Umit Bektas / Reuters
Die Arbeiterpartei Kurdistans und ihr Gründer Abdullah Öcalan haben sich in ihrem jahrzehntelangen Kampf gewandelt. Ihre Zielscheibe blieb immer der türkische Staat.
Das Ende des längsten Aufstands in der Geschichte der türkischen Republik rückt in Sichtweite. Auf den Aufruf ihres Gründers Abdullah Öcalan vom Donnerstag, sich aufzulösen, hat die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) am Samstag einen einseitigen Waffenstillstand verkündet.
Die Führung der verbotenen Organisation erklärte aus ihrem Hauptquartier im Nordirak ihre grundsätzliche Zustimmung zu Öcalans Aufruf. Die Umsetzung macht sie aber von gewissen Bedingungen abhängig, etwa der Teilnahme des inhaftierten Öcalan am Kongress über die Selbstauflösung der PKK.
Eine der grössten Volksgruppen ohne Staat
Abdullah Öcalan wurde als Student in Ankara im linken, kurdisch-nationalistischen Milieu politisiert, das vom relativ liberalen Klima der siebziger Jahre profitierte. 1978 gründete er mit Gleichgesinnten die radikale Arbeiterpartei Kurdistans («Partiya Karkeren Kurdistan», PKK).
Gestützt auf marxistisch-leninistische Lehren betrachtete die Organisation die Kurdenfrage als kolonialen Konflikt und propagierte einen nationalen Befreiungskampf. Die heute etwa 30 Millionen Kurden sind weltweit eine der grössten Volksgruppen ohne eigenen Staat.
Nach dem Ersten Weltkrieg war ihnen zwar ein Territorium in Aussicht gestellt worden. Bei der Gründung der türkischen Republik 1923 war von kurdischer Autonomie aber bereits keine Rede mehr. Das kurdische Siedlungsgebiet erstreckt sich über die Südosttürkei sowie Teile Syriens, Irans und des Irak.
Unterstützung durch Syrien
Ihren bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat begann die PKK im Sommer 1984. Seit dem Militärputsch von 1980 herrschte im Land ein äusserst repressives Klima, das die Kurden als grösste Minderheit besonders stark zu spüren bekamen. Vorbereitet auf den Kampf hatte sich die PKK unter anderem in Ausbildungslagern im syrisch besetzten Libanon. Öcalan war noch vor dem Putsch nach Syrien geflohen.
Die Duldung des türkischen Staatsfeinds Nummer 1 erklärt sich aus dem belasteten Verhältnis zwischen dem Nato-Staat Türkei und dem sowjetischen Verbündeten Syrien, in das auch territoriale Streitigkeiten hineinspielen. Der kurdische Separatismus prägt Ankaras Blick auf Syrien seit Jahrzehnten.
Seinen blutigen Höhepunkt erreichte der Konflikt, der über die Jahrzehnte 40 000 Menschenleben forderte, in den neunziger Jahren. Die PKK führte unzählige Angriffe auf Vertreter der Staatsmacht aus. Aber auch Aussteiger und unbeteiligte Zivilisten wurden Opfer von Anschlägen. Öcalans Übername «Baby-Mörder» in türkischen Medien stammt aus dieser Zeit. Die türkische Armee reagierte ihrerseits mit grosser Gewalt und kollektiven Strafaktionen. Dörfer wurden zerstört, Wälder abgebrannt, Folter war an der Tagesordnung.
Dies trieb die seit dem Putsch ohnehin schon starke kurdische Emigration weiter an, wodurch der Konflikt auch nach Europa getragen wurde. Die Diaspora wurde zu einer Finanzierungsquelle der PKK, es kam nun aber auch im Ausland zu Anschlägen. In der Folge erklärten die meisten westlichen Staaten die PKK zur Terrororganisation. Eine Ausnahme bildete immer die Schweiz, was in Ankara bis heute auf grosses Unverständnis stösst.
Abkehr von separatistischen Zielen
Angesichts des veränderten geopolitischen Kontexts – und türkischer Kriegsdrohungen – erklärte sich Damaskus 1998 bereit, die PKK mitsamt ihrem Gründer des Landes zu verweisen. Öcalan wurde einige Monate später in Nairobi verhaftet. Die von einem türkischen Gericht verhängte Todesstrafe wurde später in lebenslange Haft umgewandelt. Die militärische Führung der PKK zog sich in die Kandil-Berge im kurdischen Nordirak zurück.
In der Haft distanzierte sich Öcalan zunehmend von den revolutionären, separatistischen Zielen der Anfangszeit. In den Vordergrund rückte die Idee des «demokratischen Konföderalismus». Dabei steht die basisdemokratische Selbstverwaltung innerhalb bestehender Grenzen im Vordergrund, nicht die Bildung eines eigenen Staates. Zumindest deklaratorisch folgte die PKK-Führung diesem Kurswechsel.
Gleichzeitig kam es in den ersten Regierungsjahren von Recep Tayyip Erdogan zu zaghaften Öffnungsschritten. So wurde im Staatsfernsehen ein kurdisches Programm ins Leben gerufen. Im Politikverständnis islamischer Parteien wie Erdogans AKP gab es mehr Platz für Minderheitenrechte als im nationalistischen Säkularismus der Kemalisten.
Auf gescheiterten Friedensprozess folgt neue Gewalt
Dennoch ging der Konflikt weiter, zu Beginn der zehner Jahre auch mit neuer Schärfe. Im Hintergrund verhandelte die Regierung aber bereits mit Öcalan, der im Frühjahr 2013 aus der Haft zu einem Waffenstillstand und dem Rückzug aller PKK-Kämpfer von türkischem Territorium aufrief.
Trotz Rückschlägen, wie der kurdischen Empörung angesichts der türkischen Untätigkeit während des IS-Angriffes auf die syrische Stadt Kobane, schritt der Friedensprozess voran. Am 28. Februar 2015 unterzeichneten die Regierung und kurdische Politiker, die als Mittler gegenüber der PKK aufgetreten waren, in Istanbul einen Fahrplan zur Beilegung des Konflikts. Dabei wurde auch ein Aufruf Öcalans verlesen, die Waffen niederzulegen.
Die PKK-Führung leistete diesem aber nicht sofort Folge, sondern stellte weitere Bedingungen. Kurz darauf erklärte Erdogan den Prozess für gescheitert. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Ein wichtiger davon ist für viele Beobachter die öffentliche Weigerung des HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas, die von Erdogan angestrebte Einführung eines Präsidialsystems zu unterstützen.
Nach dem Kollaps des Friedensprozesses eskalierte der Konflikt erneut, wobei dieser von jugendlichen PKK-Anhängern erstmals auch vom Land in die Städte getragen wurde. Die Altstadt von Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt der kurdischen Bewegung, wurde schwer beschädigt. Die politische Repression der Kurden hält bis heute an.
Verändertes Kräfteverhältnis
Das fast identische Datum von Öcalans Aufruf ist nur die offensichtlichste Parallele zwischen den Prozessen heute und damals. Auch diesmal gibt es eine Verquickung mit machtpolitischen Ambitionen Erdogans. Der türkische Präsident braucht die kurdischen Stimmen, um sich mittels Verfassungsänderung eine weitere Amtszeit zu sichern. Und auch diesmal ist ein Scheitern nicht ausgeschlossen.
Das Kräfteverhältnis hat sich allerdings zugunsten der Regierung verschoben, nicht zuletzt dank der Drohnentechnologie. Die PKK kann sich auch im Gebirge nicht mehr unbemerkt bewegen und hat ihre Kämpfer deshalb fast vollständig aus türkischem Territorium zurückgezogen.
Zudem ist die geopolitische Konstellation günstiger. Auf türkischer und kurdischer Seite verspürt man angesichts der Umwälzungen im Nahen Osten einen gewissen Handlungsdruck. Und nicht zuletzt dürfte dies eine der letzten Gelegenheiten für den bereits 75-jährigen Öcalan darstellen, sein in den vergangenen Jahren immer wieder genanntes Ziel zu erreichen: den von ihm begonnenen bewaffneten Kampf noch zu Lebzeiten zu beenden.