Geldpolitik und Liquidität sind nicht mehr die wichtigsten Faktoren für die Börse. Sie wurden von US-Präsident Joe Biden ausgehebelt, der durch die extremste Neuverschuldung seit den 1930er-Jahren einen Konjunktureinbruch verhindert hat. Die Frage ist, was die Politik nun noch tun kann.
Trotz der schärfsten monetären Bremsung aller Zeiten (was Schnelligkeit und Ausmass an Zinssteigerungen betrifft) ist die Konjunktur in den USA noch immer nicht eingebrochen, wie es sonst in vielen – vergleichsweise moderaten – Erhöhungszyklen der Fall war. Der zur Zeit offensichtlich fehlende monetäre Einfluss auf Wallstreet und das stabile Wachstum der US-Konjunktur, wenn auch auf niedrigem Niveau, erklären sich aus der Tatsache, dass die USA auf eine Neuverschuldung von mehr als 7% des Bruttoinlandprodukts zusteuern. Das sind Sätze, die sonst nur in Kriegen erreicht wurden und selbst an Roosevelts «New Deal»-Neuverschuldung in den 1930er-Jahren zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise heranreichen.
Biden mit höchstem Staatsdefizit seit der Weltwirtschaftskrise
Die Kriegsdefizite lösten anders als jetzt jeweils einen erheblichen Wirtschaftsboom mit rekordtiefen Arbeitslosenzahlen aus. Diesmal dürfte der Hauptgrund, dass sich die US-Wirtschaft und die US-Börse nicht in einer tiefen Krise befinden, wiederum darin liegen, dass die Biden-Regierung – noch mehr als Trump – mit den extremsten Staatsneuverschuldungen in Nicht-Rezessionszeiten die Konjunktur gestützt hat. Der Anstieg des US-Aktienmarktes um mehr als 40% in zwölf Monaten ist nicht eine Folge von steigenden Gewinnen (nur 4% Anstieg in zwölf Monaten), sondern entspricht exakt der Summe aus Staatsneuverschuldung plus Ausdehnung der Notenbankbilanz.
Nun könnte man fragen, was eigentlich mit der US-Konjunktur und der US-Börse passiert, wenn die Staatsverschuldung nicht weiter ausgedehnt wird. Nicht ganz vernachlässigen sollte man auch Konjunkturrisiken im Zuge von kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Hauptgefahr dürfte aber eben genau darin liegen, dass die USA ihre Politik der rekordhohen Staatsneuverschuldung nicht fortsetzen können.
Notenbanken können sich bekanntlich unendlich neu verschulden, und wenn man wie die USA die Weltreservewährung besitzt, sollte eine weiter steigende Verschuldung vorerst nicht zu Gefahren wie einem Misstrauen in den Dollar oder zu stark steigenden Zinsen führen. Die US-Konjunktur und Wallstreet basieren auf einer Politik, die nicht kurzfristig, aber wahrscheinlich langfristig zu erheblichen Schwierigkeiten führen wird.
Da die Notenbankbilanz gegenwärtig zurückgefahren wird, ist eine umso stärkere Neuverschuldung nötig, um weiter als Motor für die US-Konjunktur und Wallstreet zu agieren. Eine solche Situation ist durchaus einmalig in der US-Wirtschaftsgeschichte. In der Vergangenheit waren die monetären Einflüsse (Zinsen und Liquidität) ohne jede Ausnahme der wichtigste Kursbestimmungsfaktor am US-Aktienmarkt. Dass es diesmal nicht der Fall war, liegt ausschliesslich am historisch einmaligen Anstieg der US-Neuverschuldung.
Schuldenanstieg in Frankreich und Italien stützt Euro-Konjunktur
Europa hat sich wegen Deutschland insgesamt weit weniger verschuldet als die USA. Allerdings bilden Italien und besonders Frankreich, wo die Neuverschuldung ebenfalls auf 7% des Bruttoinlandprodukts zusteuert, Ausnahmen. Entsprechend positiv war die Konjunktur in Frankreich mit +0,4% gegen +0,2% in Deutschland im dritten Quartal.
Ähnliches gilt für Italien, wo die Staatsneuverschuldung nicht ganz so stark aus dem Ruder läuft, dafür aber die EU-Subventionen und -Geschenke die Konjunktur ankurbeln.
Emmanuel Macron hat den Arbeitsmarkt stimuliert
In Europa wäre ähnlich wie in den USA das Wirtschaftswachstum wesentlich schwächer gewesen, wäre die Verschuldung in Frankreich und Italien nicht in einem bisher ungekannten Ausmass gestiegen. Lediglich Deutschland hat zuletzt bei der Neuverschuldung gebremst, was allerdings nicht der einzige Grund für das schlechte Wirtschaftswachstum ist, sondern auch ganz wesentlich die grüne Energiepolitik.
Frankreich versucht durch Steuererhöhungen das Staatsdefizit zu senken. So gibt es Pläne, die 440 rentabelsten Unternehmen mit einem Jahresumsatz von mehr als 1 Mrd. € im nächsten Jahr mit zusätzlichen 8 Mrd. € zu belasten, plus 4 Mrd. € im Jahr 2026. Ebenfalls angedacht ist eine einmalige Sondersteuer auf Seefrachtunternehmen in Höhe von zusammen 0,8 Mrd. €. Rund 65’000 wohlhabende Haushalte sollen höhere Steuern in Höhe von 2 Mrd. € im kommenden Jahr aufbringen.
Man kann gespannt sein, wie sich solche Massnahmen angesichts der fehlenden Mehrheit der Regierung im Parlament durchsetzen lassen und wie sie sich auf die Konjunktur auswirken. Eigentlich sind zur Vermeidung einer Rezession wie in den USA steigende und nicht sinkende Staatsdefizite notwendig. Wenn Frankreich schon bei 7% Neuverschuldung kaum ein Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr hätte, fragt man sich, wie sich das zweitwichtigste EU-Land 2025 bei fiskalpolitischer Bremsung entwickelt. Aus dem Blickwinkel von Konjunktur und Entwicklung der Gewinne ist das kaum ein Hausse-Faktor für französische und europäische Aktien.
Goldman Sachs warnt vor Gewinneinbruch in Europa
Goldman Sachs hat jetzt die Schätzung für den Anstieg der europäischen Unternehmensgewinne im Jahr 2024 (bezogen auf den Stoxx-600-Index) von 6 auf 2% zurückgenommen. Für das nächste Jahr erwartet die US-Bank 3% Gewinnanstieg. Der Durchschnitt der Analysten liegt allerdings bei 10%. Goldman Sachs geht davon aus, dass bei einem Wahlsieg von Donald Trump und der Einsetzung der erwarteten Zölle im nächsten Jahr sogar ein Rückgang der europäischen Unternehmensgewinne um 6% realistisch ist. Hier könnten also einige unangenehme Börsenüberraschungen möglich sein.
Jedenfalls sieht man in Europa keine nennenswerte Tendenz zur Konjunkturverbesserung, wenn man einmal von einem ersten kleinen Anstieg beim Ifo-Indikator absieht. Angesichts drohender steigender Arbeitslosigkeit in Europa und der angeschlagenen Automobilbranche mit 14 Mio. Beschäftigten sowie teilweise katastrophal schlechter Gewinnentwicklung ist es verständlich, dass sich die Europäische Zentralbank überlegt, ob sie nicht das Zinssenkungstempo von 0,25 auf 0,5 Prozentpunkte erhöhen soll. Nachdem die EZB den Fehler gemacht hatte, zu spät die Zinsen zu erhöhen und dann auf ein Niveau, das zu hoch und zu restriktiv war, macht man jetzt wahrscheinlich den anderen Fehler und senkt auf ein zu tiefes Niveau. Jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass in Europa die Zinsen weiterhin schneller gesenkt werden als in den USA, was keineswegs sicher positive Folgen für die Konjunktur haben muss, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit den Euro gegenüber dem Dollar schwächen wird.
SAP steht für 8 Prozentpunkte des Dax-Jahresanstiegs von 11%
Es ist erstaunlich, dass sich die deutsche Börse (anders als die französische) in diesem Jahr mit 11% (Kurs-Dax) positiv entwickelt hat. Ähnlich wie lange in den USA ist dies aber nicht durch eine Aktienhausse auf breiter Front ausgelöst worden, sondern durch den Anstieg weniger im Index hoch gewichteter Aktien.
SAP ist heute in Deutschland mit 15% im Dax am höchsten gewichtet. Nachdem die Aktien in diesem Jahr um 60% gestiegen sind, macht der SAP-Anstieg allein schon 8 Prozentpunkte des Dax-Anstiegs aus. Eine gesunde und durch auf breiter Basis steigende Gewinne untermauerte Hausse sieht anders aus.
Goldman sieht real nur 1% US-Aktienindexgewinn pro Jahr bis 2034
In den USA haben bis Juli die «Magnificent 7»-Aktien die Indexentwicklung weitestgehend bestimmt. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass in den letzten zwölf Monaten die S&P 493-Aktien (also ohne die Magnificent 7) in Summe keinerlei Gewinnanstieg aufwiesen, sondern nur die sieben Wachstumsaktien, diese aber eines von 18%. Von den sieben Titeln haben nur drei (Nvidia, Apple, Meta) zuletzt ein neues Allzeithoch erreicht. Der breite Markt schnitt also erstmals besser ab als die sieben grossen Wachstumsaktien – von denen die grössten drei schon mehr Wert sind als der gesamte chinesische Aktienmarkt und ein Titel mit gut 3000 Mrd. $ so gross ist wie der gesamte deutsche Aktienmarkt.
Das zuletzt bessere Abschneiden des breiten US-Marktes spiegelt die Hoffnung, dass die Gewinne auch für die Nicht-Wachstumsaktien erstmals zu steigen beginnen, während die Gewinnsteigerungsraten für die Wachstumsunternehmen zurückgenommen werden und sich in den nächsten zwei Jahren dann an den allgemeinen Gewinntrend angleichen sollen. Bezogen auf die Zehnjahres-Durchschnittsgewinne war die Bewertung allerdings nur zweimal (1929 und 2000) in etwa so hoch wie heute. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis steht so hoch wie im Herbst 2021 vor der Baisse von 2022.
Goldman Sachs erwartet in den nächsten zehn Jahren pro Jahr durchschnittlich nur ein Prozent realen Kursanstieg im S&P-500-Index. Neben der hohen Bewertung wird dies festgemacht an der hohen Aktienmarktkonzentration, der makroökonomischen Entwicklung, der Unternehmensprofitabilität (Gewinnmargen in den USA heute auf historischem Höchststand) und der Zinsentwicklung. Die US-Bank geht aber davon aus, dass sich der breite Markt (primär Mid-Caps) und selektiv substanzstarke Aktien («Value») besser als der Index entwickeln werden.
Grenzen der Konjunkturprogramme sind unausweichlich
Der Börsenaufschwung im Westen ausgelöst durch die Rekordverschuldung hat eine allgemeine Wohlstandserhöhung mit sich gebracht. In den USA besitzen mehr als 60% der Bevölkerung Aktien, entsprechend ist die Aktienhausse ein wichtiger Konjunkturfaktor. Sollte es aber einmal zu einer allgemeinen Aktienbaisse kommen, dann wird sich das über den Reichtumseffekt auf das Konsumverhalten auswirken. Damit würde der wichtigste Teil der Konjunktur negativ betroffen sein. Entsprechendes galt zwar auch für frühere Konjunkturzyklen, diesmal aber hat der extreme Anstieg der Börsenkapitalisierung auf neue Hochs das Risiko mit sich gebracht, dass der jetzt positive Reichtumseffekt bei einer Börsenbaisse zu einer erheblichen Konjunkturbelastung werden würde.
Entsprechend werden sich die Politiker – besonders in den USA – mit allen Mitteln gegen einen Börseneinbruch mit entsprechend negativer Konjunkturfolge wehren. Man fragt sich allerdings, was noch getan werden kann, um die Konjunktur zu stützen. Im gegenwärtigen Zyklus begann man, die Konjunktur künstlich durch die niedrigsten Zinsen aller Zeiten zu stimulieren. Als dies wegen steigender Inflation nicht mehr möglich war, griff man zum Mittel der grössten Neuverschuldung in Friedenszeiten. Auch hier könnten Grenzen erreicht werden, die weitere Schuldenerhöhungen vor dem Hintergrund möglicher Destabilisierung der Bondmärkte nicht ratsam erscheinen lassen.
Dieser Artikel ist ein Auszug aus der «Finanzwoche», dem seit 1974 erscheinenden Investmentbulletin von Jens Ehrhardt.
Jens Ehrhardt
Jens Ehrhardt ist Gründer, Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender von DJE Kapital. Nach fünfjähriger Partnerschaft in der seinerzeit grössten deutschen Wertpapier-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft promovierte er 1974 über «Kursbestimmungsfaktoren am Aktienmarkt». Im selben Jahr legte er den Grundstein für den Aufbau seiner Firmengruppe, die er von Beginn an leitet. Ehrhardt verantwortet neben seiner Rolle als Vorstandsvorsitzender noch die Bereiche Risikomanagement und Unternehmens-/Anlagestrategie.