Angeführt von US-Valoren verzeichneten die meisten Börsenindizes seit Jahresbeginn stattliche Kursavancen. Doch haben die Fundamentaldaten mitgehalten? Zeit für einen frischen Blick auf die Bewertungen.
Die Wahl Donald Trumps zum 47. Präsidenten der USA und der klare Sieg der Republikaner haben den Börsen neuen Schwung verliehen. Zwar sind die Kurse nach einem ersten Schub wieder etwas gefallen, der Aufwärtstrend scheint aber weiterhin intakt zu sein. Der Weltaktienindex von MSCI notiert rund 16% höher als noch zum Jahresbeginn.
Zuletzt schien sich unter den Marktteilnehmern die Meinung durchzusetzen, die Umsetzung der Wahlversprechen Trumps werde dafür sorgen, dass US-Valoren ihren Vorsprung auf den Rest der Welt weiter ausbauen könnten. Denn Trump verspricht eine Re-Industrialisierung des Landes, niedrigere Unternehmenssteuern, weniger Bürokratie und saftige Importzölle, um den einheimischen Firmen gegenüber der ausländischen Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
Ob das gelingt, ist alles andere als sicher. Die Notierungen von US-Aktien sind jedoch vorgeprescht. Während andere Börsenindizes wie der Taiex (Taiwan) und der Nikkei 225 (Japan) in diesem Jahr ebenfalls kräftig zugelegt haben, gibt es auch Verlierer. So haben etwa brasilianische und mexikanische Aktien an Wert eingebüsst.
Höchste Zeit also für einen frischen Blick auf die Aktienbewertungen.
Was die Bewertungskennzahlen zeigen
Dafür unterzieht The Market quartalsweise 28 Industrie- und Schwellenländer einem umfassenden Bewertungstest. Weil ein direkter Vergleich der Länder wegen der teilweise beträchtlichen Unterschiede in der Sektorzusammensetzung wenig sinnvoll ist – so sind z. B. Technologieaktien typischerweise höher bewertet als Versorgertitel –, wurde die Bewertung für jeden Markt mit seiner eigenen Historie verglichen und der sogenannte Perzentilrang ermittelt (hier finden Sie eine ausführliche Erklärung dazu).
Um ihn zu bestimmen, ordnet man alle Kennzahlen der Reihe nach und schaut, an welcher Stelle sich der heutige Wert befindet. Derzeit erreichen Schweizer Aktien beim Shiller-KGV das 49. Perzentil und bewegt sich damit in der Mitte der historischen Bewertungsspanne. Auf Basis des vorwärtsgerichteten KGV (65. Perzentil), des Kurs-Umsatz- (83. Perzentil) und des Kurs-Buchwert-Verhältnisses (87. Perzentil) erscheinen hiesige Papiere eher teuer. Bezüglich der Dividendenrendite (22. Perzentil) vermag der Schweizer Markt allerdings zu punkten.
Dieses Vorgehen wird für die wichtigsten Aktienindizes durchgeführt.
Shiller-KGV: Indien, Taiwan und die USA am teuersten
Wie sieht das Resultat aus? Gemessen am Shiller-KGV (blaue Balken links in der Grafik unten) schaffen es Indien (95. Perzentil), Taiwan (95. Perzentil) und die USA (91. Perzentil) auf die Podestplätze der teuersten Märkte.
Am günstigen Ende der Bewertungsskala finden sich die Börsenbarometer Chiles (9. Perzentil), Hongkongs (10. Perzentil) sowie Polens (11. Perzentil).
Der gleiche Ansatz wurde bei vier weiteren Bewertungskennzahlen angewandt: beim vorwärtsgerichteten KGV (gelbe Balken), beim Kurs-Umsatz-Verhältnis (grün), beim Kurs-Buchwert-Verhältnis (rot) sowie bei der Dividendenrendite (violett). Die verschiedenen Bewertungsmasse werden am Ende des Artikels erläutert.
USA ist zurück an der Spitze
Zur besseren Lesbarkeit lassen sich die fünf Bewertungskennzahlen in ein Gesamtmass aggregieren. Aus Bewertungssicht sind die Aktienmärkte der USA, Taiwans und Indiens besonders unattraktiv. Unmittelbar dahinter folgen die Börsen der Niederlande und Australiens. Damit belegen dieselben fünf Märkte wie im August die Spitzenplätze, wobei Indien nach der Kurskorrektur der vergangenen Wochen vom ersten auf den dritten Rang zurückgefallen ist.
USA: sündhaft teuer
US-Aktien halten sich in der Spitzengruppe der teuersten Aktienmärkte und rücken wieder auf Platz eins vor. Kein Wunder, legten sie in diesem Jahr doch erneut eine Glanzperformance hin (+24% seit Jahresbeginn für den MSCI USA), ohne dass die Gewinne Schritt halten konnten. Die Anleger sind offensichtlich bereit, für dasselbe Gewinnpotenzial einen höheren Preis zu bezahlen. Der Bewertungsscore erreicht gefährlich hohe 96 (in der Bewertungsübersicht vom August waren es 93 Punkte).
Die Kehrseite einer stolzen Bewertung ist eine stark gestiegene Wahrscheinlichkeit einer unterdurchschnittlichen Performance in der Zukunft. Angesichts der derzeitigen Euphorie, dass Donald Trump die Wirtschaft beflügeln werde, preisen die Anleger ein überaus rosiges Szenario für die Börsen ein.
Nicht nur die Bewertung von The Market mahnt zur Vorsicht. Auch die üblicherweise zuversichtlichen Analysten von Goldman Sachs dämpfen die Renditeerwartungen. In einer kürzlich publizierten Studie präsentieren sie bescheidene Renditeprognosen für das kommende Jahrzehnt: «Wir schätzen, dass der S&P 500 in den nächsten zehn Jahren eine annualisierte nominale Gesamtrendite von 3% und eine reale Rendite von rund 1% erzielen wird.» Behalten sie Recht, dürften viele Investoren enttäuscht werden.
Denn diese Renditen sind weit entfernt von der jährlichen Gesamtrendite von 13%, die der S&P 500 im vergangenen Jahrzehnt abgeworfen hat. Andere, nicht minder seriöse Analysten sind nochmals deutlich pessimistischer. So prognostiziert der Bostoner Vermögensverwalter GMO für amerikanische Large Caps jährliche reale Renditen von –5,4% (!) über den kommenden Konjunkturzyklus. Nur wenige Anleger dürften entsprechend positioniert sein.
Schweizer Aktien sind attraktiver geworden
Schweizer Aktien bekundeten in den vergangenen Monaten Mühe, mit dem Weltaktienindex mitzuhalten. Nicht zuletzt die enttäuschende Kursentwicklung der Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche belasteten den MSCI Switzerland. Immerhin hat sich dadurch die Bewertung verbessert: Im November erreichte die Gesamtbewertung 63 Punkte, nachdem sie im August noch 71 erreicht hatte.
Deutsche Aktien, gemessen am MSCI Germany, sind im Quartalsvergleich im Gegenzug teurer geworden. Das Bewertungsmass ist von 49 auf 62 Punkte geklettert. Zu den Zugpferden im Index gehörten u. a. der Industriekonzern Siemens Energy und das Rüstungsunternehmen Rheinmetall. Deutsche Aktien sind damit kein Schnäppchen mehr, erreichen allerdings noch kein besorgniserregend hohes Bewertungsniveau.
Korea mit schmerzhafter Bewertungskontraktion
Die eindrücklichste Bewertungskontraktion haben koreanische Aktien erfahren. Im Vergleich zum August fiel ihr Bewertungsscore um 27 auf derzeit 29 Zähler – und das, obwohl die Sektorzusammensetzung des MSCI Korea eigentlich vorteilhaft ist. Die dominierenden Branchen Technologie (38%), Industrie (15,5%) und Finanz (13%) gehören in diesem Jahr global zu den stärksten. Sinnbild ist die desaströse Performance des Tech-Konzerns Samsung, der in den vergangenen drei Monaten rund 30% an Wert eingebüsst hat.
Wie der Analyst Christopher Wood von Jefferies bemerkt, haben sich zuletzt viele ausländische Anleger vom Markt abgewendet. Das war vor allem der Ernüchterung geschuldet, die auf die grosse Hoffnung auf das «Corporate Value-Up Programme» der Regierung folgte. Dieses sollte zu einer Verbesserung der Corporate Governance bei koreanischen Unternehmen – und zu einer besseren Profitabilität – führen. Doch das Programm ist in den vergangenen Monaten ins Stocken geraten.
Hinzu kommt ein weiterer Gegenwind: «Südkorea ist von Exporten in die USA abhängig und gehörte zu den am stärksten betroffenen aufstrebenden Aktienmärkten während der ersten Trump-Regierung», schreibt Jon Harrison vom Analysehaus TS Lombard. Die Spannungen mit Nordkorea und die Unsicherheit über militärische Sicherheitsgarantien der USA unter Trump sorgen ebenfalls für Nervosität, was gegen eine baldige Trendwende spricht.
Türkische Aktien: billig, aber auch günstig?
Türkische Aktien haben seit August ebenfalls eine substanzielle Bewertungskontraktion um 14 auf 23 Punkte erfahren. Mit ein Grund ist die restriktive Geldpolitik der türkischen Zentralbank, die die Leitzinsen von 8,5% im Juni 2023 auf die seit März gültigen 50% angehoben hatte. Mittlerweile sind die Realzinsen – sprich: die Zinsen abzüglich der Inflation – erstmals seit langem wieder positiv. Dennoch liegt die Inflation nur knapp unter 50%. Für einen weiteren Rückgang müssen Geld- und Fiskalpolitik wohl für geraume Zeit restriktiv bleiben.
Ob die Behörden den Durchhaltewillen aufbringen, ist längst nicht sicher. Die höheren Zinsen und gestiegene Kreditkosten haben die Konjunktur abgekühlt, was die Unternehmensgewinne belastet. Gleichzeitig sind die Löhne jüngst stark gestiegen, was den Firmen ebenfalls zusetzt. Bleiben die Zinsen hoch, dürften die Schmerzen zunehmen, knicken Notenbank und Regierung ein, droht eine neuerliche Inflationswelle.
Türkische Aktien dürften wohl noch günstiger werden.
Sind chilenische Valoren ein Kauf?
Mit einem Score von 11 gehören chilenische Aktien zu den günstigsten überhaupt. Mit ein Grund für die niedrige Bewertung waren die politischen Unruhen Ende 2019 und der darauffolgende Linksrutsch in den Präsidentschaftswahlen. Ende 2021 wurde Gabriel Boric zum jüngsten Präsidenten des Landes gewählt.
Sein politisches Programm fokussierte auf ein integrativeres öffentliches Gesundheitssystem, die Streichung von Studentenschulden, die Anhebung der Steuern für sehr Vermögende sowie eine Überarbeitung der Altersvorsorge. Die Angst vor einer marktfeindlichen Regierung vergraulte viele Investoren und sorgte für eine nachhaltige Underperformance des MSCI Chile relativ zum Schwellenländerindex.
Bis dato hat sich die Regierung indes deutlich moderater gezeigt als befürchtet – das von der Opposition dominierte Parlament sorgte für ein Gegengewicht, das allzu extreme Vorstösse verhinderte oder abschwächte. Insgesamt ist die Fiskalpolitik vernünftig, und auch der Inflationsdruck hat kräftig nachgelassen, was es der Notenbank erlaubte, die Zügel seit Sommer 2023 zu lockern.
Zuletzt senkte sie am 17. Oktober die Leitzinsen um 25 Basispunkte auf derzeit 5,25% und kündigte weitere Schritte an – der nächste dürfte im Dezember erfolgen. Jason Tuvey, Ökonom in Diensten des Londoner Analysehaus Capital Economics, geht davon aus, dass der Leitzins bis Mitte des nächsten Jahres auf 4% sinken wird, was die Konjunktur unterstützen dürfte.
Dank dem erheblichen Anstieg der Kupferproduktion, die den Preisrückgang des Metalls mehr als kompensiert, dürfte auch die Zahlungsbilanz Chiles robust bleiben. Gemäss der Prognose der unabhängigen staatlichen Kupferkommission Cochilco wird die Kupferförderung bis Ende 2025 um 6% zunehmen und ein neues Rekordhoch erreichen. Das sollte den Peso stützen. Schliesslich zeichnet sich ab, dass in den Wahlen 2025 eine marktfreundlichere Regierung gewählt wird.
Vor diesem Hintergrund könnten chilenische Aktien langfristig durchaus wieder Freude bereiten.
Die Bewertungskennzahlen kurz erklärt:
Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
Die wohl populärste Bewertungskennzahl ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es setzt den Aktienkurs ins Verhältnis zum Gewinn eines Unternehmens. Handelt eine Aktie an der Börse beispielsweise zu einem Preis von 115.50 Fr., und der Gewinn pro Titel beläuft sich auf 7 Fr., resultiert ein KGV von 16,5.
Typischerweise unterscheidet man zwischen dem historischen und dem vorwärtsgerichteten KGV: Beim historischen wird der zuletzt erwirtschaftete Unternehmenserlös verwendet, beim vorwärtsgerichteten fliesst der (üblicherweise von Analysten) geschätzte Gewinn in die Berechnung ein.
Vereinfacht gesagt gilt, je höher das KGV, desto unattraktiver ist die Bewertung. Allerdings funktioniert das KGV schlecht, wenn der Gewinn sehr rasch wächst. Auch sagt die Kennzahl nichts darüber aus, wie gross das Risiko eines Gewinneinbruchs ist.
Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis (Shiller-KGV)
Anders als das klassische KGV vergleicht das Shiller-KGV den aktuellen Preis einer Aktie oder eines Index mit den durchschnittlichen, inflationsbereinigten Gewinnen des vergangenen Jahrzehnts. Damit werden die Gewinnschwankungen der einzelnen Jahre normalisiert, was zu einem stabileren und verlässlicheren Bewertungsmass führt. Wie für das traditionelle KGV gilt auch für das Shiller-KGV: Je niedriger es ist, desto günstiger ist eine Aktie und desto grösser typischerweise das Kurspotenzial für die kommenden Jahre.
Dividendenrendite
Die Dividendenrendite zeigt die ausgeschüttete Dividende im Verhältnis zum Aktienkurs. Je höher die Dividendenrendite, desto attraktiver scheint eine Aktie. Vielen Anlegern ist eine hohe Ausschüttung wichtig, da sie für einen stetigen Liquiditätsfluss sorgt. Allerdings kann eine allzu hohe Rendite auch signalisieren, dass eine Gesellschaft in Schieflage geraten ist, da die Rendite automatisch steigt, wenn der Aktienkurs einbricht. Dann steht oft eine Kürzung bevor. Wichtiger als ihre absolute Höhe ist deshalb oftmals, dass die Ausschüttung stetig steigt. Da nicht alle Unternehmen eine Dividende entrichten, funktioniert dieser Indikator nicht immer.
Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Ein klassisches Bewertungskriterium ist das KBV, das auf Benjamin Graham, den Übervater der Value-Anleger, zurückgeht. Hierbei wird der Aktienkurs mit dem bilanzierten Eigenkapital verglichen. Je höher das KBV, desto unattraktiver die Bewertung. Da der Buchwert in der Regel positiv ist, kann das Mass auch dann verwendet werden, wenn ein Unternehmen keinen Gewinn schreibt. Allerdings ist der Buchwert nicht immer ein verlässliches Abbild des «wahren» Unternehmenswerts, da er immaterielle Werte wie Patente oder Know-how nur unzulänglich erfasst (speziell bei IT- und Pharmagesellschaften).
Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV)
Das KUV setzt die aktuelle Marktkapitalisierung eines Unternehmens ins Verhältnis zum Umsatz des letzten (Geschäfts-)Jahres. Obschon es sich um ein krudes Mass handelt – es ignoriert zum Beispiel die Profitabilität –, hat es seine Daseinsberechtigung. So ist der Umsatz deutlich weniger anfällig für Manipulationen als Gewinn und Buchwert. Wie das KBV lässt sich die Bewertungskennzahl auch für Gesellschaften berechnen, die Verlust schreiben. Ein Unternehmen, das ohne Rücksicht auf die Kosten einen möglichst hohen Umsatz anstrebt, kann allerdings auf Basis des KUV zu günstig aussehen.