Neonazis, Bomben, Tote: Die Anti-Asyl-Stimmung in der Schweiz der 1990er Jahre – und warum sie heute vergessen ist.
Ein einziger Schlag, und Santhakumar Sivaguru liegt am Boden.
Eben hat er noch gelacht, ein tamilisches Volkslied gesungen. Jetzt rinnt ihm das Blut aus der Nase, er röchelt, flach ausgestreckt auf dem Betonboden, um halb drei Uhr in dieser lauen Sommernacht im Jahr 1990.
Vor ihm tänzelt ein betrunkener Boxer über den Platz. Die Fäuste schwingend, triumphierend, bis zwei Freunde ihn wegziehen.
«Tamilen raus! Ausländer abfahren!», sagt er laut einem Zeugen, bevor er in der Nacht verschwindet, zwischen den Wohnblöcken von Regensdorf in der Zürcher Agglomeration.
Sein Opfer, mit dem Helikopter ins Spital gebracht, erliegt am Tag darauf seinen Verletzungen.
Santhakumar Sivaguru, 23, ist der sechste Flüchtling, der innert weniger Monate gewaltsam stirbt. Damals, als in der Schweiz Asylheime brennen, Neonazis in Ku-Klux-Klan-Umhängen für den «Blick» posieren und eine Welle rassistischer Gewalt das Land erfasst.
Die Tat führt zu wütenden Protesten, Hunderte Tamilen halten einen Hungerstreik ab. Mitten in Zürich werden sie von den einen Schweizern mit Tee versorgt, von anderen bespuckt. Die Tat von Regensdorf – sie wird zum Symbol für den Konflikt zwischen Öffnung und Abgrenzung, der die Schweiz damals in zwei Lager trennt.
Und dann verschwindet die Tat – wie die Zeit, für die sie steht – von einem Tag auf den anderen aus der kollektiven Erinnerung.
Sivagurus Tod steht damit noch für etwas anderes: dafür, wie ein Land die grösste rechtsextreme Gewaltwelle seiner jüngeren Geschichte einfach so vergessen kann.
Mit der Urne durch das Kriegsgebiet
Die Geschichte von Santhakumar Sivaguru beginnt an ihrem Ende: mit einem Schweizer, der für den Toten sein Leben riskiert.
Der Norden von Sri Lanka, Ende 1990. Bomben fallen, die Miliz Tamil Tigers kämpft erbittert gegen die Regierungstruppen aus dem Süden. Und Erich Schmid, Filmemacher aus Zürich, fährt in einer weissen Moto-Rikscha durch das Bürgerkriegsgebiet.
Im Gepäck hat er eine Kamera, einen Plastiksack voll Banknoten. Und eine grosse, kupferfarbene Urne.
«Eigentlich hätte ich Angst haben müssen», sagt Schmid heute über seine Reise. «Aber damals dachte ich: Wenn die Leute dort das jahrelang aushalten, muss ich es während vierzehn Tagen auch schaffen.»
Schmid, heute 78, ein eleganter Herr mit grauem Haar und roter Brille, arbeitet damals für das Schweizer Fernsehen. In der tamilischen Diaspora ist er gut vernetzt, gilt als informelle Anlaufstelle.
Im Film, den er über seine Reise dreht, fallen Bomben aus Flugzeugen, rennen Kinder in Erdlöcher, liegen brennende Wracks am Strassenrand. Ein Milizionär zeigt ihm stolz die Zyankali-Kapsel, die er im Fall einer Gefangennahme schlucken will. Und in einem Bungalow mitten im Kampfgebiet trauert eine weinende Mutter um ihren Sohn: Santhakumar Sivaguru.
Zwei Jahre zuvor wurde er hier in ein Gefangenenlager der Armee gesperrt, laut seinen Verwandten bis zum Hals in die Erde eingegraben, drei Tage lang, weil man ihn verdächtigte, ein Rebellenmitglied zu sein. Doch er entkam, konnte fliehen, bis in die Schweiz.
Nun hält seine Mutter die Urne mit seinen sterblichen Überresten in der Hand. Santhakumar Sivaguru, der aus Sri Lanka floh und in Regensdorf den Tod fand, ist nach Hause zurückgekehrt.
«Die Schweizer Behörden haben sich geweigert, die Leiche nach Sri Lanka zurückzubringen – zu gefährlich», erzählt Schmid, der Filmemacher. Ihm sei das damals ironisch vorgekommen, hätten doch zeitgleich Rückschaffungen in das Land stattgefunden. «Für die lebenden Flüchtlinge war es sicher genug, für die Toten nicht.»
Also habe er die Asche nach Sri Lanka gebracht. Die Kremationsbescheinigung aus der Schweiz hat er bis heute aufbewahrt. Darin wird zuhanden der sri-lankischen Behörden bestätigt, dass die Urne «ohne Gefahr für die öffentliche Gesundheit transportiert werden kann».
Eine rätselhafte Flucht
Tot ist er keine Bedrohung mehr. Doch davor gilt Sivaguru ein Leben lang als gefährlich.
1966 wird er geboren, in Chavakacheri, einer Kleinstadt ganz im Norden von Sri Lanka. Als er zehn ist, kommt es in der Gegend zu einem Pogrom gegen die tamilische Minderheit. Mit vierzehn und sechzehn erlebt er zwei weitere. Dann beginnt der Krieg.
Sivagurus Familie gehört der Mittelschicht an, besitzt ein eigenes kleines Haus. Ein junger Mann, Tamile, nach eigenen Angaben Student – das reicht, um ihn für die Regierungstruppen verdächtig zu machen.
Mit Anfang zwanzig kommt er als angeblicher Rebell in Gefangenschaft. Als er sich weigert, einer regierungsnahen Miliz beizutreten, bleibt ihm nur die Flucht. Zuerst in den Süden, dann ins Ausland. So erzählen es die Angehörigen damals. Überprüfen lassen sich diese Angaben nicht.
Verbürgt ist: Am 14. Januar 1989 reist Sivaguru unter falschem Namen in Deutschland ein. Dank einem gefälschten Pass kann er von Sri Lanka nach Frankfurt am Main fliegen. Sein Ziel: die Schweiz, wo bereits sein Onkel lebt.
Neun Tage braucht er, um sich nach Genf durchzuschlagen, wo er am 27. Januar unter seinem echten Namen ein Asylgesuch stellt. Sivaguru wird befragt, kommt in eine abgelegene Unterkunft im Kanton Wallis.
Dann, so plötzlich, wie er gekommen ist, verschwindet er wieder. Der junge Tamile taucht ab. Erst als Toten werden ihn die Schweizer Behörden wiederfinden.
Brände, Tote, Hakenkreuze
Das Land, in das Santhakumar Sivaguru all seine Hoffnungen setzt, ist eines im «Asylanten»-Fieber.
Ende der 1980er Jahre steigen die Asylzahlen in der Schweiz steil an. Der «Blick» schürt Ressentiments, berichtet immer wieder von Lederjacken, die die Flüchtlinge sich angeblich leisten können. Von «Heroin-Tamilen» und «Messerstechereien, Rauschgift, Vergewaltigungen» wegen des «Tamilen-Problems».
Und dann beginnen die Anschläge.
In Chur geht am 2. Juli 1989 eine Flüchtlingsunterkunft in Flammen auf. Im Bekennerschreiben steht: «Raus mit dem Asylanten- u. Rauschgiftpack aus unseren Dörfern u. Städten. Oder wir verheizen das Gesindel, bis keiner mehr in unseren Häusern ist!» Vier Tamilen sterben, unter ihnen zwei Kinder. Wenig später brennt es im Churer Heim zwei weitere Male.
Auch in Klosters (GR), Beckenried (NW), Steinhausen (ZG), Oberiberg (SZ), Herrenschwanden (BE) und Weinfelden (TG) werden Asylunterkünfte zum Ziel von Brandanschlägen, selbst gebastelten Bomben oder Schüssen mit scharfer Munition.
Die einzigen Daten zu dieser Gewaltwelle hat 1995 eine Genfer Lizenziatsarbeit zusammengetragen. Nach dieser gab es zwischen 1988 und 1993 total 378 rechtsextreme Gewalttaten, davon 114 Attentate und 79 Angriffe auf Personen. Dreimal so viele Vorfälle wie Mitte der 1980er Jahre, alle zwanzig Tage ein Anschlag.
Dazu kommen Schussverletzungen, Prügeleien, Drohbriefe, Hakenkreuze. Und Rechtsextreme, die stolz für den «Blick»-Fotografen posieren. Mal in Ku-Klux-Klan-Umhängen, mal unverhüllt vor brennenden Kreuzen, die Arme zum Hitlergruss erhoben.
In der Deutschschweiz bilden sich rechte Skinhead-Szenen und mehrere Neonazi-Gruppen. Sie überfallen Asylheime, machen Jagd auf Flüchtlinge, und die Polizei lässt sie – etwa im November 1989 im zugerischen Steinhausen – widerstandslos gewähren.
An solchen Angriffen oft beteiligt ist die Patriotische Front, geführt vom Innerschweizer Marcel Strebel. Ihr Symbol, das Pfeilkreuz, ist dem Hakenkreuz nachempfunden. 1991 erhält sie unter dem Namen Partei der Zukunft im Kanton Schwyz 6,4 Prozent der Wählerstimmen.
In sechs Jahren fordert die rechtsextreme Gewalt 13 Tote, die meisten von ihnen Flüchtlinge. Dazu kommen 145 Verletzte. Die Zahl der Todesfälle ist, gemessen an der Bevölkerung, deutlich höher als beispielsweise in Deutschland, wo damals eine Welle rassistischer Gewalt mindestens 34 Tote fordert.
Anton Ponrajah erinnert sich gut an diese Zeit. 1985 kommt er als Flüchtling in die Schweiz. «Damals war das Leben als Tamile ein Risiko», sagt er. Ponrajah gilt damals als Führungsfigur in der tamilischen Diaspora, mit engen Kontakten zu den Tamil Tigers. Heute ist er Schauspieler.
Ihm und seinen Landsleuten hätten Schläger aufgelauert, sagt er. Spätabends, wenn sie von einer Schicht im Restaurant zurück in ihre Unterkunft gegangen seien. Die Männer hätten Knüppel gehabt, manchmal Schusswaffen. «Wir sind immer in Gruppen nach Hause.» Die Polizei habe auf Anzeigen meist nicht reagiert: Man wisse nicht, wer die Angreifer seien.
Woher die Gewalt gekommen sei, hätten er und seine Landsleute damals nicht verstanden, sagt Ponrajah. Heute glaubt er: «Sie hatten Angst vor uns – und wir vor ihnen.»
Abend in Regensdorf
Am 20. Juni 1990, einem Mittwoch, beendet Santhakumar Sivaguru seinen Arbeitstag spät.
Kurz nach Mitternacht verlässt er das Restaurant Furtbächli in Regensdorf, wo er – wie damals legal möglich – als Hilfskoch arbeitet. «Er war ruhig und zuverlässig», wird sein Chef später in Schmids Film über ihn sagen. «Jedes Mal, wenn er kam, war es, als gehe die Sonne auf. Er lachte, wenn er kam. Und er lachte, wenn er wieder ging.»
Eineinhalb Jahre nach seinem spurlosen Verschwinden hat Sivaguru eine Stelle und ein Zimmer gefunden. Er hat dafür die halbe Schweiz durchquert – vom Wallis bis in den Kanton Zürich – und unter falschem Namen ein neues Asylgesuch gestellt. Der Name: «Jeevan».
Warum dieses Versteckspiel mit den Behörden? Wohl weil er hoffte, in Zürich eher Arbeit und Lohn zu finden. Das vermutet der Filmemacher Erich Schmid aufgrund seiner Gespräche mit der Familie. Einen Kredit von 5000 Dollar soll sie für seine Reise in die Schweiz aufgenommen haben. Geld, das Sivaguru rasch zurückzahlen will. In Regensdorf lebt er sparsam.
Am Abend des 20. Juli trifft er nach der Arbeit einen Freund, macht vom Bahnhof aus ein Telefonat. Später leistet er sich ein einziges Bier, in der Disco neben dem Hotel Mövenpick.
Kurz vor zwei Uhr verlässt er mit seinem Freund das Lokal, schlendert nach draussen. Hier, zwischen Agglo-Wohntürmen und einem Betonbrunnen, setzt er sich auf den Steinboden und singt.
Sein Freund kommt dazu, die beiden schwatzen, lachen. Gleich daneben tun vier Schweizer Jugendliche dasselbe. Friedlich sei es gewesen, erzählt eine von ihnen später. «Die Tamilen hatten es lustig, und wir hatten es lustig.»
Einige Meter weiter, im Hotel Mövenpick, verbringt Werner Landolt (Name geändert) einen Abend ganz nach seinem Geschmack. Es ist das Betriebsfest einer bekannten Regensdorfer Firma. Landolt, 39, ist der Fahrer des Unternehmens und ehemaliger Schweizer Meister im Boxen.
Von Tisch zu Tisch geht er, sammelt die halb leeren Weinflaschen. Dann trinkt er sie mit seinen Sitznachbarn aus. Später zieht er weiter in eine Bar. Überall bekommen die Serviertöchter anzügliche Sprüche zu hören, wie sie später berichten werden. Um halb drei Uhr nachts tritt er mit zwei Kollegen aus dem Hotel und pinkelt in ein Gebüsch.
Gewackelt habe er, wie wenn er einen Rasen mit dem Gartenschlauch hätte giessen wollen. So werden sich Zeugen erinnern.
Dann habe er das Gelächter gehört.
Es kommt von den Schweizer Jugendlichen, auf die sich der Boxer nun wütend zubewegt. Doch dann sieht er Santhakumar Sivaguru und den zweiten tamilischen Flüchtling. Er dreht ab, ruft – je nach Zeugenaussage – «Sautamilen!» oder «Scheisstamilen!».
Und schlägt zu.
«Aufgestaute Gefühle»
Am nächsten Morgen stehen drei Polizisten vor Landolts Tür. Eine Nacht lang haben sie Zeugen vernommen – auf der Suche nach dem Schläger, der sich so schnell aus dem Staub gemacht hatte.
Als sie ihn verhaften, beginnt er zu schimpfen: auf die «Schöggiköpfe», die mehr Geld bekämen als sein pensionierter Vater.
Als Polizisten ihn kurz darauf vernehmen, sagt er: «Es mag ja richtige Flüchtlinge geben. Aber in der Gruppe können besonders die Tamilen besonders frech sein. Das führt zu einem Hass gegen diese Leute.»
«Aufgestaute Gefühle» habe er diesbezüglich, erklärt er noch am selben Tag dem fallführenden Staatsanwalt. Ihn rege zum Beispiel auf, «wie die Tamilen die Frauen ‹anstieren›».
Nur eines weist Landolt von sich: dass der Faustschlag, mit dem er in der Nacht zuvor Santhakumar Sivaguru getötet hat, irgendetwas mit diesen Ansichten zu tun hat.
Für die Polizei ist der Fall allerdings klar. Wie sie dem «Blick» mitteilt, hat «rassistisches Gedankengut zu dieser Tat» geführt. Einen «betrunkenen Fremdenhasser» nennt das Boulevardblatt Werner Landolt. Der «Tages-Anzeiger» titelt: «Schweizer Rassist erschlägt Tamilen». Die NZZ: «Erneut Asylbewerber von Schweizer getötet».
Landolt – der ehemalige Boxmeister im Fliegengewicht – wird über Nacht zum Symbol für rechte Gewalt.
Eine Woche nach Sivagurus Tod sitzen 200 Tamilen auf dem Münsterhof in der Stadt Zürich. Still bleiben sie dort, während dreier Tage, ohne etwas zu essen. Auf einem Schild steht: «Er starb, weil er ein Tamile war.»
Auf einem Flugblatt: «Du hast dort unten um dein Leben gefürchtet. Jemand von hier hat es dir genommen.»
Unter seinen Landsleuten habe sich die Nachricht damals wie ein Lauffeuer verbreitet, sagt Anton Ponrajah. Wieder ein Toter, wieder einer von uns. «Was in Regensdorf passierte – es passierte überall.»
Am Ende des Streiks findet in Zürich eine Demonstration statt, zu der rund 1500 Personen kommen. Die Tat wird zum Politikum.
Eine Wende in der Asylpolitik
1990 hat die Schweizer Asylpolitik eine epochale Umwälzung hinter sich. In nur zehn Jahren hat sich die Zahl individueller Asylgesuche mehr als verzehnfacht. Der Grund: Flüchtlinge werden nicht mehr in Kontingenten aufgenommen – sie haben seit 1981 ein individuelles Recht auf Asyl.
Die grossen Gruppen aus kommunistischen Ländern wie der Tschechoslowakei weichen einzelnen Migranten von ausserhalb Europas, neben solchen aus Sri Lanka etwa auch solchen aus der Türkei oder Kongo. In den 1980er Jahren steigen die Gesuche auf mehrere zehntausend pro Jahr, die Hälfte davon stammt von Tamilen und türkischen Kurden. Gemessen an der Bevölkerungszahl gehört die Schweiz zu den Asyl-Spitzenreitern in Europa.
Das hat politische Folgen: Das Asylgesetz von 1981 wird vom Parlament sukzessive verschärft. Der Bundesrat forciert öffentlichkeitswirksam Rückschaffungen. Die Behörden ziehen die Bearbeitung von Gesuchen in die Länge, um Flüchtlingen statt einer definitiven eine provisorische Bewilligung zu gewähren – ein Vorgänger der «vorläufigen Aufnahme» von heute.
Als Antwort auf diese Verschärfungen formiert sich wiederum eine linke Asylbewegung. Die heute allgegenwärtige Politisierung des Flüchtlingsthemas – von links wie von rechts – nimmt ihren Anfang.
Rechts sieht man die Gewalt gegen «Fremde» als Resultat einer zu laschen Flüchtlingspolitik, links als Folge einer zunehmend ausländerfeindlichen Politik.
Nach Santhakumar Sivagurus Tod schreiben seine Landsleute in einem offenen Brief: «Wir fragen uns allmählich, ob es das Ziel schweizerischer Flüchtlingspolitik ist, das Unverständnis für unseren Verbleib in der Schweiz und damit Rassismus und Fremdenhass zu schüren, bis wir freiwillig weiterziehen.»
Werner Landolts Boxschlag befeuert die Debatte über fremdenfeindliche Gewalt. Nationalräte und die Zürcher Regierung äussern sich dazu.
Doch dann beginnt Landolt plötzlich, seine Aussagen zu ändern.
Ein Täter wird zum Opfer
Je weiter seine Tat zurückliegt, desto genauer und weniger belastend wird Werner Landolts Erinnerung daran. Das zeigen die Gerichtsakten zum Fall, die die NZZ einsehen konnte.
Die Flüchtlinge hätten ihn provoziert, vielleicht sogar bedroht, lautet nun die Geschichte. «Sauhund» will er plötzlich gehört, ihre Hautfarbe jedoch weder erkannt noch beachtet haben.
Mit Landolts Aussagen verändert sich auch die behördliche Erzählung zur Tat. Aus einem rassistischen Gewaltakt wird ein tragischer Einzelfall – das bedauernswerte Resultat eines Wutausbruchs in betrunkenem Zustand. Zeitweise wird nur noch wegen schwerer Körperverletzung ermittelt, in seiner Anklage stellt der Staatsanwalt ein rassistisches Motiv in Abrede.
Auch der Blick auf den Täter verändert sich, wie sich an einem regnerischen Dienstag im Februar 1992 zeigt. Es ist der Tag von Landolts Gerichtsverhandlung vor dem Bezirksgericht Dielsdorf.
Dort tritt ein Mann vor die Richter, den sein eigener Anwalt «eine einfach strukturierte Persönlichkeit» nennt. Einen, den das «Gerede über die Asylantenflut» in Unmut und Angst versetzt habe.
Der Sohn einer Alkoholikerin, als Kind zu Hause geschlagen, vom Vater auf die Strasse gesetzt. Der nach acht Jahren die Schule verliess, sich als «Tubel der Familie» bezeichnet. Und der kurz nach seinem grössten Triumph – dem Meistertitel im Boxen – bei einem Arbeitsunfall zwei Finger und seine Sportkarriere verlor.
Das Symbol für Fremdenhass, es wird zum bemitleidenswerten Opfer sozialer Umstände. Nie Mitglied in einer Partei, nie als Neonazi aufgefallen.
Ein psychiatrischer Gutachter hält ihn am fraglichen Abend für vermindert zurechnungsfähig, wegen der 1,6 bis 2,5 Promille Alkohol im Blut. Und mutmasst ohne Beleg, Landolt – zum Tatzeitpunkt «überaus empfindlich» – müsse «provoziert worden sein».
Weg ist der Frust über die «Schoggiköpfe», weg sind die «aufgestauten Gefühle», weg der «Hass» auf die «frechen» Flüchtlinge aus den ersten Einvernahmen. Stattdessen sagt Landolt: «Ich ging wie ein Roboter auf die Tamilen los.»
Gegen Asylsuchende habe er nichts, versichert er. «Ich bin kein Rassenhasser.» Im Gegenteil: «Die Ausländer haben mich alle gern.»
Verurteilt wird der Boxer schliesslich wegen fahrlässiger Tötung und unterlassener Nothilfe. Die Strafe: 18 Monate, bedingt. Das heisst: Mehr als die 13 Tage in Untersuchungshaft muss Landolt nicht hinter Gitter verbringen.
Kritik an diesem milden Urteil üben nicht nur Linke, sondern auch Bürgerliche wie Franz Steinegger, der damalige Präsident der FDP Schweiz. Er sagt: «Zur Abschreckung von potenziellen Tätern mit einer ähnlich fremdenfeindlichen Gesinnung wäre wahrscheinlich eine höhere Strafe angemessen gewesen.»
Eine Serie von Einzelfällen
Die Tötung von Santhakumar Sivaguru ist nicht der einzige Übergriff auf einen Asylsuchenden, bei dem die Justiz den politischen Kontext ignoriert.
Beim tödlichen Brand von Chur ermittelte die Polizei trotz klaren Indizien nicht im rechtsextremen Milieu, wie das Tamedia-«Magazin» kürzlich aufzeigte. Die Bündner Behörden stellten die Ermittlungen im Herbst 1989 ein, noch bevor sie den forensischen Bericht zur Brandursache erhalten hatten.
Ihre Begründung: Die Ursache könne nicht ermittelt werden. Im Bericht steht dagegen: «Brandstiftung im Vordergrund.»
Ähnliches passiert in jenen Jahren in der ganzen Schweiz. Gemäss der Genfer Lizenziatsarbeit werden zwischen 1984 und 1993 nur in 16 von 125 Attentaten die Täter identifiziert.
Noch 1989 behauptet die Bundesanwaltschaft, Angriffen durch rechtsgerichtete Skinheads liege «keine echte rechtsextremistische Gesinnung zugrunde». Es ist unter Behörden eine verbreitete Haltung.
Die Rohrbombe im Asylheim? «Jugendlicher Übermut», sagt der Verhörrichter. Die von Skinheads eingeschlagenen Fenster der Flüchtlingsunterkunft? «Lausbubenhaft», sagt der Untersuchungsrichter. Die Schüsse aus einem Auto, die einen Asylsuchenden schwer verletzen? Das Resultat von «übermässigem Alkoholkonsum», sagt die Polizei.
Polizisten stehen auch tatenlos daneben, als die Patriotische Front 1989 in Steinhausen (ZG) ein Flüchtlingsheim überfällt. «Asylanten sind doch kein Freiwild», empört sich der zuständige Regierungsrat.
Der Einsatzleiter dagegen sagt: «Die wollten ja eigentlich gewaltlos demonstrieren, haben aber ihre Horde nicht immer im Griff.»
Die Schweizer Behörden, auf dem rechten Auge blind? Diese Kritik ist damals hochaktuell. Erst 1989 hat eine parlamentarische Untersuchungskommission ihren Bericht zur Fichenaffäre verabschiedet. Neue Gefahren wie der Rechtsextremismus, heisst es darin, würden von den zuständigen Stellen «nur zögernd erkannt».
Die Patriotische Front beispielsweise sei dem zuständigen Bundesanwalt in seiner Befragung gänzlich unbekannt gewesen.
Vergessene Geschichte
So zu einer Reihe bedauerlicher Einzelfälle erklärt, bleibt auch die Serie tamilenfeindlicher Gewalttaten ohne politische Folgen. Mitte der 1990er Jahre klingen sie langsam aus, während die Kampfbegriffe von damals – wie «Scheinflüchtlinge» oder «Sozialschmarotzer» – in den politischen Mainstream wandern.
Eine Aufarbeitung findet selbst dann nicht statt, als sich das Bild der Tamilen Ende der 1990er Jahre zu wandeln beginnt: von bedrohlichen Gestalten hin zu arbeitswilligen Vorzeigemigranten. Oder als eine Studie 2007 zeigt, dass tamilische Flüchtlinge in den 1980ern und 1990ern nicht häufiger kriminell wurden als der Rest der Bevölkerung.
Heute wird an die Gewaltwelle der 1990er Jahre – anders als etwa in Deutschland – kaum je erinnert. Den Grund dafür verortet der Freiburger Geschichtsprofessor Damir Skenderovic im Schweizer Selbstbild. «Es ist stark von der Vorstellung eines Sonderfalls geprägt. Wir denken: Unser demokratisches Fundament ist stärker als das der anderen. Da können Rechtsextreme gar keinen Erfolg haben. Dass die Schweiz – wie andere europäische Staaten – eine lange Geschichte solcher Strömungen hat, wird verdrängt.»
Das Resultat sei eine Art Amnesie: «Man regt sich kurz auf – dann vergisst man diese Taten wieder.»
Auch die Geschichte von Santhakumar Sivaguru ist heute vergessen. An den jungen Tamilen, der tot zum politischen Symbol wurde, erinnert in der Schweiz nichts – kein Grabstein, keine Gedenktafel.
Seine letzte Ruhe fand er 1990 in Sri Lanka – mitten im Bürgerkrieg, der ihn einst zum Flüchtling gemacht hatte.
Die Akten zum Fall befinden sich im Staatsarchiv Zürich und im Privatarchiv von Erich Schmid.