Ein lange andauernder Familienstreit landet vor Gericht.
Das Bezirksgericht Zürich hat mit diesem Prozess kurzfristig in den grössten Saal disloziert. Doch auch dieser reicht für den Publikumsaufmarsch nicht ganz aus: Mehrere Zuschauer verfolgen die Verhandlung stehend. Die Anwältin der Privatklägerin wird dies in ihrem Plädoyer eine «Drohkulisse» nennen.
Es ist davon die Rede, dass sich eine religiöse Gemeinschaft nicht dem schweizerischen Recht unterstelle, sondern ihr eigenes Justizsystem durchsetzen wolle.
Auslöser des Gerichtsverfahrens gegen den Rabbi ist eine jahrelange Auseinandersetzung innerhalb einer orthodoxen jüdischen Familie, die ein Familienunternehmen betrieb. Als der Vater im Jahr 2015 starb, kam es zu Erbstreitigkeiten. Die heute 87-jährige Mutter wurde schliesslich als Alleinerbin eingesetzt.
Einem Sohn wird vorgeworfen, nach dem Tod des Vaters Waren und Gelder aus der Firma veruntreut zu haben; der Sohn schied später aus dem Familienunternehmen aus. Die Mutter stellte 2018 beim Handelsgericht ein Gesuch um Einsetzung als Liquidatorin der Firma und wurde als solche eingesetzt.
Familienstreit löste verschiedene Verfahren aus
Hier kommt nun der Rabbi ins Spiel: Laut der Anklage der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat soll er zusammen mit einem zweiten – inzwischen verstorbenen – Rabbi der Mutter einen Brief geschrieben haben. Darin stand unter anderem:
«Wir möchten, dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass nach dem Gesetz der Thora es verboten ist, vor Gericht zu gehen. Sie sind verpflichtet, per sofort das Gerichtsverfahren zurückzuziehen und jede Streitigkeit vor dem Rabbinatsgericht zu schlichten. Im Fall, dass diese Bitte nicht ausgeführt wird, sind wir gezwungen, ein Ablehnungsschreiben herauszugeben.»
Laut der Anklage stellt ein solches «Ablehnungsschreiben» eine Exkommunikation dar, die öffentlich an den Synagogen der Gemeinde ausgehängt oder anderweitig publik gemacht wird. Die Gemeindemitglieder würden dadurch aufgefordert, die exkommunizierte Person zu meiden. Diese dürfe sich nicht mehr in den Synagogen der Gemeinde oder an Gemeindeanlässen blicken lassen.
Wie die Gerichtsverhandlung zeigt, wird die Funktion und Wirkung eines solchen «Ablehnungsbriefes» von den involvierten Parteien aber völlig unterschiedlich interpretiert.
Der Familienstreit löste verschiedene handelsrechtliche, erbrechtliche und strafrechtliche Verfahren aus, die sich mit Beschwerden und Eingaben über Jahre dahinzogen.
Für die strafrechtliche Angelegenheit wurde nach jahrelangen Verzögerungen im Oktober 2023 ein neuer Staatsanwalt eingesetzt. Er erhob Anklage gegen den Rabbi wegen versuchter Nötigung sowie Anklage gegen den Sohn des verstorbenen Unternehmers wegen mehrfacher Veruntreuung und Urkundenfälschung.
Eigentlich handelt es sich um zwei verschiedene Prozesse. Sie werden aber aufgrund desselben Hintergrunds und zum Teil identischer involvierter Parteien nacheinander im gleichen Gerichtssaal durchgeführt. Der Sohn wird im ersten Prozess von allen Vorwürfen freigesprochen.
Bedingte Geldstrafe gefordert
Der beschuldigte Rabbi macht vor Gericht keinerlei Aussagen. Der Staatsanwalt erklärt, der Sachverhalt der versuchten Nötigung sei durch den Brief an die Mutter erstellt. Es brauche keine anderen Beweismittel. Er beantragt eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 200 Franken (18 000 Franken) bei einer Probezeit von zwei Jahren für den Rabbi.
Für die Anwältin der Mutter ist der Fall ein Beispiel von Machtmissbrauch. Rabbinatsgerichte seien rechtlich unproblematisch, wenn die Teilnahme freiwillig erfolge, nicht aber, wenn jemand unter Androhung schwerer Nachteile dazu gezwungen werde. Ein solches «Ablehnungsschreiben», das vom Rabbi angedroht worden sei, könne die Lebensgrundlage von Betroffenen zerstören.
Das Bundesgericht habe zudem in einem Entscheid festgehalten, dass geistliche Gerichtsbarkeit untersagt sei. Der Rabbi sei nicht nur der versuchten Nötigung, sondern auch der Erpressung schuldig zu sprechen.
Der Verteidiger will einen Freispruch. Er bestreitet, dass es sich bei der Unterschrift auf dem Brief tatsächlich um die Unterschrift des Rabbis handelt. Es sei die Pflicht des Rabbis, darauf zu achten, dass in der Gemeinde das jüdische Recht durchgesetzt werde. Niemand werde gezwungen, nach jüdischem Recht zu leben.
Der Rabbi müsse ein fehlbares Mitglied an die Konsequenzen erinnern, wenn es eine Zivilklage von einem weltlichen Gericht beurteilen lassen wolle. Wenn sich das Mitglied trotzdem dafür entscheide, sei er dazu verpflichtet, ein «Ablehnungsschreiben» zu verfassen. Der Rabbi habe lediglich jüdisches Recht korrekt angewendet.
Ein solches Schreiben habe zudem wesentlich mildere Konsequenzen, als die Anklage behaupte. Die Person bleibe Teil der jüdischen Gemeinde, dürfe lediglich gewisse Handlungen nicht mehr vornehmen.
Zudem bemängelt der Verteidiger, dass die Mutter nie von der Staatsanwaltschaft parteiöffentlich einvernommen worden sei. Er habe keine Fragen stellen können. Der Staatsanwalt hatte die betagte Frau zwar einvernehmen wollen. Es sei aber belegt worden, dass sie nicht einvernahmefähig sei.
Der Verteidiger vergleicht diese Regeln mit den Standesregeln des Schweizerischen Anwaltsverbands. Wer sich nicht an diese halte, müsse auch mit Disziplinarmassnahmen und sogar dem Ausschluss rechnen.
Vollumfänglicher Freispruch für den Rabbi
Schliesslich wird der Rabbi vollumfänglich freigesprochen. Sämtliche Kosten gehen auf die Gerichtskasse. Er erhält eine Entschädigung von 32 000 Franken für seine anwaltschaftliche Vertretung.
Der Gerichtsvorsitzende begründet den Freispruch mit drei Punkten: Erstens fehle es am Nachweis, dass der Rabbi tatsächlich seinen Namenszug unter den Brief gesetzt habe. Zweitens sei die Privatklägerin nicht parteiöffentlich befragt worden. Der Verteidiger habe keine Gelegenheit gehabt, Fragen zu stellen. Auf das, was sie bei der Polizei gesagt habe oder in der Anzeige stehe, könne nicht abgestellt werden.
Deshalb sei nicht klar, was der Brief tatsächlich für eine Wirkung auf sie hatte und ob sie sich dadurch wirklich genötigt gefühlt habe. Ihre Aussagen bei der Polizei liessen jedenfalls nicht darauf schliessen, dass sie den Brief ernst genommen habe.
Drittens fehle es für die Erfüllung des Straftatbestands der Nötigung an einer Rechtswidrigkeit der Nötigungshandlung. Die jüdische Gemeinde habe eine Einigung ausserhalb des gerichtlichen Wegs angestrebt. Weder der Zweck noch das Mittel des Briefes sei unzulässig. Er sei auch nicht unverhältnismässig gewesen.
Urteile DG240040 vom 4. 12. 2024 und DG240041 vom 2. 12.2024, noch nicht rechtskräftig.