Die steigende Zahl von Patienten mit Demenz fordert das Gesundheitssystem. Die letzte Episode unserer Serie zeigt, was diesen Menschen hilft, und gibt einen Einblick in die aktuelle Pflegeforschung.
Nora Müller ist eine gepflegte, quirlige Appenzellerin in ihren Fünfzigern. Früher war sie Kindergärtnerin. Und gesungen hat sie. Heute ist Nora, die in Wirklichkeit anders heisst, dement. Sie wird von einer Verwandten in die ambulante Musiktherapie am Waidspital in Zürich gebracht. Dort hört sie mit anderen Patienten Musik, singt und trommelt.
Doch Nora kann kaum ruhig sitzen. Alle zwei Minuten steht sie auf und geht zur Tür. Sie muss zur Toilette – oder dringend nach Hause. Innere Unruhe nennt es die Therapeutin Antoinette Niggli und hofft, dass sich Nora mit der Zeit mehr auf das Musizieren einlassen kann. Es ist herausfordernd, mit dementen Patienten umzugehen.
In Zukunft wird es immer mehr ältere Menschen mit Demenz geben. Pflegewissenschafterinnen versuchen daher herauszufinden, wo die Pflege noch verbessert werden kann.
«Die Welt durch die Augen der Patienten sehen»
Die Therapeutin Niggli geht auf Nora zu und gibt ihr zwei Holzstäbe in die Hand. Lächelnd beginnt Nora den Takt zum Lied zu schlagen, das Niggli angestimmt hat. Nur eine Minute später geht Nora zur Tür. «Du läufst nicht weg», sagt die Therapeutin. «Nein, natürlich nicht», sagt Nora – öffnet die Tür und geht hinaus. Die Therapeutin folgt ihr und deutet mit einer Armbewegung wieder Richtung Zimmer. So gelingt es ihr, Nora zurückzuholen. Wieder einmal.
«Auch im Pflegeheim wollen die Patienten immer nach Hause», sagt die Pflegeexpertin Sabine Hahn von der Berner Fachhochschule. Und die Pflegenden versuchen, auf diese Wünsche einzugehen. Auch wenn sie nicht umsetzbar sind. Auf vielen Pflegeabteilungen findet sich irgendwo ein Busfahrplan – obwohl die Türen der geschlossenen Abteilungen verriegelt sind.
Wenn eine Patientin die Tasche gepackt hat und nach Hause möchte, macht sich jemand mit ihr auf den Weg zum Fahrplan und fragt beiläufig, ob man vorher noch einen Kaffee zusammen trinken wolle. So vergisst die Patientin für kurze Zeit ihre Reisepläne. Ob das in jedem Fall gelingt, ist schwer vorherzusagen.
«Pflegende versuchen heute, die Welt durch die Augen der Patienten zu sehen», erklärt die promovierte Pflegewissenschafterin Hahn. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass es so gelingt, viele Konflikte zu vermeiden. Längst veraltet sei ein standardisiertes Vorgehen, bei dem die Patienten im Pflegeheim etwa jeden Tag zur selben Zeit geduscht würden. Man versuche heute, die Patienten individuell durch den Tag zu begleiten.
Das Leben im Pflegeheim ist zu eintönig
Die grösste Herausforderung im Umgang mit den Patienten bleibt es, sie zu beschäftigen. Das bestätigen Befragungen von Patienten, Angehörigen und von Pflegepersonen.
Vor der Musiktherapie bei Antoinette Niggli bestätigt auch der Ehemann einer der Patientinnen, das Leben im Pflegeheim sei viel zu eintönig. Deswegen holt er seine Cornelia, die in Wirklichkeit anders heisst, einmal pro Woche im Pflegeheim ab und bringt sie ins Waidspital.
Dort sitzt Cornelia die meiste Zeit reglos auf ihrem Stuhl, sprechen kann sie nicht mehr. Wenn die Gruppe singt, blickt sie suchend umher und starrt dann wieder ins Leere. Doch wenn die Therapeutin rhythmisch die Hand von Cornelia bewegt, dann beginnt diese zu strahlen. Für einige Sekunden bewegt sie zwei Finger leicht im Takt. Es ist ein kurzer Moment, in dem sich Niggli ganz der Patientin zuwendet. Wie häufig solche Momente im Alltag der Frau vorkommen, wissen wir nicht.
Eine simulierte Zugfahrt taugt nicht als Unterhaltung
Um die Patienten in Pflegeheimen zu beschäftigen, haben Forscher der Berner Fachhochschule früher aussergewöhnliche Ideen erprobt; beispielsweise eine Videoinstallation, die eine Zugfahrt von Bern nach Interlaken simulierte. Der Aufenthaltsraum eines Pflegeheims war dafür extra im Stil eines Zugabteils der 1980er Jahre gestaltet worden.
Die simulierte Zugfahrt sollte den unruhigen Patienten – die am liebsten immer unterwegs wären – die Zeit vertreiben und die Pflegenden entlasten. Nora, die in der Musiktherapie immer wieder das Zimmer verlassen wollte, hätte sich dafür vielleicht begeistern lassen.
Doch der Erfolg der simulierten Zugfahrt war mässig. Nur wenige Patienten liessen sich darauf ein. Und wer die Zugreise unternahm, wollte von einer Pflegeperson «begleitet» werden. Die Pflegenden konnten damit also kaum Zeit einsparen. Andere Patienten verzichteten lieber, weil sie vielleicht schon früher nie gerne Zug gefahren waren.
Kaum eine Beschäftigung taugt für alle Patienten gleichermassen, das zeigt das gescheiterte Projekt eindrücklich. Jeder Patient hat andere Bedürfnisse. Im Idealfall kann man an die Erlebnisse und Aktivitäten aus dem früheren Leben der Patienten anknüpfen.
Der Musiktherapeutin Niggli gelingt dies hervorragend. Eine Patientin hat früher in Paris gelebt. Für sie stimmt Niggli hintereinander zwei französische Chansons an. Einer anderen Patientin gefallen Lieder, die sie an die Pfadi erinnern. Die Dritte mag Opern. In einer Stunde Musiktherapie ist für jede Patientin etwas dabei, das ihr besonders gefällt.
Aus dem Spital kommen die Patienten verwirrt zurück
Betreuung von Menschen mit Demenz braucht viel Geduld, Mitgefühl und Zeit. Da sind sich die Pflegewissenschafter einig. Die Forscher der Universität Bern versuchen zu beziffern, wie viel Pflegezeit Menschen mit Demenz genau brauchen.
Andere Forschungsprojekte widmen sich der Frage, ob auch ausserhalb der Pflege Anpassungen notwendig sind, wenn immer mehr Menschen an Demenz erkranken. «In Zukunft muss das ganze Gesundheitssystem ‹altersfreundlicher› werden», sagt die Pflegewissenschafterin Hahn dazu.
Im Fokus eines aktuellen Forschungsprojekts stehen Spitäler. Auch Menschen mit einer Demenz verunfallen oder werden krank und müssen in einem regulären Spital behandelt werden. Dort aber ist das Personal schnell überfordert, wenn ein Patient zusätzlich an Demenz leidet. Pflegeheime berichten, dass die Patienten aus den Spitälern verunsichert zurückkommen.
Tatsächlich ist für Menschen mit einer Demenz ein Spital eine verwirrende Umgebung. Jede Tür sieht gleich aus, und die Pflegefachpersonen tragen alle weisse Kittel. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Berner Fachhochschule wurden einige Patientenzimmer im Lindenhofspital Bern «demenzfreundlicher» gestaltet: Die Wände wurden farbig gestrichen. Die Pflegenden trugen klar erkennbare Merkmale wie zum Beispiel eine Brosche auf dem weissen Kittel. Ein Whiteboard wurde in jedem Zimmer montiert. Darauf standen Informationen, wie die Uhrzeit fürs Mittagessen.
Dieses Projekt sei ein Erfolg gewesen, erzählt die Pflegewissenschafterin Hahn. Die Patienten waren weniger gestresst, und auch die Pflegenden fühlten sich entlastet, weil die Patienten nicht immer wieder im falschen Zimmer auftauchten oder dasselbe fragten. «In Zukunft müssen Spitäler der alternden Bevölkerung Rechnung tragen und sich auf deren Bedürfnisse einstellen», sagt Hahn.
Es zählt nur noch der Moment
In der Musiktherapie stehen die Patientinnen und ihre Wünsche ganz im Zentrum. Was sie am Schluss aus den Stunden bei Niggli mitnehmen, bleibt schwer zu fassen. «Die Patientinnen lächeln, wenn sie mich sehen», sagt Niggli. Ob sie von ihnen erkannt wird, weiss sie nicht.
«Ich bin hier, weil ich von dieser Musikveranstaltung in der Zeitung gelesen habe», sagt eine Patientin. «Der Arzt hat dich zu uns geschickt», korrigiert Niggli freundlich. Zustimmend, fast begeistert nickt die Frau. «Ja, aber von dem habe ich mich ja getrennt. Der war nicht gut.» Alle lachen.