Im Norden haben die Ukrainer an der Grenze eine neue Front eröffnet. Entscheidend ist jedoch der Donbass. Weil sich die Lage dort etwas entschärft hat, sieht Kiew keinen Grund für einen raschen Waffenstillstand.
In Saudiarabien verhandeln die Amerikaner mit Russen und Ukrainern über einen Waffenstillstand. Doch in der Ukraine gehen die Kämpfe unvermindert weiter und weiten sich sogar aus. Moskau setzte alleine in der letzten Woche fast 1600 Gleitbomben, 1100 Drohnen und 15 Raketen ein. Unter den Zielen waren mehrere Spitäler, die Attacken forderten mehr als ein Dutzend Tote. Die Ukrainer antworten mit Nadelstichen: So brennt ein strategisch wichtiges Ölterminal in Südrussland seit fast einer Woche.
Friedensbereitschaft sieht anders aus. Und doch sind die vielen Angriffe der letzten Tage nicht einfach dadurch zu erklären, dass sich ein dreijähriger Krieg nicht über Nacht beenden lässt. Es geht beiden Seiten vielmehr darum, Stärke zu demonstrieren. Sie wollen zeigen, dass sie Zeit haben – und Alternativen zu einem Waffenstillstand, den vor allem der amerikanische Präsident Donald Trump so schnell wie möglich herbeiführen will.
Ein Waffenstillstand in drei Schritten?
Dies ist auch dem Weissen Haus nicht entgangen, das die Erwartungen gedämpft hat. Schon längst verspricht Trump kein Ende des Krieges mehr in 24 Stunden. In Washington hofft man nun auf einen Waffenstillstand bis am 20. April, pünktlich zum Ostersonntag. Der Weg dahin ist grundsätzlich vorgezeichnet: Zunächst sollen beide Seiten die Angriffe gegen die Energieinfrastruktur während dreissig Tagen einstellen. Darauf folgt eine Feuerpause im Schwarzen Meer, schliesslich auf dem gesamten Schlachtfeld.
Nur zeigt bereits der erste Schritt die Schwierigkeiten bei der Umsetzung, da es unterschiedliche Definitionen von Energieinfrastruktur gibt. Präsident Selenski versprach, den Amerikanern eine Liste auszuhändigen mit allen Objekten, die Russland nicht angreifen darf. Doch manche fürchten, man liefere Moskau damit quasi pfannenfertig die wichtigsten Ziele für zukünftige Attacken. Indem Putin die Angriffe auf Zivilisten intensiviert, scheint er die Ukrainer zusätzlich provozieren zu wollen. Eine Vertrauensbasis existiert nicht.
Washington versucht dennoch, die Gespräche auf einen Waffenstillstand zur See auszuweiten. Hier vermuten die USA zu Recht das grösste Interesse Moskaus, da die Ukrainer die gegnerische Schwarzmeerflotte mithilfe von Drohnen paralysiert und die eigenen Häfen freigekämpft haben. Die Russen bekunden Mühe bei der Versorgung der besetzten Halbinsel Krim und beim Handel mit Landwirtschaftsprodukten über den für sie zentralen Seeweg. Am Montag hiess es, die technischen Gespräche der Amerikaner mit beiden Seiten zu diesen Fragen seien produktiv gewesen und gingen weiter.
All dies ändert nichts daran, dass sich jegliche Friedensperspektive am Boden entscheidet. Die USA wollen die Kämpfe entlang der jetzigen Front einfrieren, um danach nach territorialen Kompromissen zu suchen. Bisher haben sie hier primär Druck auf Kiew ausgeübt, durch die Unterbrechung der Militärhilfe, aber auch mit rhetorischer Schützenhilfe für Putin. So sagte Trumps Verhandler Steve Witkoff am Wochenende, die «überwältigende Mehrheit» der Menschen in den besetzten Gebieten wolle zu Russland gehören. Als Beweis nannte er die Resultate der Pseudoabstimmungen im Jahr 2022.
Neue ukrainische Vorstösse nach Russland
Dass Russland bei weitem nicht nur jene Gebiete in der Ostukraine für sich reklamiert, die es militärisch erobert hat, verschärft den Konflikt zusätzlich. Die Ukrainer kämpfen um jedes Dorf und lancieren immer wieder Gegenangriffe. Dabei bleibt die Lage vor allem im Norden labil, wo sich die ukrainische Armee weitgehend aus der russischen Region Kursk zurückzog. Sie hält laut den Analysten von «Deep State Map» noch 80 Quadratkilometer in Grenznähe.
Den Vorstoss nach Russland im letzten Sommer begründete Kiew mit der Gefahr, dass der Feind versuchen könnte, in die nordukrainische Region Sumi einzumarschieren. Diese Gefahr ist nun gestiegen, es gibt regelmässige Scharmützel im grenznahen Gebiet. Die Ukrainer reagierten darauf allerdings mit einem neuen Vorstoss im Gebiet Belgorod.
Wie auf Videos zu sehen ist, schlugen sie mit gepanzerten Fahrzeugen eine Bresche in die Grenzanlagen und Minenfelder. Russische Militärbeobachter liefern seither widersprüchliche Angaben darüber, ob sich die Ukrainer im grenznahen Dorf Demidowka festgesetzt haben. Selbst Propagandisten wie Juri Podoljaka räumen aber ein, dass Moskau erhebliche Kräfte aufwenden muss, um den Vorstoss zu bekämpfen.
Die Ukrainer versprechen sich neue Möglichkeiten zur Bekämpfung gegnerischer Nachschubrouten. Der russische Telegram-Kanal «Wojenny Oswedomitel» meldet denn auch Angriffe gegen wichtige Brücken. Am Wochenende gelang es ukrainischen Spezialeinheiten mit einem Artillerieangriff sechzig Kilometer hinter der Front zudem, mindestens zwei Kampfhelikopter zu zerstören und zwei weitere zu beschädigen. Diese Angriffe über grosse Distanzen erfolgten laut beiden Seiten mit Himars-Raketenwerfern aus den USA. Auch dieser demonstrative Einsatz amerikanischer Militärtechnik auf russischem Boden lässt sich als Verhandlungstaktik sehen.
WATCH 🔶
Ukrainian Special Forces uncovered a Russian helicopter base in Belgorod, then struck it with HIMARS, destroying 2 Mi-8 transport helicopters and heavily damaging 2 Ka-52 attack helicopters. pic.twitter.com/RtlHIxDdm3
— Polymarket Intel (@PolymarketIntel) March 24, 2025
Veränderte Lage im Donbass
Es stellt sich die Frage, ob die Zeit eher für Moskau oder für Kiew arbeitet. Entscheidend ist dabei nicht der relativ periphere nördliche Frontabschnitt, sondern der Osten. Das Bild, das sich hier zeigt, ist durchzogen, aber keineswegs besonders düster für die Ukrainer. Vielmehr hat sich ihre Lage in der Einschätzung des Militärexperten Michael Kofman seit Herbst klar verbessert. Starke Formationen wie die Dritte Sturmbrigade haben die Russen jüngst südlich der Stadt Kupjansk zurückgeworfen. Auch die Verteidiger von Pokrowsk, der letzten bedeutsamen Stadt im Südosten, haben sich Luft verschafft.
Video of an assault by Ukraine’s 3rd Assault Brigade that retook the village of Nadiia, Luhansk oblast. https://t.co/jcTb7XHdo1https://t.co/G4fE2auTtI pic.twitter.com/feT52Xx3nw
— Rob Lee (@RALee85) March 23, 2025
Kofman verweist auf mehrere Faktoren: Die Ukrainer seien gegenwärtig an den meisten Frontabschnitten ähnlich gut mit Artilleriemunition versorgt wie die Russen. Zudem machten sie ihre personelle Unterlegenheit durch Drohnen wett, die dank besserer Organisation effektiver eingesetzt würden als letztes Jahr.
Kofman legt sich nicht fest, ob dies reicht, die Front zu stabilisieren, zumal ukrainische Quellen vor Vorbereitungen für neue russische Offensiven warnen. «Aber die Ukraine ist nicht in einer verzweifelten Situation, in der sie einen hastig verhandelten Waffenstillstand unter für sie nachteiligen Bedingungen braucht», schreibt Kofman. Auch diese Ausgangslage spricht gegen ein schnelles Ende des Krieges.