Die erste Phase des Abkommens sieht angeblich eine sechswöchige Kampfpause vor, in der Dutzende israelische Geiseln freigelassen werden sollen. Danach soll ein definitives Ende des Krieges vereinbart werden – ob das gelingt, ist allerdings fraglich.
Nach 15 Monaten des Krieges sowie monatelangen, zähen Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas ist am Mittwochabend endlich ein Durchbruch erzielt worden: Die beiden Kriegsparteien haben sich auf eine Waffenruhe geeinigt. Dies haben die vermittelnden Staaten – Katar, Ägypten und die USA – am Mittwochabend bestätigt. Der katarische Ministerpräsident Mohammed Al-Thani kündigte an, dass das Abkommen am kommenden Sonntag, dem 19. Januar, in Kraft treten werde. Bis dahin würden die letzten Details geklärt werden.
Die Vereinbarung muss allerdings noch von der israelischen Regierung bewilligt werden. Diese soll laut Medienberichten am Donnerstagmorgen um 11 Uhr Ortszeit zusammentreten. Eine Zustimmung gilt aber nach Einschätzung von Beobachtern als Formsache. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat sich bislang noch nicht öffentlich geäussert.
Die Vereinbarung beruht zu weiten Teilen auf jenem dreistufigen Plan, den der amerikanische Präsident Joe Biden schon im Mai 2024 vorgeschlagen hatte. In einer ersten, sechs Wochen dauernden Phase sollen zunächst 33 israelische Geiseln aus der sogenannten «humanitären Kategorie» freigelassen werden – in erster Linie Kinder, Frauen und ältere Menschen. Im Gegenzug soll Israel mehr als 1000 palästinensische Häftlinge freilassen, darunter offenbar auch mindestens 250 zu lebenslänglicher Haft verurteilte Terroristen.
Gleichzeitig sollen die humanitären Hilfslieferungen in den Gazastreifen massiv gesteigert werden, während sich die israelische Armee aus den Bevölkerungszentren des Gazastreifens zurückzieht. Laut Berichten wird sie aber in einer 800 Meter breiten Pufferzone entlang der Grenze der Enklave vorerst präsent bleiben. Im Verlauf der ersten Phase sollen dann die Verhandlungen über die Bedingungen der zweiten Phase des Abkommens beginnen, die zum Ziel hat, eine Einigung über ein definitives Ende des Krieges zu erzielen. Eine dritte und letzte Phase sieht dann einen Plan zum Wiederaufbau des völlig zerstörten Gazastreifens sowie für eine Nachkriegsordnung vor.
Wer folgt auf die Hamas?
Im Gazastreifen hat die Aussicht auf ein baldiges Ende der Kämpfe Euphorie ausgelöst: Tausende Palästinenser strömten am Mittwoch feiernd auf die Strassen. In Israel hoffen derweil die Angehörigen der 94 Geiseln, die sich noch immer in der Gewalt der islamistischen Terrormiliz befinden, ihre Liebsten bald wieder in die Arme schliessen zu können. In die Vorfreude mischt sich aber auch Angst: Es ist nicht klar, wie viele der Geiseln noch am Leben sind. Die israelische Armee hat 34 von ihnen bereits als tot erklärt.
Ohnehin bleiben zentrale Fragen weiterhin offen: So waren vergangene Verhandlungsrunden stets daran gescheitert, dass die Hamas ein definitives Ende des Krieges forderte, während Israel dies kategorisch ablehnte. Das nun erzielte Abkommen sieht vor, dass die Verhandlungen und die Waffenruhe weitergehen sollen, sofern innerhalb von sechs Wochen keine Einigung erzielt werden kann.
Gleichzeitig ist unklar, wer im Gazastreifen anstelle der Hamas die Kontrolle übernehmen soll – und ob diese überhaupt dazu bewegt werden kann, ihre Macht abzugeben. Auf jeden Fall stehen in den kommenden Wochen weitere, mühselige Verhandlungen bevor, deren Erfolg nicht garantiert ist. So ist nicht ausgeschlossen, dass das Abkommen schon vor der zweiten Phase scheitert und der Krieg erneut losgeht.
Während eine grosse Mehrheit der Israeli das Abkommen zur Befreiung der Geiseln begrüsst, gibt es durchaus auch kritische Stimmen, insbesondere aus dem rechten Spektrum. Sie sprechen von einer «Kapitulation» vor den Bedingungen der Hamas und beklagen, dass nicht sofort alle israelischen Geiseln freigelassen werden.
Zudem wird sich zeigen müssen, welche innenpolitischen Folgen die Waffenruhe in Israel haben wird. So hatte der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, bereits am Dienstag angekündigt, dass seine Partei im Falle eines Abkommens aus der Regierungskoalition austreten werde. Allerdings kann er damit die Regierung nicht zu Fall bringen – auch ohne die sechs Abgeordneten seiner Partei «Jüdische Kraft» verfügte die Koalition über mehr als die Hälfte der Sitze in der Knesset.
Ben-Gvir rief deshalb am Dienstag den ebenfalls rechtsextremen Finanzminister Bezalel Smotrich dazu auf, sich ihm anzuschliessen. Zuvor hatte Smotrich ein Abkommen mit der Hamas als «Katastrophe» für die nationale Sicherheit Israels bezeichnet und erklärt, er werde dieses nicht unterstützen. In einer Videobotschaft am Mittwochvormittag liess er allerdings offen, ob er ebenfalls aus der Regierung austreten werde. Sollte er dies tun, droht der Netanyahu-Koalition der Zusammenbruch.
Der Trump-Effekt
Der amerikanische Präsident Joe Biden sagte derweil am Mittwochabend, das erzielte Abkommen werde ein «permanentes Ende des Krieges» mit sich bringen. Es sei nicht nur «das Resultat des extremen Drucks, unter dem die Hamas steht sowie des veränderten regionalen Gleichgewichts nach dem Waffenstillstand in Libanon und der Schwächung Irans, sondern auch der hartnäckigen und mühevollen amerikanischen Diplomatie».
In den vergangenen Monaten hatte sich die Biden-Regierung immer wieder erfolglos um eine Einigung bemüht. Mehr als einmal waren die die Gespräche zwischen Israel und den Islamisten aus Gaza in letzter Minute gescheitert, weil die Kriegsparteien neue Forderungen stellten. Dass nun eine Einigung zustande gekommen ist, dürfte allerdings nicht zuletzt mit einem gewissen «Trump-Effekt» zusammenhängen. So hatte Donald Trump, der am 20. Januar ins Weisse Haus einziehen wird, damit gedroht, dass die «Hölle losbrechen» werde, falls die Geiseln bis zu seinem Amtsantritt nicht befreit seien.
In den vergangenen Tagen war auch Trumps designierter Nahost-Beauftragter Steve Witkoff an den Verhandlungen beteiligt gewesen und hatte dabei offenbar Hand in Hand mit Bidens Team gearbeitet. Laut Medienberichten soll Witkoff sowohl auf die Hamas als auch auf Netanyahu grossen Druck ausgeübt haben. Am Mittwochabend gehörte Donald Trump denn auch zu den ersten, die die Berichte über das Abkommen bestätigten. In einer Mitteilung schrieb er: «Wir haben ein Abkommen für die Geiseln im Nahen Osten. Sie werden bald freigelassen. Danke!»
Nur eine Atempause?
15 Monate nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, bei dem die Terroristen 1200 Israeli töteten und mehr als 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppten, sollen nun die Waffen erstmals für mehrere Wochen schweigen. In Israels Krieg gegen die Hamas wurden weite Teile des Küstengebiets zerstört und laut der von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde mehr als 46 000 Menschen getötet, wobei sich diese Zahlen nicht überprüfen lassen und nicht zwischen Zivilisten und Hamas-Kämpfern unterscheiden.
In den kommenden Wochen wird sich zeigen, ob die nun vereinbarte Waffenruhe Bestand hat. Im besten Fall ebnet sie den Weg zu einer friedlichen Zukunft für den Nahen Osten – im schlimmsten Fall wird sie nur eine Atempause sein.