An der «Revolution der Würde» auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz beteiligten sich Millionen. Eine Nobelpreisträgerin und ein Kämpfer von damals erklären, weshalb die damalige Wende hochaktuell bleibt.
Als die Ukraine vor zehn Jahren gegen ihren prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch revoltierte, standen Olexandra Matwitschuk und Andri Mamaliha monatelang mittendrin. Der heute 54-jährige Anwalt bemannte nachts Barrikaden als Teil des Ordnungsdienstes aus Afghanistan-Kriegsveteranen. Tagsüber vertrat er Verhaftete bei polizeilichen Anhörungen. Matwitschuk suchte mit ihrer Initiative «Euromaidan SOS» nach Verschwundenen.
Beide spielten eine wichtige Rolle während der sogenannten Euromaidan-Proteste auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Maidan). Ausgelöst wurden diese im November 2013 durch Janukowitschs Entscheidung, kein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen und sich stattdessen vollständig Moskau zuzuwenden. Doch rasch ging es um mehr – um Freiheitsrechte, Korruption, einen demokratischen Staat. Die Ukrainer sprechen von der «Revolution der Würde», in der sie ihre Souveränität unter grossen Opfern erkämpft haben. Sie kämpfen bis heute.
Ukrainische Geschichte der Auflehnung
Mamaliha und die 40-jährige Matwitschuk sehen die Wurzeln der ukrainischen Aufmüpfigkeit in der Geschichte. Sie selber wurden durch Begegnungen mit ehemaligen sowjetischen Dissidenten beeinflusst. Diese hatten in der späten Sowjetunion auch um Anerkennung der eigenen Sprache gerungen. «Ich war als Schülerin so beeindruckt von ihnen, dass ich entschied, Rechtswissenschaften zu studieren und für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen», erzählt die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Olexandra Matwitschuk.
Beide nahmen schon früh an Protesten teil. Als mehrere tausend Menschen Ende 2000 gegen die Ermordung eines berühmten Journalisten durch regierungsnahe Kreise demonstrierten, war Mamaliha dabei. Er war über die autoritären Tendenzen im Land empört und darüber, dass er als Afghanistan-Veteran vom Staat weder Anerkennung noch Hilfe bekam. Matwitschuk begann ihre Karriere als Aktivistin mit der Orangen Revolution von 2004, die sich gegen den Wahlbetrug zugunsten Janukowitschs richtete.
Die Protestbewegungen waren wichtige Vorläufer des Euromaidan, doch sie besassen nicht dessen breite Basis. «Die Orange Revolution brachte die Mittelschicht auf die Strasse», sagt Mamaliha. «Aber die ‹Revolution der Würde›, das war die breite Masse. Das waren Städter, Bauern, Leute aus der Peripherie, mit hohem und niedrigem Bildungsniveau.» Auch Matwitschuk staunt, wie damals Rechtsextreme neben Vertretern sexueller Minderheiten auf dem Unabhängigkeitsplatz standen. «Das war ein Moment der völligen Einheit.»
Die Forderung nach Janukowitschs Rücktritt trugen auf dem Unabhängigkeitsplatz alle mit. Wenn Mamaliha aber sagt, man habe diesen «mit allen Mitteln, notfalls auch mit Gewalt» erzwingen wollen, spricht er für die militanteren Kräfte. Matwitschuk findet, es sei um die Teilhabe an Europa gegangen, wobei sie dies mehr als Wertehaltung denn als politisches Ziel formuliert: «Wir wollten ein zivilisiertes Land, wo jedermanns Rechte geschützt werden, die Gerichte unabhängig sind und die Polizei nicht wahllos Leute verprügelt.»
Keine politische Führung des Protests
Dass die Gemeinschaft auf dem Maidan keine politische Führung besass, machte ihre Stärke wie ihre Schwäche aus. Die Versuche, den Unabhängigkeitsplatz zu räumen, liefen ins Leere, weil jegliche Repression gegen angebliche Rädelsführer wenig Wirkung zeigte. Die Gewalt der Polizei und der Spezialeinheit Berkut wurde zunehmend wahllos, was die Wut der Demonstranten noch erhöhte.
Gleichzeitig war es zunächst eine relativ kleine Gruppe, die mit dem versuchten Sturm auf das Parlament die entscheidende Eskalation am 18. Februar 2014 in Gang setzen konnte. Die Sicherheitskräfte schossen an den nächsten drei Tagen scharf in die Menge. 108 Zivilisten und 13 Polizisten wurden getötet, vor allem am 20. Februar. Als die Oppositionsführer sich unter ausländischer Vermittlung auf einen Kompromiss mit Janukowitsch einigten, lehnten die Demonstranten diesen rundweg ab. Einen Tag später floh der Präsident.
Ob er selbst oder seine russischen Einflüsterer den Schiessbefehl gaben, bleibt bis heute ungeklärt. Der plötzliche Kollaps von Janukowitschs Apparat und seiner politischen Basis machte den Weg frei für eine proeuropäische Regierung. Er schuf aber auch ein Vakuum an der Staatsspitze, das Moskau ausnützte: Bereits am 27. Februar umstellten Bewaffnete das Regionalparlament auf der Krim und legten damit die Basis für die Okkupation der Halbinsel. Im Donbass trat Russland einen Krieg los, der bis Ende 2021 mehr als 11 000 Kämpfer das Leben kostete.
Während Matwitschuk als Vorsitzende des Zentrums für Bürgerfreiheiten ihre Arbeit als Menschenrechtlerin und bei der Reform des Justizwesens fortführte, zog Mamaliha nach dem Maidan in den Krieg. Er folgte dem Kommandanten seiner Truppe aus Afghanistan-Veteranen ins nationalistische Freiwilligen-Bataillon Aidar und nahm 2014 an verlustreichen Kämpfen um den Flughafen der seither besetzten Stadt Luhansk teil. «Das war meine Pflicht gegen Russlands Aggression.»
Die Themen des Maidan bleiben aktuell
Rückblickend findet Mamaliha, dass es damals an Entschlossenheit gefehlt habe. Sein Land sei für den Krieg nicht bereit gewesen und habe aus dem Ausland kaum Unterstützung unterhalten. «Auch Luhansk hätten wir halten können, aber unser Präsident und die Europäer wollten das mit Verhandlungen regeln.» Der ehemalige Präsident Poroschenko sei eben eine Übergangsfigur mit Vergangenheit im alten Regime gewesen. «Wir wählten das kleinere Übel.»
Die Fragen von Korruptionsbekämpfung und Souveränität, um die sich die «Revolution der Würde» drehte, bleiben für Mamaliha ebenso relevant wie das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern. Seit 2022 kämpft er wieder in der Armee, dieses Mal gegen eine noch viel grössere russische Invasion. Er wirkt müde und nicht sehr optimistisch.
Die Probleme an der Front, vor allem mit der Mobilisierung neuer Soldaten, führt er auf schwache Institutionen zurück, die unter Druck versagten. Russland werde nun stärker, während der ukrainische Präsident vor allem auf Umfragewerte schiele. «Aber wenn wir unseren Staat verlieren, spielen die keine Rolle mehr.» Eine Alternative zum Kampf sieht er nicht.
Olexandra Matwitschuk macht sich ebenfalls keine Illusionen über die Fragilität der Ukraine. «In unserer Geschichte gehörte der Staat nie uns, wir wurden wie eine russische Kolonie regiert», sagt sie. Das wirke nach. «Doch 2014 brachte eine Veränderung unserer Mentalität: Die Ukrainer lernten, Verantwortung zu übernehmen.»
Sterben für die Freiheit
Im Gegensatz zur Orangen Revolution, als die Demonstranten nach Hause gegangen seien und der Politik die Arbeit überlassen hätten, habe die Mobilisierung nach dem Euromaidan angehalten. Matwitschuk erzählt, wie sie während des Massakers vom 20. Februar 2014 die Namen der Getöteten dokumentierte. Einen Überlebenden fragte sie dann, weshalb er nicht davongerannt sei, als die Sicherheitskräfte in die Menge geschossen hätten. «Er sage mir, er wolle der Person ins Auge schauen, die unbewaffnete Menschen töte.»
Die Leute hätten damals gelernt, so die Überzeugung Matwitschuks, dass sie bereit sein müssten, für ihre Freiheit zu sterben. Diese Qualität erkläre auch, weshalb die Ukrainer im Februar 2022 Widerstand geleistet hätten, obwohl alle erwartet hätten, dass ihr Staat in drei oder vier Tagen kollabiere. «Das macht mich optimistisch. Auch wenn unsere unmittelbare Zukunft düster aussieht.»