Eine herausgefallene Tür und Produktionsmängel beim amerikanischen Konzern verunsichern. Ein Wechsel auf andere Flugzeugtypen ist für Reisende und Airlines oft nicht möglich – aus Sicherheitsüberlegungen aber auch gar nicht nötig, wie Experten und die Statistik nahelegen.
Ist Fliegen gefährlicher geworden?
Nein – im Gegenteil. Die Anzahl tödlicher Unfälle und Totalschäden im Luftverkehr ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Gleichzeitig ist die Zahl der Flüge stark gestiegen.
Im Jahr 2023 wurden über 32 Millionen Flüge mit kommerziellen Passagierjets westlicher Bauart durchgeführt. Todesfälle oder zerstörte Flugzeuge gab es jedoch keine. 2022 kamen 2 tödliche Unfälle und 7 Totalschäden auf 27 Millionen Flüge.
Zum Vergleich: Im Jahr 2000 geschahen noch 10 Unfälle mit tödlichem Ausgang und 18 Vorfälle mit Totalschaden. Damals hoben die Airlines aber nur rund 20 Millionen Mal ab. Fliegen wird also immer sicherer. Statistisch gesehen ist das Flugzeug sogar das sicherste Verkehrsmittel mit den wenigsten Toten pro Passagierkilometer.
Welches sind die am meisten eingesetzten Flugzeugtypen?
Mit Abstand am häufigsten zum Einsatz kommen der Airbus A320 und die Boeing 737-800. Beides sind erprobte Modelle, die seit Jahren hergestellt werden und herumfliegen.
Die Boeing 737-Max-Modelle, die in den letzten Jahren wegen Zwischenfällen für Schlagzeilen gesorgt haben, sind eine modernisierte Version des Erfolgsmodells 737. Sie sind unter anderem mit neuen Triebwerken ausgerüstet, die weniger Treibstoff verbrauchen.
Noch sind von diesen neueren Typen deutlich weniger Jets in der Luft unterwegs, im Zuge der Flottenerneuerungen wird die Anzahl Boeing-Max-Flieger in den kommenden Jahren deutlich steigen.
Welche Boeing-Modellvarianten sind wegen Problemen in die Schlagzeilen geraten?
Das jüngste Problem betrifft die Boeing 737 Max 9. Während eines Fluges der Alaska Airlines hat sich Anfang Januar ein Teil des Rumpfs gelöst. Die Angelegenheit hat die US-Flugaufsicht auf den Plan gerufen. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass wesentliche Arbeitsschritte nicht erfolgt waren und die Dokumentation zu den Arbeiten an dem betroffenen Flugzeug nicht vorhanden war.
Während es sich in diesem Fall um einen Fehler in der Produktion handelte (nicht angezogene Schrauben), hatte Boeing auch schon mit Konstruktionsfehlern zu kämpfen.
Der obige Zwischenfall ist vergleichsweise glimpflich ausgegangen, hingegen hatten Fehler beim Flugstabilitätssystem MCAS bei der Boeing 737 Max 8 in den Jahren 2018 und 2019 viel gravierendere Folgen. So sind zwei Flugzeuge deswegen abgestürzt, insgesamt 346 Menschen kamen ums Leben.
In der Folge hat Boeing das MCAS-System überarbeitet, und die 737 Max 8 sind wieder im Einsatz.
Ist es derzeit gefährlich, in eine Boeing zu steigen?
«Ganz klar: nein», sagt der Luftfahrt-Experte Heinrich Grossbongardt und verweist auf die seit Jahren rückläufige Zahl von Flugunfällen, die mit jeder neuen Flugzeuggeneration in der Summe abgenommen habe. Zudem liege bei Zwischenfällen im Flugverkehr der Fehler nicht immer beim Hersteller: «Ein wichtiger Schwachpunkt ist der Mensch.»
Die Zahl der Personenschäden und Todesopfer ist auch bei Unfällen mit Boeing-Maschinen tendenziell rückläufig: Im Jahr 2023 gab es keinen einzigen Unfall mit Todesopfern. In den Jahren davor konzentrierten sich diese meist auf wenige Grossereignisse.
Grossbongardt gibt auch zu bedenken, dass ein Teil der bei Boeing festgestellten Mängel zwar Qualitätsprobleme seien und also zum Beispiel eine häufigere Wartung erforderten. Nicht alle diese Vorfälle hätten aber zwingend einen Einfluss auf die Sicherheit der Passagiere.
Das zeigen auch Daten des National Transportation Safety Board, einer US-Behörde, die Unglücke im Transportwesen aufklärt: In den Jahren 2022 und 2023 waren ungefähr die Hälfte der registrierten Schäden bei Boeing-Maschinen lediglich Petitessen. Dass ein Flugzeug völlig zerstört wurde, kam hingegen nur einmal vor.
Können Passagiere und Airlines jetzt auf Airbus-Flieger umsteigen?
Wer sich als Reisender nicht auf die Statistik verlassen will und trotz faktisch nicht messbar erhöhtem Risiko lieber nicht mit einer Boeing-Maschine fliegen möchte, kann auf gewissen Buchungsportalen sämtliche Verbindungen mit bestimmten Flugzeugtypen herausfiltern. Er oder sie muss dann aber damit rechnen, dass die Auswahl an verfügbaren Flügen je nach Airline sehr klein ist, wenn es überhaupt welche gibt.
Am meisten Flüge mit Flugzeugen aus der Max-Familie werden von amerikanischen Airlines durchgeführt. Aber auch Ryanair hat bereits viele neue Modelle in ihrer Flotte.
Nach dem Zwischenfall bei Alaska Airlines hatte die US-Luftfahrtbehörde ein Startverbot für einen Teil der Boeing 737 Max 9 verfügt. Dieses ist unterdessen aber wieder aufgehoben.
Airlines können aufgrund der jüngsten Ereignisse nicht plötzlich andere Flugzeuge besorgen. Sowohl Airbus als auch Boeing haben ihre Produktionskapazitäten auf Jahre hinaus ausgelastet. Eine Airline wird also eine Bestellung bei Boeing nicht einfach so stornieren, um sich dann bei Airbus wieder ganz hinten anstellen zu müssen.
Was ist das grundsätzliche Problem bei Boeing?
Eine Erklärung für die entdeckten Versäumnisse im Produktionsprozess ist der Umstand, dass Boeing in den vergangenen Jahren die Anzahl Prüfer reduziert hat, um Geld zu sparen. Zudem soll zum Teil auf diese Prüfer, die zwar von Boeing bezahlt werden, jedoch nicht der Firma, sondern nur der Luftfahrtbehörde Rechenschaft schuldig sind, Druck ausgeübt worden sein.
Laut dem Luftfahrt-Experten Heinrich Grossbongardt, der bis um die Jahrtausendwende selber ein Mandat als Sprecher für Boeing hatte, haben in dem Konzern in den letzten Jahren die Ingenieure zugunsten der Manager an Einfluss verloren. Die «Brandmauer» zwischen den beiden Gruppen im Unternehmen sei beschädigt worden. Darunter habe das Bewusstsein für die Qualitätskontrollen gelitten. Boeing wurde zunehmend ergebnisgetrieben und hat viel Geld an die Aktionäre ausgeschüttet.
Was unternimmt Boeing?
Die Luftfahrtbehörde hat dem Hersteller eine Produktionsbeschränkung für die 737 Max 9 auferlegt, bis das Unternehmen die Prozesse wieder im Griff hat. Zudem werden weitere Prüfer eingestellt.
Die geplante Übernahme des einst abgespaltenen Zulieferers Spirit ist auch ein Schritt, um eine bessere Kontrolle über die Produktion zu kriegen.
Kann Boeing untergehen?
Selbst wenn noch weitere Versäumnisse zum Vorschein kommen sollten, ist es undenkbar, dass die Firma verschwinden wird. Zwar machen die Airlines Druck auf das Unternehmen, seine Probleme zu lösen. Doch die Kunden hätten kein Interesse daran, einem einzigen Flugzeugbauer – Airbus – ausgeliefert zu sein. Schwer vorstellbar ist auch, dass die US-Regierung dem Niedergang einer strategisch so wichtigen Firma tatenlos zusehen würde.
Für die Analysten des amerikanischen Brokerhauses Stifel ist die Kurskorrektur aufgrund des Tür-Zwischenfalls übertrieben stark ausgefallen – zumal die Auftragsbücher gut gefüllt seien. Zudem notiere die Aktie im Gegensatz zur Airbus-Aktie noch deutlich unter dem Wert von vor dem Einbruch des Flugverkehrs aufgrund der Corona-Pandemie.