 2020, tötete ein Mann in der Innenstadt von Hanau in Südhessen neun junge Menschen. Er erschoss sie am Hanauer Neumarkt in einer Shisha-Bar, in einem Café und in einem Auto sowie im Stadtteil Hanau-Kesselstadt vor einem Kiosk und in einer Bar. Alle neun Opfer haben einen Migrationshintergrund.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen: Der Mann wollte gezielt Menschen mit Migrationshintergrund töten. Er war psychisch krank und hatte ein rechtsextremes Weltbild. Einige Wochen vor der Tat hatte er im Internet ein Manifest veröffentlicht, das seine Gesinnung auf 24 Seiten beschreibt. Nach der Tat ging der 43-jährige Tobias R. nach Hause, tötete seine Mutter und sich selbst. Zu einem Prozess kam es nicht.
Der Anschlag hat in Deutschland eine Debatte um Rechtsextremismus und Rassismus angestossen. Medien und Politik diskutierten die Frage, wie sicher sich Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland fühlen können. Die Tat von Hanau war der dritte Anschlag innerhalb weniger Monate. Zuvor hatte ein Neonazi in Wolfhagen bei Kassel den Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen. In Halle verübte ein rechtsradikaler Täter einen Anschlag auf eine Synagoge und ermordete zwei Personen.
Fünf Jahre nach der Tat haben die rechtsextremen Straftaten in Deutschland zugenommen. Bis im November 2024 verzeichnete die Polizei 33 963 Delikte im Bereich «politisch motivierte Kriminalität – rechts», die meisten davon sind Propagandadelikte oder Volksverhetzungen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das eine Zunahme von über 17 Prozent. Ferda Ataman, die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, sagte im Deutschlandfunk, bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund steige die Angst vor Diskriminierung und Gewalt. Vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsdebatte hätten viele das Gefühl, sie stünden «unter Generalverdacht».
Könnten zwei der Opfer noch leben?
Nach dem Anschlag in Hanau entstand auch eine Debatte über mögliche Versäumnisse der Behörden. Zum einen sind da der Täter und die Frage, wie er zu seinen Waffen kam. Im Jahr 2002 empfahl ein Psychiater, den Mann wegen einer Psychose in eine Klinik einzuweisen. Trotz der psychischen Erkrankung besass Tobias R. zum Zeitpunkt des Anschlags zwei Waffen und war Mitglied eines Sportschützenvereins.
Am Abend des Anschlags versuchte eines der Opfer, Vili-Viorel Paun, mehrfach den Notruf zu alarmieren. Doch er konnte niemanden erreichen. Recherchen verschiedener Medien legen nahe, dass der Notruf in dieser Nacht unterbesetzt war. Und dann ist da noch der verschlossene Notausgang der «Arena-Bar». Hier stellt sich die Frage, ob die verschlossene Tür die Flucht der Opfer verhinderte.
Die Familie von Paun hat Anfang Jahr wegen des Notrufs eine Strafanzeige eingereicht. Die Staatsanwaltschaft Hanau lehnte neue Ermittlungen aber ab. Es sei nicht klar, was passiert wäre, hätte er den Notruf erreicht, lautet die Begründung.
Auch Armin und Dijana Kurtovic haben am Tag des Anschlags von Hanau ihren Sohn verloren: Hamza Kurtovic. Er war in der «Arena-Bar», als der Täter eintrat und auf die jungen Männer im Raum schoss. Bis heute fordert die Familie weitere Aufklärung zu jener Nacht, in der ihr Sohn getötet wurde. Sie glauben, ihr Sohn könnte noch leben, hätten die Behörden in den Jahren zuvor ihren Job gemacht. Anfang Februar reichte die Familie bei der Staatsanwaltschaft Hanau eine Strafanzeige ein. Die Staatsanwaltschaft Hanau wies die Anzeige vergangene Woche in allen Punkten zurück.
Die Familie Kurtovic ist mit den Vorstössen schon mehrmals gescheitert, es war die dritte Strafanzeige in diesem Fall. Sie richtete sich gegen mehrere Einzelpersonen und gegen die Behörden. Im Zentrum stand der verschlossene Notausgang der «Arena-Bar». Der Strafverteidiger Dennis Bock erstellte für die Anzeige ein Gutachten, er reichte die Klage Anfang Februar im Namen der Familie ein. In einem Interview mit dem «Stern» sagte er, es spreche vieles dafür, dass die Gäste über den Notausgang hätten fliehen können, wenn die Tür nicht unrechtmässig verschlossen gewesen wäre. Zu dieser Einschätzung kam auch ein Team des Forschungsnetzwerks «Forensic Architecture».
Warum aber war die Tür verschlossen? Laut der Aussage eines Zeugen in einem anderen Verfahren hatte der Betreiber der Bar die Tür auf Anweisung der Polizei geschlossen. So steht es in der neuen Anklage. Er tat dies offenbar, damit Menschen bei einer Polizeirazzia nicht durch den Notausgang im hinteren Teil der Bar flüchten können. Laut der Staatsanwaltschaft Hanau ist das jedoch irrelevant. Ob die beiden Opfer, Hamza Kurtovic und Said Nesar Hashemi, tatsächlich zur Tür gerannt wären und ob sie hätten fliehen können, könne niemals hinreichend geklärt werden.
Oberbürgermeister weist Vorwürfe zurück
Für die Behörden gelten die Ermittlungen nach dem Anschlag in Hanau als abgeschlossen. Im hessischen Landesparlament beschäftigte sich ein Untersuchungsausschuss mit der Aufarbeitung. Im Abschlussbericht, der im Dezember 2023 veröffentlicht wurde, werden die Versäumnisse festgehalten. Sowohl der Notruf als auch der verschlossene Notausgang kommen darin vor. Weiter kritisiert der Bericht die Waffenbehörde Main-Kinzig. Diese hatte dem psychisch kranken Täter Waffenbesitzkarten ausgestellt.
Den Eltern von Hamza Kurtovic reicht das nicht. Sie wollen, dass zur gesamten Vorgeschichte des Anschlags ermittelt wird. Auch bei dem Oberbürgermeister der Stadt Hanau, dem Sozialdemokraten Claus Kaminsky, hat sich Kurtovics Vater vor einigen Wochen gemeldet. In dem Brief, der der NZZ vorliegt, fordert er die Stadt Hanau auf, Verantwortung für den verschlossenen Notausgang zu übernehmen. Die Stadt habe lange vor dem Anschlag von der verschlossenen Tür gewusst und habe nichts unternommen. Kaminsky weist die Vorwürfe zurück. Fehler und Versäumnisse müssten Gegenstand von Ermittlungen sein, schreibt er.
Die Familie Kurtovic will die jüngst abgelehnte Strafanzeige weiterziehen, wenn nötig bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Armin Kurtovic, der Vater des Ermordeten, sagt: «Da müssen wir jetzt durch.»
An diesem Mittwoch findet zum fünften Jahrestag des Anschlags in Hanau eine Gedenkfeier statt. Aber auch darüber, wie man der Opfer in Hanau gedenkt, gibt es unterschiedliche Meinungen. Viele der Hinterbliebenen wünschten sich, dass das Denkmal auf dem Marktplatz stehen sollte, neben dem Denkmal der Brüder Grimm.
Die Stadt lehnte das ab. Der Platz sei schon den Grimm-Brüdern gewidmet. Ausserdem sei der Standort wegen des Wochenmarktes nicht ideal. Anfang November 2024 einigte sich eine Mehrheit der Hinterbliebenen mit der Stadt auf den Platz vor dem geplanten «Haus für Demokratie und Vielfalt». Kurtovics Vater schreibt in seinem Brief an den Hanauer Oberbürgermeister, die Stadt dürfe für das Denkmal weder Namen noch Bilder seines Sohnes verwenden.