Das Gebäude war vermutlich nicht erdbebengerecht gebaut. Doch auch die spezielle Dynamik des Erdbebens und der weiche Boden trugen wohl zum Einsturz bei.
Ein riesiger Rohbau schwankt und stürzt ein, die Bauarbeiter können nur noch wegrennen. Videos aus Bangkok zeigen, wie das Gebäude binnen Sekunden kollabiert. Der Auslöser des Einsturzes war ein Erdbeben 1000 Kilometer weiter nördlich, in Myanmar.
Nach ersten Meldungen sind bei dem Hochhauskollaps in Bangkok 12 Bauarbeiter ums Leben gekommen, 75 Personen werden vermisst. Verglichen mit Myanmar sind das sehr tiefe Zahlen. Dort sind bis jetzt 2000 Todesopfer bestätigt, aber diese Zahl dürfte noch stark steigen. Unzählige Gebäude stürzten in dem Land ein.
Das Epizentrum des Erdbebens mit der Stärke 7,7 lag bei Mandalay im Zentrum des Landes. Viele fragten sich, wie es sein könne, dass 1000 Kilometer entfernt ein modernes Hochhaus in sich zusammenfalle.
Unter Wissenschaftern kursieren drei Thesen zur Erklärung des Kollapses: Die Ursachen können in der Bauweise, im Untergrund von Bangkok oder in dem speziellen Typ des verheerenden Erdbebens in Myanmar liegen.
Ein Turm wie der Prime Tower,
aber nicht erdbebengerecht
Das Hochhaus in Bangkok besass 33 Stockwerke und mass 137 Meter – das sind 11 Meter mehr als der Prime Tower in Zürich. Der Rohbau war bereits fertig, der Innenausbau in vollem Gange. Laut ersten Äusserungen von Fachleuten, die von der BBC zitiert werden, könnten in diesem Hochhaus verstärkende Bauelemente im Erdgeschoss gefehlt haben.
Im Erdgeschoss von Wohnblocks oder Hochhäusern werden häufig nur einzelne Pfeiler verbaut, das schafft Platz für kommerziell nutzbare Räume. Doch in Erdbebengebieten ist diese Bauweise fatal, denn ein zu schwach konstruiertes Erdgeschoss kann den seismischen Schwingungen leicht nachgeben und kollabieren. Das geschah auch beim Erdbeben 2023 in der Türkei und Syrien. In erdbebengefährdeten Regionen ist es darum notwendig, das Erdgeschoss mit horizontalen Streben und mit weiteren Pfeilen zu verstärken.
Sedimente könnten die Erdbebenwellen intensiviert haben
Eine weitere mögliche Ursache für den Kollaps könnte der weiche Untergrund von Bangkok sein. Die Geologin Judith Hubbard vermutet, dass er die Erdbebenwellen verstärkt hat. Die Forscherin – sie ist derzeit Gastprofessorin an der Cornell University in Ithaca, New York – hat erste fachliche Erkenntnisse zu dem Myanmar-Erdbeben in einem Beitrag auf der populärwissenschaftlichen Website «Earthquake Insights» zusammengefasst.
Wandern Erdbebenwellen durch weiche Sedimente, dann wächst die Amplitude der Wellen. Ausserdem passten manchmal die Ausmasse der Wellen so gut zu einem Sedimentbecken, dass es zur Resonanz komme, schreibt Hubbard. Es gibt viele historische Beispiele für dieses Phänomen – noch lässt sich aber nicht endgültig sagen, ob die Verstärkung der Erdbebenwellen durch weiche Sedimente auch in Bangkok eine Rolle gespielt hat.
Ein schneller Riss in der Erdkruste
bedeutet besonders grosse Schäden
Drittens ist es möglich, dass sich in Myanmar ein spezieller Typ von Erdbeben ereignet hat: Der Riss in der Erdkruste könnte besonders lang gewesen sein, und er könnte sich extrem schnell ausgebreitet haben.
An der Sagaing-Störung in Myanmar grenzen zwei Erdplatten aneinander – die Burma-Platte und die Sunda-Platte schieben sich aneinander vorbei. Das nennt man auch Transformstörung.
An der Sagaing-Störung ist es in der Vergangenheit immer wieder zu starken Erdbeben gekommen. Judith Hubbard hat sich gemeinsam mit dem Kollegen Zhe Jia von der University of Austin die Messdaten vom neuen Beben angeschaut. Die Daten zeigen, dass sich die Erdplatten an der Störung auf einer Länge von bis zu 480 Kilometern aneinander vorbeigeschoben haben – und zwar um 6 Meter.
Die Messdaten vom Hauptbeben und von den Nachbeben in der Region passen zu der Vermutung, dass es sich um ein räumlich weit ausgedehntes Beben gehandelt hat, bei dem sich der Riss in der Erdkruste besonders rasch ausgebreitet hat.
Zhe Jia nimmt an, dass sich der Riss sogar schneller fortgepflanzt hat als die seitlichen Wellen des Bebens in der Erdkruste. Dieses seltene Phänomen nennt man Supershear-Erdbeben.
Bei dem Myanmar-Beben könnte der Riss eine Geschwindigkeit von ungefähr fünf Kilometern pro Sekunde gehabt haben. Vom Epizentrum ausgehend, wanderte er Hunderte von Kilometern nach Süden. Dadurch waren womöglich nicht nur die Einwohner von Mandalay, sondern auch viele Millionen Menschen weiter südlich sehr starken Erschütterungen ausgesetzt.
Die Wellen von Supershear-Erdbeben bilden eine Art Schockfront, die auch noch in grosser Entfernung zu spüren ist. Das könnte laut Hubbard ein Teil der Erklärung dafür sein, weshalb es in Bangkok zum Einsturz des Hochhauses kam.
Die Zahl der Todesopfer kann in die Zehntausende gehen
Die grössten Schäden hat das Erdbeben allerdings nicht in Thailand angerichtet, sondern in Myanmar. Gemäss einer Schätzung des amerikanischen Erdbebendiensts USGS beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass bei dem Desaster mehr als 10 000 Menschen ums Leben gekommen sind, fast 70 Prozent. Weil der Bürgerkrieg in dem Entwicklungsland weiter andauert, wird es entsprechend lange dauern, bis die Hilfsmassnahmen alle betroffenen Regionen erreichen werden.
Grafische Mitarbeit: Anja Lemcke.