Die KZ-Gedenkstätte begeht die Gedenkstunde ohne den Philosophen Omri Boehm. Besser so. Das Versagen der deutschen Gedenkkultur bleibt aber offensichtlich.
Wer trauert, hat das Recht, nicht provoziert zu werden. Das ist ein ungeschriebenes Menschenrecht. Es ist eigentlich selbstverständlich, weil im wahrsten Sinne des Wortes natürlich, also ein «Naturrecht». In der Tradition aufgeklärter abendländischer Moralität ist das Naturrecht gewichtiger als das positive, in Gesetze gegossene Recht. Gesetzes Recht gleich Legalität, Naturrecht gleich Legitimität, und diese auch verstanden als Norm der Menschlichkeit.
Deutschland ist, nach Holocaust und Weltkrieg, ein freies Land. Den Siegermächten sei Dank, denn so mancher Vorfahre der heutigen Deutschen konnte – oder wollte? – sich nicht von Hitler und seinem Mitverbrechern befreien. (Wie heute «die» Palästinenser von der Hamas?) Und weil die Bundesrepublik Deutschland ein freies Land ist, gilt nun dank Artikel 5 Grundgesetz – die Meinungsfreiheit.
Daraus folgt: Wer den jüdisch-israelisch-deutsch-quasiamerikanischen Philosophen Omri Boehm (Nachnachfahre von Holocaust-Überlebenden) einlädt, am achtzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am Ort des Grauens die Gedenkrede zu halten, hat jedes Recht dazu. Punkt!
Recht, im Sinne des Gesetzes, zu haben, ist eine Seite. Die andere: Ist es richtig, einen Mann wie Omri Boehm einzuladen? Nein! Es ist eine Provokation den meisten Trauernden gegenüber, besonders gegenüber den jüdischen Trauernden. Warum?
Darum: Wer trauert, hat das Recht, nicht provoziert zu werden. Die meisten Juden – freilich nicht alle, aber eben die meisten – empfinden Omri Boehms juden- und israelpolitische Positionen als Provokation. Haben sie recht? Darüber kann man vortrefflich streiten. Darüber streitet man auch innerjüdisch, aber an Tagen der Trauer gehört es sich nicht, mit Trauernden zu streiten. So viel zum innerjüdischen, eigentlich rein menschlichen Aspekt.
Die Glaubwürdigkeit ist verspielt
Noch ungehöriger ist es, wenn Aussenstehende am Trauertag die Mehrheit der Trauernden durch einen Trauerredner provozieren, von dem sie wissen, dass er von den meisten Trauernden als Provokation empfunden wird.
Wer, wie der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, als Aussenstehender die Trauergemeinde durch eine solche Einladung provoziert, verspielt seine eigene Glaubwürdigkeit. Denn er hat von Amtes wegen das Gedenken an sowie die Würde der Ermordeten, die von ebenjener Trauergemeinde beweint werden, zu wahren. Er hat – selbstverständlich – das sogar grundgesetzliche Recht auf seiner Seite. Aber er verstösst gegen das Naturrecht des Menschen auf die selbstgewählte Trauerart und Trauergemeinschaft.
Beim Trauern möchten die Trauernden unter sich bleiben, um ihrer eigenen Toten zu gedenken. Manche werden sagen, das sei partikularistisch. Universalistisch sei der Mensch! Omri Boehm ist ein Universalist, der gegen Partikularismen zu Felde zieht. Das ehrt ihn. Wenn ich jedoch an einem bestimmten Tag des Todes eines mir persönlich nahestehenden Menschen gedenke, möchte ich ungestört seiner gedenken. Das schliesst selbst an diesem Tag und erst recht an anderen das trauernde Gedenken an andere Menschen nicht aus.
Omri Boehms nicht gehaltene Buchenwald-Rede ist ein kluger, sympathischer Text; intellektuell anregend, kaum aufregend, belehrend sowie passend an fast jedem beliebigen Tag und an fast jedem beliebigen Ort und vor fast jedem beliebigen Publikum – nur nicht in Buchenwald. Nicht für die in Buchenwald ermordeten und die um diese trauernden, mehrheitlich jüdischen Nachfahren, die an so einem Tag, an so einem Ort unter sich bleiben und nicht belehrt werden möchten.
Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald ist Nachfahre des Tätervolkes, aber selbstverständlich kein Täter. Er ist, wie alle Deutschen, frei von persönlicher Schuld. Aber empfindet nicht jeder menschlich fühlende, einfühlsame Mensch angesichts eines KZ, des Holocaust ganz allgemein: Scham? Nicht nur als Deutscher, sondern als Mensch? Dass der Mensch dem Menschen so etwas antun kann, dass «der Mensch des Menschen Wolf» ist?
Wo bleibt das Taktgefühl?
Wer angesichts dieser ganz und gar natürlichen und deshalb zu erwartenden Scham Trauernde vor den Kopf stösst und dabei gar belehren will, fühlt, denkt und handelt schamlos. Schamlos, obwohl schuldlos als Nachfahre des Tätervolkes. Gleiches gilt für diejenigen Deutschen, die die Entscheidung, die Mehrheit der trauernden Juden zu provozieren, unterstützen. Und dies gilt, wenngleich etwas abgeschwächt, auch für Europäer, deren Vorfahren in den meisten Fällen willige Gesellen des Holocaust-Mordmeisters aus Deutschland waren. Es gilt eigentlich für alle Menschen, denn das ist hier die Frage: Urmenschlich oder nicht urmenschlich?
Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald ist leider kein Einzelfall im Rahmen der deutschen «Gedenkkultur», die «gegen das Vergessen» vorgeht – und dabei Urmenschliches vergisst (vergessen will?): Takt, Einfühlsamkeit, Rücksicht, Zurückhaltung.
Lehren und belehren sind, nicht nur «gegen das Vergessen», unabdingbar. Andernfalls würde die Menschheit verblöden. Wer jedoch bei seinem Einsatz «gegen das Vergessen» nur auf die Vermehrung von Wissen und Meinungen setzt, also auf additive Bildung, und dabei selbst keine Herzensbildung hat oder diese fördert, wird scheitern.
Die Träger der dominanten deutschen, europäischen und globalen Erinnerungskultur stehen vor einem selbstverschuldeten Scherbenhaufen. Die nicht erst seit dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 dramatische Steigerung des verbalen und körperlichen Antisemitismus von links, rechts und Islamisten ist der traurige Beleg.
So gesehen, dokumentiert die wissentlich und willentlich die trauernde Mehrheit der Juden provozierende Einladung von Omri Boehm zusätzlich das Versagen der gegenwärtig vorherrschenden Art deutscher Gedenk-«Kultur».
Merken denn die deutschen Volkserzieher nicht, dass sie dieses Klischee zementieren und geradezu personifizieren: «Am deutschen Wesen soll die Welt genesen»? Geschieht «den Juden ganz recht»? Anscheinend versteht die Mehrheit der Opfer und Opfernachfahren nicht, wie sie zu trauern hat, nun müssen die Nachfahren der Täter sie darüber belehren.
Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn ist Autor des soeben erschienenen Buches «Feindliche Nähe: Von Juden, Christen und Muslimen» sowie von «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» und «Wem gehört das Heilige Land?».