Früh und eindringlich warnte Juri Andruchowytsch vor den aggressiven Expansionsgelüsten des Putin-Regimes. Von manchen wurde er dafür als hysterisch abgetan und als Nationalist abgestempelt. Doch er behielt recht. Sein Kampf um die Freiheit geht weiter.
Beim Lesen von Juri Andruchowytschs Essayband «Der Preis unserer Freiheit», der Texte aus den Jahren 2014 bis 2023 versammelt, fragt man sich ein übers andere Mal: Warum wurde diesem Mahner nicht rechtzeitig Gehör geschenkt?
Andruchowytsch, neben Serhij Zhadan der bekannteste ukrainische Schriftsteller und ein polyglotter Europäer aus der einst zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörenden galizischen Stadt Stanislau, heute Iwano-Frankiwsk, kennt die Geschichte seines Landes wie kaum ein Zweiter. Prägend wurde für den Achtjährigen ein Verwandtenbesuch in Prag, kurz vor dem russischen Einmarsch von 1968. Hier schnupperte er Frühling und Freiheit, die Erinnerung war nachhaltig.
Später blieb es Andruchowytsch nicht erspart, Wehrdienst in der Sowjetarmee zu leisten, was Drill und Schikane bedeutete. Mit russischem Neoautoritarismus, Nationalismus und chauvinistischem Kitsch setzte er sich während seiner Zeit am Gorki-Institut für Weltliteratur in Moskau auseinander, das ihn zu seinem satirischen Roman «Moscoviada» inspirierte.
Graubereich zwischen Ost und West
Als die Sowjetunion zusammenbrach und die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte, setzte Andruchowytsch seine Hoffnung auf eine europäische Orientierung seines Landes. An der Orangen Revolution von 2004 nahm er ebenso teil wie am Euromaidan im Winter 2013/14. Viele seiner Augenzeugenberichte wurden in deutschsprachigen Zeitungen gedruckt. Der Schriftsteller und Public Intellectual erhielt namhafte Preise, so den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, den Hannah-Arendt-Preis und zuletzt den Heine-Preis, und bedankte sich mit hellsichtig-aufrüttelnden Reden. Nur: Wer hat wirklich zugehört und das Gesagte beherzigt, welcher deutsche Politiker das Gespräch gesucht?
Früh schon forderte Andruchowytsch die westliche Staatengemeinschaft auf, der Ukraine eine EU-Beitritts-Perspektive anzubieten, denn sein Land sei nicht ein «Truppendurchmarschplatz», eine «Pufferzone», ein Graubereich zwischen Ost und West, sondern gehöre unzweideutig zu Europa. Doch politischer Opportunismus verhinderte selbst 2014, nachdem Russland die Krim annektiert und einen hybriden Krieg im Donbass begonnen hatte, entschiedenes Handeln vonseiten des Westens.
Halbherzige Sanktionen, der Bau von Nord Stream 2 waren nicht dazu angetan, den russischen Aggressor zu stoppen. Dieser reagiere nicht auf Soft Power, nur auf Hard Power, schrieb Andruchowytsch 2014 in seinem Essay «Der Preis der Werte oder Unsere Dissonanzen». Der Essay schliesst mit der Beschwörung der Maidan-Barrikaden unter der Europaflagge: «Wir waren allein und haben nicht nur unsere eigene ‹égaliberté› verteidigt, sondern auch die Ihre. Verzeihen Sie – ohne es zu wollen, sind Sie zu unserm schlechten Gewissen geworden.»
Acht Kriegsjahre später, nach dem brutalen Grossangriff russischer Truppen auf die Ukraine und der von Olaf Scholz ausgerufenen «Zeitenwende», ist der Westen aufgewacht. Und Juri Andruchowytsch konnte aus Ursula von der Leyens Mund den lang ersehnten Satz vernehmen: «They belong to us, they are one of us and we want them in.»
Prägnante historische Abrisse
Trotzdem: Der Krieg geht mit unverminderter Gewalt weiter und setzt jene leidvolle Geschichte fort, die die Ukraine im Laufe ihrer Historie vonseiten Russlands oft genug erfahren hat: Unterjochung. Die Grossmacht will das ukrainische Volk, seine Kultur und Sprache nicht als eigenständig anerkennen, vielmehr kolonialisieren und bekämpfen, verkennt allerdings das aufständische Potenzial seines Gegners, seine «partisanische Mentalität».
Wie diese sich herausgebildet hat, skizziert Juri Andruchowytsch in prägnanten historischen Abrissen. Und begründet, warum die Ukrainer sich mit Heldenmut gegen «Teilung und Aufteilung», «Einflusssphären», «Verantwortungsbereiche» und «kanonische Territorien» zur Wehr setzen, sei es auch um einen hohen Preis: weil sie sich weigern, sich zu unterwerfen, und auf Selbstbestimmung und Freiheit pochen.
Mit seinen Essays möchte Andruchowytsch nicht zuletzt jene Skeptiker im Westen erreichen, die noch immer davor warnen, «Russland zu erzürnen», und rasche Verhandlungen fordern, obwohl auf keiner Seite Verhandlungsbereitschaft besteht. Zornig konstatiert der Autor, man mache sich etwas vor, wenn man meine, «einen pathologischen Aggressor besänftigen» zu können.
Nach dem Massaker von Butscha nennt er Russland einen «Terrorstaat», dessen Bestimmung es sei, «Leid, Schmerz und Tod zu säen». In völliger Übereinstimmung mit dem selbstgewählten Symbol: «Z wie Zombie». Nur eine Niederlage könne das in eine Antiwelt abgedriftete Russland «heilen». Diese Niederlage aber sei «die gemeinsame Aufgabe der freien Welt». «Kein fauler Kompromiss, kein Einfrieren, kein ‹schlechter Frieden›, kein naiver Wunsch, sich durch Selbstbetrug und auf Kosten der Ukraine abzuschirmen.» Mit Russland gebe es kein «Win-win», «kein neues Appeasement», beteuert Juri Andruchowytsch und plädiert für Standfestigkeit.
Die braucht es tatsächlich, will die Ukraine – und mit ihr Europa – eine friedliche Zukunft haben. Eine andere Frage ist, ob Russland, das nach Meinung Andruchowytschs um seine Vergangenheit kämpft, «ohne Militarismus und Expansion überhaupt lebensfähig» wäre. Fest steht: Unser Augenmerk und unsere Anstrengungen müssen unvermindert-solidarisch auf die Ukraine gerichtet sein, ohne deren Überleben auch Europas Zukunft massiv gefährdet wäre. Juri Andruchowytschs kluge und beherzte Essays liefern ausreichend Argumente.
Juri Andruchowytsch: Der Preis unserer Freiheit. Essays 2014 bis 2023. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Edition Suhrkamp 2845, Berlin 2023. 204 S., Fr. 27.90.