Zwischendurch
Mahlzeiten sind von gestern. Statt Frühstück, Mittag- und Abendessen einzunehmen, wird gesnackt – und zwar den ganzen Tag lang.
Man hätte meinen können, dass wir mit dem Kochen und Sauerteigbrotbacken eine Kehrtwende in Richtung gesunder und bewusster Ernährungsgewohnheiten machen. Am Tisch zu essen, alleine, als Familie, WG, mit Teller und Besteck – in postpandemischen Zeiten fühlt sich das eher an wie eine Erinnerung an frühere Zeiten. Denn das Konzept, drei Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen, gehört der Vergangenheit an. 2024 steht ganz im Zeichen der Snacks.
Eigentlich snacken wir ja schon ewig; das helvetische Zvieri ist der Happen Nummer eins – und dies seit Jahrhunderten. Nur sind heute von den fast fünfeinhalb Mahlzeiten, die in der Schweiz pro Tag verzehrt wurden, rund drei davon Zwischenmahlzeiten. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Umsatz von Snack Food steigt seit Jahren kontinuierlich. Was hat die Welt so in den Snackrausch versetzt?
Snackifizierung
«Wenn es ein Buch darüber gäbe, wie viele von uns seit Beginn von Covid gegessen haben, dann könnte es «Snacking All the Time … A Covid Memoir» heissen, witzelt das US-amerikanische Marktforschungsunternehmen Circana. Und hält fest: 2020 ist ein herausragendes Jahr für die Snackbranche gewesen.
Unsere Küche erlebte einen zwar noch nie gesehenen Einsatz, die Schränke haben sich aber tatsächlich in riesige Verkaufsautomaten verwandelt. Ein Grund ist von praktischer Natur: Snacks sind preiswert, haltbar und bequem. Der andere: Sie machen glücklich. Für das High nach Chips und Schokolade sorgt vor allem der Hirnbotenstoff Dopamin.
Nun, da der Vorratsschrank oft keine 10 Schritte mehr entfernt ist, erstaunt es nicht, dass etwa Snack-Delivery-Dienste wie Pilze aus dem Boden schiessen. Frische, saftige Cookies, direkt aus dem Ofen, in den Park oder ins Büro geliefert bekommen? Junge Marken wie KKrumbs oder Puffy’s Bakery machen das vor. Grosse Unternehmen wie Uber Eats oder Stash liefern längst auch schon Donuts, Glace und Chips aus. Die Häppchen sind also so mobil geworden wie der Mensch des 21. Jahrhunderts selbst.
Weltweit wird gesnackt
Nicht dass der Aufschwung des Snackens nur in der Schweiz zu beobachten wäre: Das Wirtschaftsmagazin «Forbes» schrieb unlängst über die «Snacking-Epidemie» in den USA, und Britinnen und Briten erwiesen sich während der Pandemie als grösste Snacker Europas. In Trendberichten verschiedener internationaler Marktforschungsunternehmen wird prognostiziert, dass der Umsatz mit Snack Food kontinuierlich wachsen wird.
Essensanarchie!
Im bäuerlich-ländlichen Leben war es über Jahrhunderte üblich, zwei Hauptmahlzeiten einzunehmen, eine am Morgen und eine am Mittag. Je nach den finanziellen Möglichkeiten gehörten während des restlichen Tages auch schon kleinere Zwischenmahlzeiten dazu. Die Auswahl dafür oblagen saisonalen und regionalen Schwankungen, sie war eher eintönig und karg. Nichts im Vergleich zum 21. Jahrhundert.
Da erwartet man von Snacks etwas Interessantes, etwas Belohnendes im Vergleich zu den Hauptmahlzeiten, die weniger Aufregung bieten. War vor zwanzig Jahren noch der halbe Twix ein sündhafter Hochgenuss, werden Snacks zunehmend zu Mahlzeitenersatz.
Snacks widerspiegeln den allgemein immer hektischer werdenden Alltag. Wir arbeiten mehr als je zuvor, einzelne Mahlzeiten werden immer öfter ausgelassen. Nach einem Arbeitstag noch in der Küche stehen, nein, danke. Cracker mit Käse stillen auch Hunger und Gelüste. Die Zeit der Essensanarchie ist angebrochen.
«Gut für die Gesundheit» funktioniert
Als Mensch mit Würde lässt man sich aber bestimmt nicht mit einer Tüte Chips im öV blicken. Für die hält der Markt aber längst auch schon Snacks bereit, die nicht beim blossen Betrachten Diabetes und Fettleber verursachen. Oliven und Artischocken etwa. An sich nichts Neues – im Format für unterwegs geben sie einem aber das Gefühl, einen Erwachsenen-Snack in der Tasche zu haben. Quark, einst gelöffelt, wird mit einer dünnen Schicht Zartbitterschokolade überzogen und zum «On-the-go-Snack» gemacht.
Selbst Sonntagssportler ersetzen das Mittagessen mit einem, zwei Proteinriegeln, die mittlerweile selbst Coop und Migros wie eien Fitnessshop aussehen lassen.
Mit dem Protein-Hype kam auch der überraschende Aufstieg von fleischigen Zwischenmahlzeiten; Beef Jerkys, Biltong, ein Trockenfleisch der südafrikanischen und namibischen Küche, Schinkensnacks, knusprig und luftgetrocknet, so weit das Auge reicht. Umweltfreundlich sind die Stücke aus Brasilien kaum, und den meist sehr hohen Salzgehalt übersehen die Protein-Verliebten auch gern. Mit 200 bis 300 Kalorien pro 100 Gramm biedern sie sich aber als gesunde und schnelle Eiweisslieferanten an.
Erdnussschalen sind dem Untergang geweiht
Auch in der Gastronomie ist angekommen, dass Menschen gerne ausserhalb der regulären Essenszeiten unkomplizierte Kleinigkeiten essen wollen. In Restaurants, aber vor allem in Bars zeigt sich die neue Kultur des entspannten Snackens. Ein Konzept, das die Gamper Bar an der Zürcher Nietengasse schon seit 2018 verfolgt: Hier wird Wein mit abwechslungsreichen Happen in derselben Qualität wie im Restaurant nebenan angeboten. Ein, zwei Tellerchen mit Sardinen in Olivenöl, Salametti oder Mortadella-Brot stillen die Lust, mehr den Hunger.
Auch im «Cor», der Zürcher Weinbar von Spitzenköchin Zizi Hattab, kann man sich satt essen, ohne sich auf ein einziges Menu festlegen zu müssen. Die baskische Pintxos können aber auch eine kostengünstige Möglichkeit sein, eine neue Küche zu entdecken.
In der «Igniv Bar» in der Zürcher Altstadt werden die Gäste an der Bar auf Sterne-Niveau versorgt: Mit Spareribs, Schweinebauch-Buns oder Pommes frites mit Trüffel-Mayonnaise verführt das «Igniv»-Team um Daniel Zeindlhofer die Gäste dazu, bis Mitternacht – und nicht nur wegen der erstklassigen Drinks – in der Bar zu bleiben. Und vermitteln ihnen das Gefühl, quasi im mit 17 Gault-Millau-Punkten und zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten, gleichnamigen Restaurant zu essen, ohne dafür ein Vermögen zu blechen.
Die Snackifizierung macht die Rückkehr zur Ära der drei grossen Mahlzeiten unwahrscheinlich. Man fragt sich: Was hat man da auch bloss den ganzen Tag hindurch nur mit den Händen gemacht, wenn nicht gesnackt?
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