Unendlich lang, unendlich geschwätzig, aber nicht unterzukriegen: Italiens grosses Schlagerfestival ist fast so alt wie die Republik und lebt munter weiter, kommerziell erfolgreicher denn je. Das bekommt auch die Regierung von Giorgia Meloni zu spüren.
Als Jannik Sinner am 28. Januar im fernen Melbourne zum Matchball des Australian Open aufschlug, stand für Amadeus fest: Jetzt hab ich ihn, den Stargast am diesjährigen Schlagerfestival! Amadeus alias Amedeo Sebastiani ist seit fünf Jahren der künstlerische Leiter und Moderator des Festivals von Sanremo. Die Ausgabe 2024, die am Dienstag begonnen hat und bis am Samstag dauert, wird seine letzte sein. Zum krönenden Abschluss, so dachte er sich wohl, brauche es grosse Namen, zum Beispiel denjenigen des 22-jährigen italienischen Tenniswunders.
Aber Tennis und Italo-Pop? Passt das zusammen? In Sanremo schon. Denn das Festival im Teatro Ariston, einem riesigen Kinosaal im normalerweise beschaulichen Städtchen an der ligurischen Küste, ist alles – und alles gleichzeitig: Wettbewerb um den besten Song, Treffpunkt der VIP aus der Unterhaltungsindustrie, Talentshow für Selbstdarsteller aller Art, Laufsteg für Stars und Sternchen, Dreh- und Angelpunkt des öffentlichen Lebens während fünf Tagen – Italien in Kompaktform.
Alle schauen es, Alt und Jung, landauf, landab. Ignorieren ist keine Option. Am Eröffnungsabend am Dienstag erzielte die TV-Übertragung von Sanremo einen Marktanteil von über 65 Prozent. Weit über zehn Millionen Zuschauer schalteten RAI Uno ein, den öffentlichrechtlichen Kanal, der das Festival produziert und ausstrahlt. Mit geschätzten 56 Millionen Euro an Werbeeinnahmen soll dieses Jahr ein neuer Rekordwert erzielt werden.
Analoger TV-Marathon
Sanremo ist analoges Fernsehen. Wer sich das volle Programm gönnt, muss gutes Sitzleder haben. Die Übertragungen dauern jeweils vom frühen Abend bis morgens um zwei Uhr, von den zahlreichen Begleitsendungen einmal abgesehen. Es ist ein einziger televisionärer Marathon. Die digitalen Medien sind Beiwerk, ein subsidiäres Instrument, das den Anlass vergrössert, ins Netz ausdehnt und so der Welt der Teenager zuführt. Italiens legendäre Privatsender und die Anbieter von Streaming-Diensten gehen während Sanremo jeweils auf Tauchstation. Gegen die Übermacht der RAI ist nicht anzukommen, jedenfalls nicht in dieser Woche.
Die diesjährige Ausgabe ist die 74. Gegründet 1951 vom damaligen Inhaber des Spielkasinos von Sanremo, Pier Bussetti, diente das Festival zunächst dem Amusement der Kurgäste aus Nordeuropa, die an der milden italienischen Riviera jeweils den Winter verbrachten.
Damals war Sanremo vor allem als «città dei fiori» ein Begriff, als Ort, wo dank dem günstigen Mikroklima Blumen und Grünzeug besonders gut gedeihen. Etwas Unterhaltung würde dem aufkommenden Tourismus wohl gut bekommen, sagte sich Bussetti, dem es sogleich gelang, die RAI für den Anlass zu gewinnen und damit den Grundstein für den beispiellosen Erfolg zu legen. Als Domenico Modugno 1958 in Sanremo schliesslich das Lied «Nel blu dipinto di blu» vortrug, war Sanremo definitiv in den Herzen der Italienerinnen und Italiener angekommen.
Seither gehört das Festival zum Inventar des Landes. Es sei gewissermassen «Demokratie, gesungen», schrieb kürzlich Gottlieb F. Höpli, der frühere Chefredaktor des «St. Galler Tagblatts» und bekennender Sanremo-Liebhaber.
Kein Exportgut wie Spaghetti
Aber die Italiener bleiben dabei weitgehend unter sich. Die Exportnation, die es wie keine andere versteht, ihre berühmten Marken von Ferrari über Prada bis Barilla in die Welt hinauszutragen, bleibt in Sanremo ganz auf sich selbst bezogen.
Zwar werden immer wieder Stars aus dem Ausland eingeladen – dieses Jahr etwa die Schauspieler Russell Crowe und John Travolta –, aber sie sind nur Beilage. Am Eröffnungsabend sorgte der schwedische Fussballgott Zlatan Ibrahimovic als Überraschungsgast für einige Lacher, aber «Ibra», wie sie ihn hier nennen, gilt den Italienern eigentlich als einer der Ihren. Er spricht gut Italienisch, ist katholisch und hilft seinem früheren Klub AC Milan gerade dabei, sportlich wieder auf die Beine zu kommen.
Die meisten in Sanremo vorgetragenen Lieder verhallen spätestens an der Alpenkette – Ausnahmen bestätigen die Regel. Und kaum ein Nichtitaliener kann lesen, was sich hier auf und neben der Bühne abspielt. Als letztes Jahr Roberto Benigni, der begnadete Filmschauspieler und Oscarpreisträger («La vita è bella»), auf der Ariston-Bühne in Anwesenheit des Staatspräsidenten Sergio Mattarella einen zwanzigminütigen Monolog hielt und dabei die Schönheit und die antifaschistischen Wurzeln der italienischen Verfassung von 1948 lobte, verstanden das nur Eingeweihte.
Seit wenigen Monaten war Giorgia Meloni im Amt, die Regierungschefin, deren Partei Fratelli d’Italia ihre Wurzeln im italienischen Postfaschismus hat. Benignis Monolog und die erstmalige Anwesenheit des Staatspräsidenten hatten damit gleichsam subversive Kraft. Es war ein Wink mit dem Zaunpfahl an die neue Regierung: Macht, was ihr wollt, aber lasst die Finger von der Verfassung!
Bühne für protestierende Landwirte?
Überhaupt die Politik: Immer wieder ertönt der Ruf, sie aussen vor zu halten. Der Wunsch ist so alt wie das Festival. Und bleibt dabei so fromm wie aussichtslos. Denn Sanremo ist immer politisch, auch dieses Jahr.
«Il festival dei trattori», titelte die «Repubblica» am Mittwoch und spielte damit auf den Unmut der Landwirte an, die gegenwärtig mit ihren Traktorkolonnen in Italien (wie in ganz Europa) für Schlagzeilen sorgen und angekündigt haben, auch die Bühne von Sanremo für ihre Anliegen zu nutzen. Die Türen des Festivals stünden ihnen offen, hatte Amadeus im Vorfeld angekündigt. «Ich mache es gewiss nicht zu einem politischen Thema, aber es gibt Menschen im Land, die enorme Schwierigkeiten haben, und ich bin für diese Menschen», sagte Amadeus.
Allein die Ankündigung des beliebten Moderators sorgte für Aufsehen in Rom. Die Exekutive tut sich schwer damit, sich in dieser Sache zu positionieren. Noch ist ungewiss, ob sich der Unmut der Bauern am Ende auch gegen Melonis Regierungsmannschaft richten wird. Der Landwirtschaftsminister Lollobrigida ist der Schwager von Giorgia Meloni, was die Angelegenheit noch komplizierter macht.
Dazu gesellt sich der Kampf um die RAI. Meloni hat, wie frühere Regierungschefs auch, ihre Gefolgsleute im öffentlichrechtlichen Radio und Fernsehen platziert und sich – wie Kritiker sagen – die RAI gefügig gemacht. Dass ausgerechnet ein von der RAI produzierter Anlass die Regierung in die Bredouille zu bringen droht, ist vor diesem Hintergrund besonders pikant. Aber es zeigt, welche Macht Sanremo in Italien hat. Egal, welcher Couleur die Regierungen in Rom sind: Sie müssen ein Auge auf das Schlagerfestival halten. Wer dort etwas sagt, hat die öffentliche Aufmerksamkeit auf seiner Seite. Mit den traumhaften Einschaltquoten und den Rekordeinnahmen aus der Werbung hat sich Sanremo nahezu unangreifbar gemacht.
Alles, was sich kommerzialisieren lässt
Dabei ist das Festival seiner Natur nach eher konservativ. Das zeigt sich beim Liedgut. Zwar gehört es zum guten Ton, vermeintlich fortschrittliche Botschaften vorzutragen: gegen Sexismus, gegen Rassismus, gegen Fremdenfeindlichkeit, für Nächstenliebe, für Frieden auf der Welt. Aber sie sind meist massentauglich verpackt und leicht kommerzialisierbar – jedenfalls so, dass sie gerade noch in die Glitzerwelt des Showbusiness passen und kaum nachhaltigen Widerspruch auslösen. Das unausgesprochene Ziel von Sanremo ist es, den kommenden Sommerhit zu lancieren.
Cantautori, die inhaltlich anspruchsvollere Texte singen, sich den Regeln des Geschäfts versagen oder musikalisch andere Wege gehen wollen, kommen in Sanremo kaum mehr zum Zug. Sie haben in Italien ohnehin einen schweren Stand und sind mittlerweile eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Frühere Versuche, ein Gegenfestival zu Sanremo zu gründen, verliefen im Sand oder bleiben – wie der Club Tenco mit seinen Preisen – unterhalb des Radars der breiten italienischen Öffentlichkeit.
So bleibt denn Sanremo auch bei der 74. Austragung das Mass aller Dinge. Es ist, als wolle sich die schöne alte Fernsehwelt partout nicht geschlagen geben und zeigen, dass es für sie noch eine Zukunft gibt. Und die Italiener, die an ihren Traditionen hängen, glauben gerne daran. Wenigstens für eine Woche im Jahr.
Jannik Sinner hat die Einladung von Amadeus übrigens ausgeschlagen. Sanremo sei eine schöne Veranstaltung, sagte der Tennisstar, aber er könne weder singen noch tanzen. Ausserdem müsse er trainieren. Sinner, nach seinem Sieg in Australien so etwas wie der Roger Federer Italiens, kann sich eine solche Absage gerade noch knapp leisten. Alle anderen nicht. Für sie ist Sanremo «passage obligé».