Petros Giannakouris / AP
Der Tourismus-Professor Christian Laesser beantwortet Fragen rund ums Reisen – meist kurz und knapp, schliesslich wollen wir verreisen.
Herr Laesser, wohin verreisen Sie diesen Sommer?
Ich bin beruflich so viel unterwegs, dass ich zu Hause bleibe und versuche, zu entschleunigen. Dazu gehört auch, einmal an die berühmte Decke zu starren.
Wenn Sie trotzdem verreisen würden: in eine Stadt oder aufs Land?
Beides. Ich mag Kontraste.
Aufbrechen oder ankommen?
Aufbrechen, um irgendwann auch anzukommen. Reisen ist ein Veränderungsprozess hin zu einem neuen, meist vorübergehenden Zuhause.
In Erinnerungen schwelgen oder eine Reise wiederholen?
Wiederholen, um zu vertiefen.
Wiederholen wir frühere Reisen, die uns beeindruckt haben?
Bestenfalls zwischendurch. Denn fürs reine Wiederholen ist der Mensch zu neugierig. Eine Ausnahme bilden ältere Menschen, deren Reiselust für Neues oft gesättigt ist. Sie suchen eher Varianten von Gebieten auf, die sie bereits kennen. Oder gehen im Extremfall an Orte von Kindheitserinnerungen zurück. Eine zweite Ausnahme entsteht beim Planen von Reisen in Phasen von Zeitknappheit oder Stress. Da greifen Menschen gerne auf bekannte Informationen und somit Erinnerungen zurück. Das kann dazu führen, dass sie eine Stadt wiederbesuchen, um nicht mehr zu allen Sehenswürdigkeiten rennen zu müssen. Stattdessen verweilen sie in ihren Lieblingsparks, -cafés oder -museen und erholen sich.
Worin liegt der Unterschied zwischen einem Reisenden und einem Touristen?
Das ist fast schon eine philosophische Frage. Beide begeben sich an Orte ausserhalb ihrer üblichen Rayons. Der Tourist befindet sich aufgrund von Zeitknappheit eher in einem Konsummodus. Der Reisende dagegen ist eher suchend, möglicherweise lernend und nimmt sich dazu mehr Zeit. Aber: Auch der Tourist stellt seine Erfahrungen selber zusammen. Und auch der Tourist ist der Schmied seiner eigenen Erlebnisse und Erinnerungen.
Muss man seinen Lebensraum kennen, um die Welt zu verstehen?
Das Verständnis für den eigenen Lebensraum vermittelt Stabilität. Das erhöht die Chance, eine komplexere Welt erkunden zu wollen. Geht man aber nur vom Bekannten aus, missversteht man mit dem begrenzten Blick allzu leicht das Fremde.
Wissen Sie in der Regel, was Sie sich vom Reisen erhoffen?
Was ich erhoffe, schon. Nicht aber, was ich bekomme. Das macht Reisen so spannend.
Warum reisen wir?
Reisen liegt in unseren Genen. Der Mensch ist seit je unterwegs. Das ist bis heute der Fall: Wir verlassen unsere Komfortzone, testen neue Grenzen aus.
Die meisten Menschen gehen auf Reisen oft dem nach, was sie auch im Alltag gerne machen: sich bewegen, gut essen, unterschiedliche Medien konsumieren.
Wie sieht eine typische Reisebiografie aus?
Junge Menschen wollen sich und die Welt von neuem entdecken und erleben, ihre Lebensfreude an Partys feiern und andere daran teilhaben lassen. Mit einer Familie ist gemeinsame Zeit das knappste Gut. In dieser Lebensphase suchen die Menschen vermehrt Nestwärme etwa in Form eines Ferienhauses oder von Erholung in einem Hotel. Ältere Menschen wiederum wenden sich bereits Bekanntem zu. Und dann gibt es die Ausreisser und die Überflieger wie den britischen Unternehmer Richard Branson, der das nötige Kleingeld hat, um als Privatperson ins Weltall zu fliegen. Andere Milliardäre tauchen zum Meeresgrund, was, wie wir kürzlich gesehen haben, gehörig schiefgehen kann.
Wo liegen die Grenzen des Tourismus?
Dort, wo die Physik sie uns setzt.
Sehnen wir uns nach Reisen, weil wir das Angestrebte wie den Kitzel von Gefahren aus unserem Alltag verdrängen?
Kaum. Belegt ist, dass die meisten Menschen oft dem nachgehen, was sie auch im Alltag gerne machen: sich bewegen, gut essen, unterschiedliche Medien konsumieren. Und dass sie Ferien für ergänzende Aktivitäten nutzen, die in ihrem Alltag nicht möglich sind: Neues kennenzulernen und Müssiggang.
Wer reist, sucht jenseits der Routine das Aussergewöhnliche und baut sich Erinnerungen auf, die hoffentlich bleiben.
Wir sehnen uns nach Dingen, die wir nicht in Besitz nehmen können. Als Reisende bewegen wir uns flüchtig von Ort zu Ort durch den Raum. Reisen wir auch daher so gern?
Ich erlebe Reisen nicht als etwas Flüchtiges: Wer reist, sucht jenseits der Routine das Aussergewöhnliche und baut sich Erinnerungen auf, die hoffentlich bleiben.
Wonach sehnen sich Schweizerinnen und Schweizer beim Reisen am häufigsten?
Gemäss unseren Forschungen nach drei Dingen: Sie wollen Zeit für sich, die Partnerschaft und die Familie. Sie wollen Neues entdecken. Und sie wollen sich erholen.
Und wohin reisen sie dazu am häufigsten?
In die Schweiz und in den Mittelmeerraum.
Weshalb ist Paris bei den Schweizern seit Jahrzehnten die Top-Reisedestination?
Wegen ihrer Multioptionalität und guten Erreichbarkeit. Flanieren, gut essen, Neues erleben und vielleicht sogar Sport treiben, all das ist im Nu an einem faszinierenden Ort möglich.
Geben Sie sich der Reisesucht hin, wenn Sie die Zeit und das Geld dazu haben. Es gibt Süchte mit schlimmeren Folgen.
Soziale Netzwerke wie Instagram lösen Reiseströme zu besonders fotogenen Orten aus. Worin liegt der Reiz, dorthin zu gehen, wo schon alle waren?
Es geht um die Selbstdarstellung für die zu Hause Gebliebenen. Dies gilt auch für junge Menschen in entwickelten Ländern wie für neu reisende Menschen in Ökonomien, die sich entwickeln. Ich denke da an Inder und Chinesen, die erstmals nach Übersee und damit nach Europa reisen. Sie wollen sicherstellen, dass ihre Bezugsgruppen zu Hause wissen, wo man war – nämlich an den «richtigen» Orten.
Das beste Mittel gegen Reisesehnsucht?
Geben Sie sich der Reisesucht hin, wenn Sie die Zeit und das Geld dazu haben. Es gibt Süchte mit schlimmeren Folgen.
Was suchen Schweizer Touristen nach der Covid-19-Pandemie stärker: Sicherheit oder Freiheit?
Ich kenne die Motive der Reisenden nicht. Was ich aber beobachte: Der Flughafen Zürich erreicht wieder eine Kapazität von 85 Prozent. Trotz hohen Flugpreisen.
Covid würde das Reisen verändern, hiess es während der Pandemie. Welche Veränderungen traten ein?
Keine grundlegenden. Der Mensch ändert sein Verhalten nur sehr langsam. Das sah man auch schon am Reiseverhalten der Europäer nach der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920: Fünf Jahre danach beförderten die Bahnen wieder genau gleich viele Fahrgäste wie vorher.
Während der Pandemie wurden vermehrt lokale Attraktionen erkundet. Werden die populär gewordenen Ferien zu Hause, neudeutsch «Staycation», bleiben?
Die Zahl der Tagesausflüge mag leicht steigen oder stagnieren, die Übernachtungen kaum. Die Schweiz ist zu gut erschlossen, und wir sind zu schnell über die Grenze. Es sei denn, Europa wird wegen der Inflation massiv teurer, das würde Hoteliers in der Schweiz begünstigen. Was man aber während der Pandemie ebenfalls gesehen hat: Der Binnenmarkt kann die ausländischen Gäste nicht aufwiegen.
Ich höre von vielen Reiseanbietern, dass ihr Geschäft wieder brummt, ja sogar boomt. Wird das Geld, das die Leute während der Pandemie nicht für Reisen ausgeben konnten, jetzt für teurere Reisen ausgegeben?
Eine empirische Studie dazu gibt es nach meinen Kenntnissen nicht. Ich kann mir aber vorstellen, dass es momentan einen Überhang gibt und die Leute vorübergehend vermehrt oder teurer verreisen.
Reisen viele Leute im Moment über ihrem Budget?
Wahrscheinlich ja – bis der Bedürfnisstau abgebaut sein wird.
Die Wohnungsmiete soll nicht mehr betragen als ein Drittel des monatlichen Nettolohns: Gibt es so eine Formel auch für die Kosten von Reisen?
Nein. Aber das frei verfügbare Einkommen eines Haushalts und die Rücklagen zeigen, welche Träume tatsächlich verwirklicht werden können.
Reisen wird auf absehbare Zeit teurer, weil viele Anbieter mehr Macht beim Festlegen von Preisen haben als vor der Pandemie.
Warum werden Flugtickets im Moment teurer?
Weil die momentan höhere Auslastung die Grundlage für Preiserhöhungen ist. Zudem setzen die Airlines alles daran, keine verlustbringenden Überkapazitäten bereitzustellen. Bevor sie das Angebot ausweiten und neue oder zusätzliche Verbindungen anbieten, werden sie schauen, wie sie mehr Erträge aus dem jetzigen Geschäft ziehen können. Zudem schlagen die Energie- und Personalkosten mächtig zu Buche. Die meisten Fluggesellschaften operieren zudem mit Hubs, so dass viele Gäste über eine Zwischenstation fliegen. Hubs schaffen Volumen und über Hub-Dominanz Ertragskraft, sind aber auch komplex zu betreiben und damit kostenintensiv.
Steigen die Preise fürs Reisen grundsätzlich?
Reisen wird auf absehbare Zeit teurer, weil die Kapazitäten knapp sind und viele Anbieter deshalb mehr Macht beim Festlegen von Preisen haben als vor der Pandemie.
Wie verhalte ich im Moment schlau, um günstig zu reisen?
Wenn Sie genau wissen, was Sie wollen, hat es keinen Sinn, beim Buchen zuzuwarten. Wenn Sie flexibel sein möchten, wird es schnell teuer.
Ist Reisen heutzutage noch ein Luxus?
In wohlhabenden Ländern wie der Schweiz ist Reisen im übertragenen Sinn schon fast ein Rohstoff.
Ist Reisen trotzdem ein Indikator für soziales Ansehen und Prestige?
Das war es. Durch den Preiszerfall und die damit verbundene breite Teilhabe am Reisen ist die Tätigkeit für viele schon fast zur Routine geworden. Entscheidend ist heute nicht mehr allein, wohin ich reise, sondern was ich an einem Ort mache.
Wer entscheidet, wohin man reist: die Frau, der Mann, allfällige Kinder?
Reise-Entscheidungen sind meistens kollektive Entscheidungen.
Kehren wir die Frage um: Wer hat die geringste Entscheidungsmacht?
Die Person mit der höchsten Bereitschaft, den anderen einen Gefallen zu tun.
Wohin geht eine Lehrerin, Ärztin oder eine CEO typischerweise in die Ferien?
Wir haben in den vergangenen 30 Jahren festgestellt, dass das Geschlecht, die Ausbildung und der Beruf nur noch einen sehr beschränkten Einfluss darauf haben, wohin und wie jemand reist. Der Unterschied liegt auch da in der Tätigkeit vor Ort. Nehmen wir als Beispiel Mallorca: Die Ärztin geht in Palma an einen Kongress, die CEO golft, die Lehrerin schreibt auf einer Finca ein Buch, und eine Journalistin macht statt Workation aus reifen Früchten Zitronensirup.
Wie können Reiche beim Reisen sparen?
Indem sie die marginalen Zusatznutzen eines High-End-Hotels verglichen mit denjenigen eines guten Dreisternehotels nicht überschätzen.
Was können wir von Menschen mit einem niederen Einkommen über gutes Reisen lernen?
Dass jeder Mensch selbst verantwortlich ist, eigene gute und schöne Erlebnisse zu kreieren.
Der schnell aufstrebende indische und chinesische Mittelstand reist vermehrt. Wie verändert dies das Reisen international?
Man erkennt die ersten Änderungen bereits an den Hauptrouten des Flugverkehrs: Die innerasiatischen Flüge nehmen zu, und die Hauptrouten zwischen Nordamerika und Europa verlagern sich in Richtung Asien. An internationalen Hotspots wie einzelnen Städten oder alpinen Attraktionspunkten in Europa oder in Nordamerika verändert sich die Zusammensetzung der Gäste nachhaltig, im Sinne von andauernd.
Was für Folgen hat das für den Tourismus in der Schweiz?
Wir sehen örtlich beschränkte Folgen, etwa an One-stop-Destinationen, die bei internationalen Gästen attraktiv sind. Etwa Luzern, Interlaken, Engelberg oder auch Genf. Das Strassenbild vieler solcher Destinationen wird fremdländischer.
Und wie beeinflusst die steigende Anzahl indischer und chinesischer Touristen unsere eigene Reisetätigkeit?
Bei beliebten Attraktionspunkten in Europa und in Nordamerika wird das Angebot knapper. Städte in Europa, von einigen Ausnahmen wie etwa Dubrovnik abgesehen, sind weniger problematisch als Nationalparks in Nordamerika. Städte können eine hohe Nachfrage generell besser aufnehmen.
Verteuern die asiatischen Touristen das Reisen für uns?
Nicht zwingend. Weil sie saisonal zu einem anderen Zeitpunkt verreisen und so zu einer besseren Auslastung beitragen. Denken Sie an die Russen, die jeweils im Januar nach St. Moritz kamen. Zu einem Zeitpunkt, an dem Schweizer kaum im Engadin Ferien machten.
Hat die Überalterung unserer Gesellschaft einen Einfluss auf das Reisen?
Ja, auch wird sich die Auslastung verbessern, weil die einheimischen und angereisten Silver Surfers über mehr Spielraum verfügen, wann sie reisen. Keiner 70-jährigen Dame käme es in den Sinn, während der klassischen Sommerferienzeit im Juli oder August nach Ascona oder Zermatt zu fahren. Stattdessen reist sie im Juni oder September hin.
Welche unausgetretenen Pfade muss ich jetzt begehen, weil sie in 10, 15 Jahren verstopfte Autobahnen sein könnten?
Da sollten Sie wohl die Reiseveranstalter fragen. Generell würde ich sagen, wirklich abseits gelegene Orte und Strecken. Etwa den Pamir Highway in Tadschikistan, eine der höchstgelegenen und zugleich schönsten Bergstrassen der Welt.
In der Mongolei kommen heute auf einen Einheimischen rund 0,02 Touristen. In Island sind es 16. Ist die Mongolei in ihrer Entwicklung das nächste Island und wird schon bald von Touristen überflutet?
Das lässt sich nicht abschliessend sagen. Es sind verschiedene Faktoren, die internationale Besucherströme antreiben. Etwa günstige Wechselkurse und damit bezahlbare Preise wie in Island nach der Finanzkrise. Oder stabile politische Rahmenbedingungen wie in der Mongolei. Sie tragen bestimmt dazu bei, dass die Mongolei in den kommenden Jahren von vielen Touristen entdeckt wird.
Stimmt demzufolge, was der Autor Hans Magnus Enzensberger bereits Ende der fünfziger Jahre schrieb: «Der Tourismus zerstört das, was er sucht, indem er es findet»?
Das stimmt bei nahezu magisch schönen, kleinräumigen Orten wie Dubrovnik, die von vielen auswärtigen und einheimischen Besuchern aufgesucht werden. Beim 2500 Kilometer langen Great Barrier Reef in Australien aber können auch Horden von Touristen höchstens einen kleinen Teil davon zerstören. Insbesondere, wenn ich deren Zugang zum Riff steure. Dass die Korallen vor der australischen Küste ausbleichten, liegt nicht primär an den Touristen.
Trotzdem: Die Massen von Touristen sind vielerorts zur Plage geworden.
Richtig, wenn auch zeitlich oft beschränkt.
Wie kommt es, dass Barcelona oder Venedig von Touristenmassen überrollt werden?
Fünf Faktoren fördern den Overtourism. Erstens: Generell eine global wachsende Nachfrage, nicht zuletzt getrieben durch das rasante Wachsen der Mittelklassen in bevölkerungsreichen Ländern wie Indien oder auch China. Zweitens: Hafenstädte mit Anlegern für Kreuzfahrtschiffe. Landet eins, spuckt es 3000 oder gar mehr Touristen aus, also die Menge, die in 15 bis 20 grösseren Hotels übernachten würde. Nur bleiben die Kreuzfahrttouristen nicht über Nacht und bringen nur eine beschränkte Wertschöpfung. Drittens: billige Flugverbindungen, sie führen zu einer überdurchschnittlich hohen Nachfrage. Viele Low-Cost-Airlines haben komplett neue Reisemärkte entwickelt. Viertens: hohe Kapazitäten beim Übernachtungsangebot. Denken Sie an die vielen Wohnungen, die über Airbnb vermietet werden und Einheimischen günstigen Wohnraum nehmen. Auch sie ziehen zusätzlich Nachfrage. Der fünfte Faktor ist eine Kombination aus Nummer drei und vier: Günstige Flüge und ein grosses Übernachtungsangebot lassen die Menschen häufiger Kurz- und Mittelstrecken fliegen.
Orte mit Overtourism reagieren mit Gegenmassnahmen. Wie bewerten Sie etwa diese: Dubrovnik hat ein Rollkofferverbot erlassen. Wer in den Cinque Terre in Flipflops oder Sandalen wandert, bezahlt Bussen bis zu 500 Euro. Im Zentrum Venedigs darf man an gewissen Orten keine Snacks mehr im Freien essen. Und im italienischen Eracle ist das Bauen von Sandburgen verboten.
Alles mässig. Weil damit Symptome bekämpft werden. Das Mengenproblem bleibt.
Worin bestände eine gute Lösung?
Ich könnte mir für überfüllte Altstädte Zutrittsbeschränkungen mit Reservationsmöglichkeiten und allenfalls Eintrittsgelder vorstellen. Diese würden dann fiskalisch neutral wieder an die lokale Bevölkerung zurückgegeben. Das hat den Vorteil, dass diejenigen, die von der Infrastruktur profitieren, sich auch an den Kosten dazu beteiligen müssen. Denn die meisten Tagestouristen kommen und übernutzen öffentlichen Raum, ohne dass die lokale Bevölkerung etwas davon hätte.
Wer setzt das bereits vorbildlich um?
Die Nationalparks in den USA etwa. Oder die Spanier in der andalusischen Stadtburg Alhambra, einer der meistbesuchten Touristenattraktionen Europas überhaupt. Beide haben einen ähnlichen Umgang mit den Touristenfluten gefunden: Sie begrenzen die Zahl der Eintritte und verkaufen Tickets mit vorbestimmten Eintrittszeiten übers Internet. Dadurch verlagern sie die Warteschlangen in den virtuellen Raum.
Der Schriftsteller Stendhal klagte 1817, Florenz sei «ein Museum voller Ausländer». Gibt es Klagen über Massentouristen, seit es Reisende gibt?
Möglicherweise. Jedenfalls ist das Phänomen nicht erst in den vergangenen Jahren aufgekommen.
Warum sind Touristinnen und Touristen weltweit als solche erkennbar und oft so stillos angezogen?
Ich bin gar nicht sicher, ob sie überall erkennbar sind. Und über den Stil von Kleidung lässt sich streiten. Klar, starke Massierungen von auswärtigen Besuchern fallen neben der lokalen Bevölkerung auf. Aber 30 bis 40 Prozent der Touristen weltweit besuchen im Ausland auch ihre Bekannten oder Freunde. Und diese Gäste kleiden sich wahrscheinlich nicht wie typische Touristen, sondern gleichen sich bestenfalls dem Auftritt ihrer Gastgeber an.
Entwertet die Globalisierung das Abenteuer vor der Haustür?
Möglicherweise wertet sie das Erlebnis vor der Haustür sogar auf. Wer heutzutage durch eine Stadt in der Schweiz läuft, kann beim ersten Hinsehen dasselbe kaufen wie in Berlin, Boston oder Bangkok. Das fördert bei den Einheimischen den Wunsch nach Abgrenzung. Und stärkt wiederum die Pflege des differenzierenden Kleinen, Lokalen, Authentischen, das auch von den auswärtigen Gästen geschätzt wird.
«50 Orte, an denen man gewesen sein muss, bevor man stirbt»: Was ist von solchen Bestenlisten zu halten?
Sie sind gute Unterhaltung. Man muss aber, je nach Typ Liste, schon eher anspruchslos sein, wenn man fürs Gestalten der eigenen freien Zeit auf solche Zusammenstellungen zurückgreifen muss. Ausnahmen stellen Listen dar, die neue Destinationen, Aktivitäten oder alte Destinationen mit neuen Anreizen aufs Tapet bringen.
Welche Flitterwochendestination wird Ihrer Ansicht nach überschätzt?
Venedig, weil die Besucherdichte die Qualität eines Aufenthalts einschränkt. Allerdings hat die Stadt nun Massnahmen ergriffen, um des Overtourism Herr zu werden.
Auschwitz, Tschernobyl, das 9/11-Memorial in New York und andere Schauplätze des Schreckens: hingehen oder fernbleiben?
Auf dem Weg zum puren Sensationalismus gibt es etliche Grauzonen. Darin verorte ich die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die ich als unerlässlich betrachte. Daher: Ja, hingehen, aber bitte mit dem gebührenden Respekt.
Wie weit geht das gefühlte Recht auf Mobilität?
Bis zum Schaden von anderen oder der Umwelt.
Was bedeutet das konkret hinsichtlich des CO2-Ausstosses einer Flugreise?
Zunächst: Flugverkehr generiert – je nach Sichtweise – zwischen 2 und 5 Prozent des globalen CO2-Ausstosses. Jede Tonne Kohlenstoffdioxid kann gemäss einer Konsensberechnung des Deutschen Umweltbundesamtes zusammen mit verschiedenen Forschungsinstitutionen mit gut 200 Euro bemessen werden. Dieser Wert ist eher konservativ, da er die Wohlfahrt der heutigen Bevölkerung gegenüber zukünftigen Generationen deutlich höher gewichtet. Ein Beispiel: Ein Flug von der Schweiz nach Thailand verursacht im Rahmen des Hin- und Rückfluges einen Ausstoss von zirka 3 Tonnen CO2 pro Passagier, was einem Wert von 600 Euro entspricht. Diesen «Wert» zahlt die Allgemeinheit – nicht die Passagiere zahlen ihn.
Was erfordert es, um dies zu ändern?
Der naheliegendste Weg wäre, politisch einen Standardpreis für eine CO2-Abgabe zu verhandeln und diese fiskalisch neutral auszugestalten. Sprich: Alle Einnahmen abzüglich der Erhebungskosten würden an die Bevölkerung verteilt. Wenn dann jemand mit dem Privatjet fliegen will, soll er das tun, dann muss er aber auch eine höhere CO2-Abgabe entrichten.
Muss man sich schämen, wenn man fliegt?
Nein. Aber man sollte sich bewusst sein, dass man einen negativen Beitrag zur CO2-Belastung unserer Atmosphäre leistet.
Was sagen Sie unserer Enkelgeneration, wenn diese einmal die Frage stellt: Was haben Sie für einen nachhaltigeren Tourismus getan?
Ich würde erklären, dass wir eine Generation sind, die energetisch effizienter geworden ist. Und dass wir teure Infrastrukturen geschaffen haben wie beispielsweise unsere beiden Alpentunnels, die den öffentlichen Verkehr attraktiver machen. Und dass unsere Gewässer wieder sauber sind.
Erst wenn grundlegende Bedürfnisse wie gut essen und schlafen abgedeckt sind, geht es um Anerkennung und Selbstverwirklichung.
Was sind die drei grossen Reisetrends der Zukunft?
Erstens: Bleisure, also Ferien machen, wo man vorübergehend auch arbeitet. Zweitens: die sogenannten Third-Places. Also Orte, an denen wir weder wohnen noch arbeiten, sondern Bekannte und Freunde treffen. Je vernetzter wir als Gesellschaft sind, desto häufiger reisen wir auch zu Besuchen an ferne Orte. Dort werden wir allenfalls auch arbeiten und eine Zeitlang leben. Immer am gleichen Ort leben und arbeiten ist definitiv Vergangenheit. Drittens: Upgrading beim Fliegen. Wer es sich leisten kann, investiert in bequemeres Fliegen mindestens irgendwo zwischen der heutigen Business- und Economyklasse. Ein Businessclass-Flug über den Atlantik kostet heute real etwa so viel wie ein Economyclass-Flug Anfang der achtziger Jahre.
Welche Technologien oder Digitalisierungen machen Reisen zukünftig attraktiver?
Alle digitalen oder technischen Innovationen, die während des Reisens unbequeme Prozesse ersetzen oder einen klaren Mehrwert kreieren: etwa der Check-in am Flughafen oder das Einchecken beim Hotel, wo sich vieles schnell mit zwei Mausklicks erledigen lässt.
Verkürzen zukünftig Flugtaxis den Weg vom Flughafen zur Innenstadt?
Abwarten.
Werden die Leute, wie es oft heisst, tatsächlich häufiger an einem fremden Ort Freiwilligenarbeit leisten, also «transformativ reisen»?
Kaum. Denn bis jemand transformativ reist, muss er viele andere Reisebedürfnisse gestillt haben. Die Reiseart entwickelt sich nicht unähnlich zur Bedürfnispyramide von Maslow: Erst wenn grundlegende Bedürfnisse wie gut essen und schlafen abgedeckt sind, geht es um Anerkennung und Selbstverwirklichung.
Ist der SPA-Boom zu Ende?
Nein, medizinische und Wellness-Angebote werden durch die Überalterung und das zunehmende Gesundheitsbewusstsein unserer Gesellschaft weiter steigen.
Wanderlust und Heimweh sind idealerweise im Gleichgewicht.
Die Babyboomer reisen durchschnittlich an 27 Tagen pro Jahr, die Millennials 35. Wird diese Generation das Reisen neu erfinden?
Sie zielen mit Ihrer Frage wahrscheinlich auf das Verhalten der digitalen Nomaden und auf «Workation», also Arbeiten an einem Ferienort. Stimmt alles, gibt’s alles. Aber die Millennials, wie wir sie kennen, sind ein Phänomen nördlich der Alpen. Fragen Sie die Millennials in Spanien oder Italien nach ihren Reiseformen. Sie werden Erstaunen oder Unverständnis begegnen. Überspitzt gesagt: Ein wesentlicher Teil dieser Kohorte im Süden ist arbeitslos oder im finanziellen Prekariat, lebt zu Hause und hat keine Hipster-Sorgen. Deshalb meine Antwort: Nein, wir werden auch in 10, 20 Jahren ähnlich reisen wie heute.
Worin liegt eigentlich die Kunst des guten Reisens?
In der Immersion. Also darin, dass ich mich in eine Umgebung, die ganz anders ist als meine gewohnte, so einbette, dass ich mich als Teil des Ortes empfinde.
Was hilft gegen Heimweh?
Wieder nach Hause zurückkehren. Nicht sofort. Aber nachdem man etwas für sich entdeckt hat. Wanderlust und Heimweh sind idealerweise im Gleichgewicht. Deshalb machen Weltreisende mitunter Unterbrüche, in denen sie vielleicht arbeiten, bis sie das Reissen und das Geld für die Weiterreise haben.