Seit bald zwanzig Jahren rennt der einstige Trendsetter des Schweizer Eishockeys dem Erfolg hinterher. Nun, mit einer kostenschonenderen Philosophie, scheint Lugano dem Bruch mit der Vergangenheit näher als je zuvor.
Wer sich der Cornèr-Arena von der Südseite her nähert, der spaziert vorbei an mehr als 80 Jahren Klubgeschichte des HC Lugano. Auf einer Wand sind die Eckdaten und Persönlichkeiten verewigt, die den Klub gross gemacht haben: angefangen bei den ersten Spielen auf dem Natureis des Muzzanosees, vorbei an den alten Helden wie Elwyn Friedrich, Roland Bernasconi oder Alfio Molina. Und eher früher als später steht man vor den Bildern jener zwei Männer, welche aus dem unbedeutenden Tessiner Klub einen Trendsetter und eine nationale Marke gemacht haben: Geo Mantegazza und John Slettvoll.
Der Ingenieur Mantegazza führte die statischen Berechnungen beim Bau der ersten Eishalle aus, der legendären Resega. Dabei verlor er sein Herz an diesen Klub und finanzierte, mittlerweile schwerreich, jenes Projekt, das der schwedische Eishockey-Lehrer Slettvoll zum «Grande Lugano» der 1980er Jahre formte. Dieser fand seinen Widersacher im Trainer Bill Gilligan; dessen SC Bern forderte die Luganesi heraus und beendete deren Dominanz 1989 in einer legendären Finalserie.
Am vergangenen Wochenende nun trafen die zwei rivalisierenden Klubs von früher gleich zweimal aufeinander. Lugano gewann beide Partien (3:2 und 5:4) und verschaffte sich einen Vorteil im Kampf um die direkte Play-off-Qualifikation.
Sie wollten den Erfolg mit Geld erzwingen. Deshalb haftete ihnen das Image der «Millionarios» an
Der HC Lugano und der SC Bern sind heute beide nach ihrem Platz in der National League Suchende. Der SCB gewann von 2016 bis 2019 zwar drei Titel in vier Jahren, danach fiel er aber in ein monumentales Loch. Der letzte Meistertitel Luganos liegt bereits fast 18 Jahre zurück. Seither erreichte der stolze Klub noch zweimal den Play-off-Final, verlor aber jeweils gegen den SCB (2016) und die ZSC Lions (2018).
Auf der Suche nach einer neuen Identität sind die Tessiner den Bernern trotzdem einen Schritt voraus. Marco Werder ist der Mann, der sich als Architekt des neuen HC Lugano hervorgetan hat. Er ist ein Spross des Vereins. Seine Eltern stammen zwar aus der Deutschschweiz, doch Werder kam im Tessin zur Welt und hat im Hockey Club schon praktisch alles gemacht, was es zu machen gibt.
Die Etablierung als Spieler der ersten Mannschaft gelang ihm einst auch deshalb nicht, weil er ausgerechnet in jener Zeit Fuss zu fassen versuchte, als sich Lugano ein eigentliches All-Star-Team leistete; mit Profis wie dem Russen Igor Larionow, dem Tschechen Petr Rosol und den Schweizer Nationalspielern Jörg Eberle, André Rötheli, Sven Leuenberger, Patrick Howald, Fredy Lüthi, Patrick Sutter oder Sandro Bertaggia.
Im Sommer 2019 trat die Präsidententochter Vicky Mantegazza, die unterdessen das Zepter von ihrem Vater übernommen hatte, an Werder heran und fragte: «Willst du den Klub nicht als CEO führen?» Werder verkaufte seine Vermarktungsagentur und machte das, was er heute als dritten Neuanfang in seinem Leben bezeichnet.
Der HC Lugano lag in jenem Moment am Boden. Erfolg hatte er kaum noch. Hoch waren nur die Löhne der Spieler und die Ansprüche des Publikums. Gross war der Spott, der dem Klub vor allem aus der Deutschschweiz entgegenschlug. Praktisch jährlich wechselte er seine Trainer. Kleinere und grössere Skandale wie die Fanausschreitungen an der ZSC-Meisterfeier 2001 in der Resega oder eine Steuerbetrugsaffäre um den ehemaligen Spieler und Präsidenten Beat Kaufmann trübten das Image. Aus dem Stolz von Geo Mantegazza war ein unkontrollierbarer Zirkus geworden.
Werder sagt: «Wir sind dann zusammengesessen und haben versucht, eine neue Vision zu entwickeln. Wir schrieben drei Punkte auf, zu denen wir uns verpflichten wollten.» Werders Fazit lässt sich in einem Satz zusammenfassen: «Wir wollen den Erfolg nicht erzwingen, sondern ihn aufbauen.» Diesen Satz hatte der HC Lugano trotz all seiner Schlüssigkeit jahrelang ignoriert, und er verpulverte Geld, weshalb ihm der Ruf der «Millionarios» anhaftete.
Den Erfolg am besten langsam aufbauen zu wollen, ist kein revolutionärer Ansatz, und formuliert ist er schnell. Doch umgesetzt werden kann er nur, wenn auch das Umfeld mitzieht. Und dieses gilt in Lugano als ausgesprochen verwöhnt und wählerisch. Der Klub wird nicht von einem gemeinsamen Trotz zusammengehalten und angetrieben wie etwa der Kantonsrivale HC Ambri-Piotta. In Lugano zählt vor allem der Erfolg.
Die Stadt ist nicht nur ein touristischer Hotspot, sondern auch ein wichtiger Bankenplatz mit internationaler Ausstrahlung. Mailand und seine glamourösen fussballerischen Aushängeschilder Inter und AC sind nah und verlockend. Der Kanton Tessin ist mit rund 354 000 Einwohnern im nationalen Vergleich ein Zwerg. Der Ausländeranteil beträgt 28,1 Prozent, die Arbeitslosigkeit liegt über dem nationalen Durchschnitt. In vielerlei Hinsicht liegt ihm das sonnige, offene Italien näher als der nördlichere, kältere und unwirtlichere Teil der Schweiz.
Das macht die Arbeit im Sottoceneri doppelt schwierig. Wer sich vom Leben benachteiligt und an den Rand gedrückt fühlt, will seine Mannschaft am Wochenende nicht auch noch gegen Deutschschweizer verlieren sehen. Mit dem abhandengekommenen Erfolg blieben auch die Fans weg. Vor zehn Jahren sank der Zuschauerdurchschnitt im Stadion bis gegen 4000. An gewissen Abenden verloren sich nur noch knapp 2000 Anhänger in die Resega.
Grün – die Farbe der Hoffnung und von Geo Mantegazza
Der Klub hing am Tropf seines treuen und spendablen Mäzens Geo Mantegazza. Der harte Kern der Tifosi in der Curva Nord weiss, wem er es zu verdanken hat, dass der HC Lugano weiterhin ein Faktor im Schweizer Spitzen-Eishockey ist. Als der Patron im vergangenen Jahr seinen 95. Geburtstag feierte und zu diesem Anlass mit seiner Familie wieder einmal ins Stadion kam, kleideten sich alle Zuschauer in Grün. Geos grüner Pullover war in den Jahren seiner Präsidentschaft ein Markenzeichen und Glücksbringer gewesen.
Geld mag im Eishockey die wichtigste Währung sein, wichtiger noch als Tore. Doch andere Klubs bieten heute ähnlich lukrative Verdienstmöglichkeiten und bessere sportliche Perspektiven. Lugano musste sich deshalb neu orientieren und dem Beispiel anderer Vereine folgen, die nach Trouvaillen suchen, welche der Konkurrenz aus Genf, Zürich oder Zug entgangen sind. Marco Werder erzählt: «Als Calvin Thürkauf im Sommer 2021 signalisierte, dass er seine Zelte in Nordamerika abbrechen will, um nach Europa zurückzukehren, haben wir uns intensiv um ihn bemüht.»
Thürkauf schloss sich zuerst zwar seinem Jugendklub, dem EV Zug, an, gewann mit diesem den Titel, entschied sich danach aber für Lugano. Hier wurde er zum Leistungsträger; er ist zurzeit als Liga-Topskorer und Captain das Gesicht des neuen HC Lugano. Zur Bezeugung der Wertschätzung hat ihm der Klub einen bis 2029 gültigen Vertrag gegeben.
Il best player di questa sera è Calvin Thürkauf. ⚪⚫#NonMollareMai pic.twitter.com/rKK0wXds5Q
— Hockey Club Lugano (@OfficialHCL) January 2, 2024
Eine andere Vorzeigefigur ist Luca Gianinazzi, der mit erst 31 Jahren in seiner zweiten Saison als Headcoach des HC Lugano steht. Er hat seine Trainerkarriere 2017 als Assistent bei Luganos U-17-Junioren begonnen und sich Schritt für Schritt nach oben gearbeitet. Werder sagt, das Ziel sei gewesen, Gianinazzi behutsam aufzubauen. «Doch als das Experiment mit Chris McSorley an der Bande nicht klappte, mussten wir ihn frühzeitig ins kalte Wasser werfen.»
Ausserhalb von Lugano hat man Gianinazzi anfänglich nicht ganz ernst genommen. Wegen seiner Jugend sprach man despektierlich vom «Kind an der Bande». Mittlerweile ist der Spott verstummt. Mit ihm spielt der HC Lugano kontrollierter als unter seinen zahlreichen Vorgängern. Doch um endgültig aus deren Schatten treten zu können, fehlt Gianinazzi ein Meistertitel.
Der Massstab ist John Slettvoll, den sie in Lugano noch heute ehrfürchtig «il mago» nennen, «den Magier». Im November wurde der Schwede in die Ruhmeshalle des Klubs aufgenommen, als er für ein paar Tage ins Tessin zurückgekehrt war. Seine Legende lebt weiter. Bleibt der HC Lugano in seiner Geschichte gefangen?