In Serbien finden die grössten Massenkundgebungen seit dem Sturz von Slobodan Milosevic statt. Wie es mit dem Land weitergeht, ist völlig offen.
Auf ein Zeichen verstummen die Rufe, die Trillerpfeifen und Vuvuzelas, deren dröhnender Lärm seit Stunden die Luft erfüllt, und plötzlich kehrt Ruhe ein. Während 15 Minuten stehen Zehntausende von Menschen in völliger Stille auf einer der wichtigsten Verkehrsachsen der serbischen Hauptstadt.
Dann steigt der Geräuschpegel ebenso rasch wieder an. Die Demonstration geht weiter, und die 24-stündige Blockade der Grosskreuzung Autokomanda im Zentrum Belgrads wird fortgesetzt.
Fröhlich und frech
Die 15 Schweigeminuten sind ein fester Bestandteil der Proteste, die serbische Studenten seit mehreren Wochen fast täglich in unterschiedlicher Form abhalten: Strassenblockaden, klassische Kundgebungen oder, wie dieser Tage, ein Marsch von Belgrad nach Novi Sad. Während einer Viertelstunde wird dabei jeweils an die 15 Opfer des Einsturzes eines renovierten Bahnhofvordachs in Novi Sad am 1. November gedacht.
In der übrigen Zeit sind die Demonstrationen laut, frech und fröhlich. Manchmal taucht eine Ferrari-Flagge auf, in Serbien ein ironisches Symbol für die Arroganz und den Reichtum der Eliten. Während die Bevölkerung in den neunziger Jahren unter den Sanktionen litt, fuhr der Sohn von Präsident Slobodan Milosevic in seinem italienischen Sportwagen durch die Hauptstadt.
Die Diskreditierungsversuche regierungsnaher Medien kontern die Studenten mit Wortspielen. Den Vorwurf, von ausländischen Mächten gesteuert zu sein, begegnen sie mit demonstrativer nationaler Symbolik, der serbischen Trikolore und dem Gebrauch des kyrillischen Alphabets. Der Regierungspropaganda sind die jungen Leute immer einen Schritt voraus.
Erfolgreiche Wirtschaftspolitik
Die Tragödie von Novi Sad findet so grosse Resonanz, weil ihre Bedeutung über das Vorgefallene hinausgeht. Pfusch und Korruption im Rahmen eines milliardenteuren Prestigeprojekts – der Schnellzugstrecke von Belgrad nach Budapest – offene Fragen zur Ausschreibung und der Beteiligung chinesischer Firmen, aber vor allem die Versuche von Präsident und Regierung, von eigenen Fehlern abzulenken und Verantwortlichkeiten zu vertuschen: Das steht in den Augen vieler Serbinnen und Serben symptomatisch für Missstände wie Klientelismus und Straflosigkeit, die nach mehr als einem Jahrzehnt unter Aleksandar Vucic überhandgenommen haben.
Der Präsident holt zwar erfolgreich Investoren ins Land, was sich in einem soliden Wirtschaftswachstum und konstanten Verbesserungen der Infrastruktur niederschlägt. Ausserdem versteht es Vucic, durch seine geschickte Schaukelpolitik zwischen Russland, China und dem Westen den aussenpolitischen Spielraum seines kleinen Landes zu maximieren.
Nach innen aber wird der Rechtsstaat immer stärker ausgehöhlt, die Übermacht regierungsnaher Medien ist erdrückend. Das zeigt sich auch dieser Tage. Der Staatssender RTS wartete fast drei Monate, bis er erstmals eine Vertreterin der protestierenden Studenten zu Wort kommen liess.
Selbst Djokovic meldet sich zu Wort
Nicht zum ersten Mal wird in Serbien ein Einzelereignis zum Katalysator für eine breite Unmutsbekundung. Das war vor vier Jahren bei den Protesten gegen den Lithium-Abbau im Jadar-Tal so oder 2023 bei den Demonstrationen nach zwei Amokläufen innerhalb einer Woche. Bisher schaffte es Vucic aber immer, den kollektiven Ärger auszusitzen.
Doch diesmal verfängt die Strategie aus Druck, Konzessionen und Ablenkungsmanövern nicht, obwohl mittlerweile sogar der Regierungschef Milos Vucevic zurückgetreten ist. Auch über die Neujahrspause ist den Studenten die Luft nicht ausgegangen. Vielmehr haben sie die Proteste in die Provinz getragen, als sie dort über die Festtage ihre Familien besuchten.
Ein Gesprächspartner sagt im Scherz, selbst an Orten, die letztmals während der Türkenherrschaft aufbegehrt hätten, gebe es nun Demonstrationen. Das grösste Aufbegehren seit den Massenprotesten im Jahr 2000, die zu Milosevics Sturz führten, ist es allemal.
Dass mit Lehrern und Angestellten jetzt auch Kreise protestieren, die weit stärker als die Studenten vom Wohlwollen der Regierung abhängig sind, sehen einige Beobachter als kritischen Meilenstein. Sogar der Tennisstar Novak Djokovic, der bisher nie auf Konfrontationskurs zur Regierung ging, fand kürzlich warme Worte für die Studenten.
Vier konkrete Forderungen
«Wir haben aus den Fehlern früherer Bewegungen gelernt», sagt der Belgrader Politologiestudent Aleksa am Rande der Grosskundgebung auf der Autokomanda. «Solange unsere Forderungen nicht erfüllt sind, machen wir weiter.»
Diese Forderungen sind klar definiert: die Veröffentlichung aller Dokumente zu den Arbeiten am Bahnhof von Novi Sad, die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die Übergriffe auf Demonstranten, die Einstellung der Verfahren gegen protestierende Studenten und eine Erhöhung des Bildungsbudgets um 20 Prozent.
Der Rücktritt des Präsidenten gehört nicht zu den Forderungen. Dies wäre eine Steilvorlage für den Vorwurf, hier werde ein Umsturz geplant – den die Regierung natürlich dennoch erhebt. «Uns geht es nicht um Macht, sondern um funktionierende rechtsstaatliche Institutionen», sagt Vanja, die an der Theaterfakultät studiert. Keiner der Studenten möchte seinen vollen Namen nennen.
Am Ende geht es trotzdem auch um Personen. Auf die Frage, ob sie unter dem gegenwärtigen Präsidenten tiefgreifende Reformen für möglich halte, antwortet Vanja nach kurzem Zögern: «Ehrlich gesagt, nein.»
Keine Parteien, keine Wortführer
Die Studenten sind bemüht, möglichst wenig Angriffsflächen bieten. Zur politischen Opposition halten sie demonstrativ Distanz. Als sich vor sechs Jahren ein Parteienbündnis an die Spitze der damaligen Massenproteste stellte, war innert weniger Wochen die Luft draussen. Die Opposition geniesst in Serbien nicht mehr Vertrauen als die Regierung.
Ausserdem würden mit den politischen Parteien auch ideologische Differenzen an die Oberfläche treten: in Bezug auf Kosovo, Russland oder der EU. Tatsächlich sieht man, anders als an früheren Massenprotesten, keine Transparente und Flaggen zu diesen polarisierenden Themen. «Die Kosovofrage hat keinen Platz in unserem Protest», sagt der angehende Politologe Aleksa.
Wortführer, die von den Regierungsmedien sofort ins Visier genommen würden, gibt es ebenfalls keine. Die Studenten treten, wo immer möglich, als Kollektiv auf. Entscheidungen treffen sie in sogenannten Plenumssitzungen an ihren Fakultäten. Eine Inspiration dafür sind die Proteste gegen Schulgebühren an kroatischen Universitäten 2009. Das sogenannte «Kochbuch für Blockaden», ein Leitfaden der Aktivisten von damals, haben viele serbische Studenten gelesen.
Eine unpolitische Generation wird aktiv
Was ein bisschen nach APO und 1968 klingt, ist laut dem Politologiestudenten Aleksa dezidiert unideologisch. Statt theoretische Grundsatzdebatten zu führen, klären die Studenten mit basisdemokratischem Eifer konkrete Sachfragen – und sei es, wer den Journalisten aus der Schweiz empfängt.
Branislav Dimitrijevic, ein oppositioneller Lokalpolitiker und Hochschuldozent, spricht anerkennend von einem Versuchslabor für neue Protestformen. Von taktischem Geschick und politischer Reife zeugt das Vorgehen allemal. Dass bei allen Beteuerungen der studentischen Selbstverwaltung im Hintergrund ein Austausch mit erfahrenen Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft stattfinden dürfte, ändert daran nichts.
Das überrascht bei einer Generation, die für die Erzählungen ihrer Eltern über die Kriege, den Sturz von Milosevic und den gescheiterten Demokratisierungsprozess danach meist nur ein Gähnen übrig hatte. Es schien, als ob den Jungen die Emigration ins Ausland näher lag als das politische Engagement. «Dass das nicht so ist, macht mir grosse Hoffnung», sagt Dimitrijevic, der selber einst gegen Milosevic protestierte. «Nach all den Enttäuschungen der letzten Jahrzehnte ist das wie eine Therapie für unsere Gesellschaft.»
Kein Vertrauen in die EU
Kaum eine Rolle bei alldem spielt die europäische Perspektive des Landes. Schon zu Milosevics Zeiten waren Rufe nach politischer Veränderung stets mit dem Fernziel der europäischen Integration verbunden. Doch heute glaubt niemand mehr an die Beitrittsoption. Nur 40 Prozent der Bevölkerung unterstützen überhaupt eine EU-Mitgliedschaft. Dass auf den Strassen keine Sternenbanner zu sehen sind, hat nicht nur taktische Gründe.
Die Demonstranten betrachten weder die EU noch die grossen Mitgliedsstaaten als Verbündete in ihrem Kampf. Tatsächlich ist das europäische Interesse am serbischen Rechtsstaat bestenfalls oberflächlich. Im Verhältnis zu Belgrad überwiegen längst realpolitische Erwägungen. Bei allen Differenzen ist Vucic in wichtigen Fragen ein verlässlicher Partner, als Waffenlieferant für die Ukraine, als Käufer französischer Rafale-Kampfjets oder als Unterstützer des Lithium-Abbaus, der einen Beitrag zur grünen Wende der deutschen Automobilindustrie liefern soll. Das will niemand gefährden.
Während sich Europa zu den Protesten nicht äussert, kommt aus anderen Weltgegenden klare Unterstützung für den serbischen Präsidenten. Das russische Aussenministerium und der amerikanische Gesandte für Sondermissionen, Richard Grenell, sprachen sich am selben Tag für Stabilität in Serbien aus.
Das ist ein klarer Erfolg der serbischen Schaukelpolitik – und widerlegt die von der Regierung verbreitete These von ausländischen Mächten, die in Serbien eine farbene Revolution planten. «Wir tun das nur für uns», sagt die Studentin Vanja. «Wenn es tatsächlich zu einem Wandel kommt, sind wir niemandem etwas schuldig.»
Was ist der nächste Schritt?
Bleibt die Frage, wie es denn weitergeht. Im Land kursieren alle möglichen Szenarien, von der baldigen Rückkehr zur Normalität, weil die schweigende Mehrheit eben doch auf das Bestehende setzt, über die zunehmende Repression durch radikale Gruppen innerhalb der Regierungspartei, bis zu dem Befreiungsschlag durch Neuwahlen und dem Sturz des Regimes.
Dass das Momentum auf Serbiens Strassen irgendwann verpufft, wenn es nicht in eine politische Strategie umgemünzt wird, ist dabei unbestritten. Wie, wann und durch wen das geschehen soll, ist aber völlig offen. So prägnant die Forderungen des Protests auch sind: Wann diese erfüllt sind, ist letztlich Ermessensfrage. Die Distanzierung von der diskreditierten institutionellen Politik ist eine Stärke der Bewegung, aber langfristig eben auch ein Problem.
Das hat man auch in zivilgesellschaftlichen Kreisen erkannt. «Wir sind bereit, bei den nächsten Schritten einen Beitrag zu leisten», sagt Miodrag Jovanovic von Proglas, einer Initiative prominenter Intellektueller und Künstler, die im Vorfeld der letzten Wahlen im ganzen Land die Bürger zur Stimmabgabe aufrief, ohne eine konkrete Wahlempfehlung zu machen. «Wir identifizieren uns mit den Zielen der Studenten», sagt der Rechtsprofessor.
Den Vorschlag aus seinem Initiativkomitee, er solle eine Technokratenregierung bilden, findet Jovanovic zwar schmeichelhaft, aber völlig unrealistisch. Dasselbe gilt für die Idee, die Macht einem Übergangskabinett aus Studenten und Professoren zu übergeben. Ein Weggefährte des 2003 ermordeten Regierungschefs Zoran Djindjic warf den Gedanken im Fernsehen auf. «Von Machttransfer ist bis jetzt ja gar keine Rede», sagt Jovanovic.
«Ein kritischer Zeitpunkt»
Eine Gruppe von prowestlichen Denkfabriken und Organisationen wiederum hat einen offenen Brief an Brüssel geschrieben und fordert die EU auf, sich einzubringen, etwa durch einen Dialogprozess. Sonst verliere Europa auch noch die letzte Glaubwürdigkeit gegenüber der serbischen Bevölkerung, erklärt Igor Bandovic vom Belgrader Zentrum für Sicherheitspolitik.
«Wir befinden uns an einem kritischen Punkt», sagt Bandovic. «Denn eigentlich hat niemand einen Plan, wie es weitergehen soll.»