Seit Beginn des Gaza-Kriegs hat Israel das GPS-Signal im Norden des Landes gestört, um Angriffe des Hizbullah zu vereiteln. Wie lebt es sich in einer Stadt ohne Satellitenempfang? Ein Besuch in Haifa.
«Die Leute bezahlen mich jetzt dafür, dass ich ihnen den Weg weise und sie hinter mir herfahren», sagt Savion Danenberg, während er mit verschränkten Armen vor dem Taxistand wartet. Der 56-jährige Taxifahrer ist einer der wenigen Einwohner von Haifa, der sich nicht darüber beschwert, dass die Stadt seit über einem halben Jahr im digitalen Dunkeln tappt. In Israels drittgrösster Stadt im Norden des Landes gibt es seit Beginn des Gaza-Krieges so gut wie kein GPS-Signal mehr. Wer in Haifa zum Beispiel Google Maps öffnet, wird zumeist am Flughafen in Beirut geortet, der Hauptstadt Libanons.
Seit dem Überfall der Hamas im Süden liegt auch eine dunkle Wolke über der Nordgrenze Israels. Der von Iran unterstützte Hizbullah schiesst täglich Raketen über die Grenze, Israel antwortet mit Luftangriffen. Rund 60 000 Israeli wurden aus dem Grenzgebiet evakuiert. In der vergangenen Woche spitzte sich die Lage nochmals zu, als infolge von Raketenbeschuss aus Libanon grossflächige Waldbrände im Norden Israels ausbrachen. Israelische Politiker und Militärs fuhren an die Grenze und stellten abermals klar, dass Israel für einen Krieg gegen den Hizbullah jederzeit bereit sei. Am Mittwoch feuerte die Schiitenmiliz rund 160 Raketen auf Israel ab – laut Hizbullah der heftigste Beschuss seit Kriegsbeginn.
Um den Feind zu verwirren, stört das israelische Militär das GPS-Signal im Norden des Landes. So können Drohnen ihre Ziele nicht ansteuern – und die Einwohner von Haifa sind gezwungen, ihr Leben umzustellen.
Menschen verwenden wieder riesige Faltkarten, Taxifahrer mit guter Ortskenntnis sind gefragter denn je, und das Liebesleben der jungen Bewohner von Haifa ist auf den Kopf gestellt: Online-Dating funktioniert in der Stadt nicht mehr. Denn auch Dating-Apps wie Tinder funktionieren über GPS – sie vermitteln Partner, die sich im selben geografischen Gebiet befinden. Weil aber der Satellit die Bewohner von Haifa nach Beirut versetzt, «matchen» nun plötzlich Israeli mit Libanesinnen und Libanesen.
Israel und Libanon sind seit Jahrzehnten verfeindet, 1982 und 2006 führten sie Krieg gegeneinander. Jeglicher Kontakt mit Israeli steht in Libanon unter Strafe, israelischen Staatsbürgern ist die Einreise nach Libanon verboten.
«Es fühlte sich an, als könnten wir Freunde sein»
«Drei Wochen lang habe ich mit Mohammed geschrieben», sagt Daniela Ohayon lachend. Sie sitzt auf dem Balkon ihrer Dreizimmerwohnung in Haifa, die sich die 31-Jährige mit ihrer Mitbewohnerin Tom teilt. «Manchmal wachte ich morgens auf, und mein Tinder-Profil war voll mit Mohammeds aus Libanon.»
«Am Anfang hatte ich etwas Angst, das war immerhin kurz nach dem 7. Oktober», sagt die Reflextherapeutin. Aber dann wurde die junge Frau neugierig. Sie begann, auf die Nachrichten der libanesischen Männer zu antworten. Diese dachten zunächst, Ohayon sei eine Touristin in Beirut. Doch auch als sie herausgefunden hätten, dass sie Israeli sei, hätten sie den Kontakt nicht abgebrochen, erzählt sie. «Sie waren sehr viel netter, als ich dachte, und zeigten viel Verständnis für unsere Situation. Sie verurteilten das Massaker. Es fühlte sich so an, als könnten wir Freunde sein.»
Vorher hatte Ohayon nie mit einem Menschen aus Libanon Kontakt gehabt. «Mit einem schrieb ich sehr lange. Uns war klar, dass wir uns nicht treffen können, und wenn, dann womöglich nur in Europa. Aber zu jener Zeit hatte ich grosse Angst, Israel zu verlassen», sagt sie. «Mir war klar, dass es nie passieren wird.» Nach ein paar Wochen dann löschte sie die App.
Dating ohne Apps: «Ich liebe es»
Das Liebesleben der jungen Frau hat sich seit Kriegsbeginn verändert – zum Besseren, wie sie sagt. «Keine von meinen Freundinnen benutzt noch Tinder. Es funktioniert einfach nicht mehr», sagt sie. Ohayon findet das gut, denn die Leute in Haifa seien nun offener, Männer sprächen sie im Café an. Sie habe nun mehr und vor allem bessere Dates. «Die Leute hier haben jetzt mehr Chutzpah», sagt sie lächelnd. Das hebräische Wort Chutzpah lässt sich am ehesten mit «liebenswerter Dreistigkeit» übersetzen.
«Ich liebe es», sagt sie. Dating sei sehr viel angenehmer geworden, seitdem alle auf die Apps verzichteten. «Früher hätte ich vielleicht gedacht, dieser Mann auf meinem Smartphone-Bildschirm ist nicht mein Typ. Aber wenn ich heute mit ihm im echten Leben rede, merke ich, wie witzig er ist oder was für eine besondere Energie er hat.» Bisher hat Ohayon nicht daran gedacht, Tinder wieder zu installieren.
«In einer normalen Welt könnten wir uns treffen»
Erez Sarig benutzt Tinder noch. Der stämmige Mann mit den langen, zum Zopf gebundenen Haaren ist erst vor wenigen Tagen von seinem Reservedienst bei der Armee zurückgekehrt. Nun öffnet der 37-jährige Stadtplaner die Tür zu seiner Wohnung im obersten Stockwerk neben dem Theater von Haifa. «Wenn du mich fragst, wie libanesische Frauen auf Tinder sind, dann würde ich sagen: ziemlich ähnlich wie Israelinnen», sagt er bei Kaffee und Gebäck in seinem grossen Wohnzimmer.
Er habe oft mit Libanesinnen auf Tinder geschrieben, weil er neugierig gewesen sei. «Auf Tinder öffnet sich ein kleines Fenster nach Libanon. Du siehst, was hätte sein können.» Was ihn dabei am meisten überrascht habe: Libanon unterscheide sich gar nicht so sehr von Israel. «Der Kleidungsstil der Libanesinnen ist ähnlich, und was sie auf ihren Profilen schreiben, könnte auch in den Profilen von israelischen Frauen stehen.»
Einmal habe er überhaupt nicht realisiert, dass eine Frau aus Libanon stamme. «Sie hat angefangen, auf Englisch zu schreiben. Ich habe sie gefragt, wie lange sie noch in Israel sei. Dann sagte sie mir, sie wohne in Beirut.» Sie hätten dann schnell den Kontakt abgebrochen. «Aber ich habe mir gedacht: In einer normalen Welt könnten wir uns treffen.»
Sarig ist in Haifa aufgewachsen. Seit seiner Kindheit weiss er um die Bedrohung aus Libanon. Doch in den letzten Monaten hat sich sein Bild des nördlichen Nachbarn verändert. «Bei Libanon dachte ich immer als Erstes an eine Gefahr, an einen Feind. Durch Tinder konnte ich zum ersten Mal das tägliche Leben in Beirut sehen. Ich wünschte, ich könnte dort einmal hinfahren.»
Der Krieg mit dem Hizbullah könnte dennoch kommen
«Ich glaube, wir Israeli sind den Libanesen sehr ähnlich», sagt Sarig. «Wir leben beide im Nahen Osten, aber unsere Länder sind modern und liberal. In vielen Hinsichten sind wir Libanon näher als vielen europäischen Ländern.» Das habe er erst durch Tinder erfahren. «Aber wir haben diesen Krieg zwischen unseren Staaten.»
Noch herrscht kein offener Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah. Doch viele Israeli, und gerade die Bewohner des Nordens, gehen davon aus, dass er kommen könnte. Ist es notwendig, dass Israel in Libanon einmarschiert? «Ich denke, das ist es», sagt Sarig schnell. «60 000 Menschen können nicht nach Hause zurückkehren. Wenn Krieg der einzige Weg ist, sie zurückzubringen, dann ist dieser Krieg notwendig.»
Er wisse zwar, dass es einen Unterschied zwischen Libanesen und dem Hizbullah gebe. Dennoch bedeute das nicht, dass Israel gegenüber der schiitischen Miliz nachgeben dürfe. «Die Situation an der Grenze wird sich nicht ändern, ohne dass wir den Hizbullah zwingen, sie zu ändern.»
Sarig ist überzeugt, dass der Krieg kommen wird. Ein solcher würde laut Experten zu verheerender Zerstörung führen. Erez Sarig zeigt aus dem Fenster und deutet auf die umliegenden Häuser in seinem Quartier. «Die wurden alle in den 1920er Jahren gebaut», sagt er. «Schlägt hier eine Rakete ein, wird nichts mehr stehen bleiben.»
Ein Krieg gegen den Hizbullah mit seinen mutmasslich 100 000 Raketen wäre für Israel eine weitaus grössere Herausforderung als der Krieg gegen die Hamas. Für das krisengebeutelte Libanon wären die zu erwartenden Bombardierungen durch Israel hingegen eine Katastrophe. Jenes Land, das die Israeli im Norden jetzt zum ersten Mal über Tinder kennenlernen, gäbe es so wohl nicht mehr.







